AUTHENTISCH FALSCH So sprechen die Deutschen wirklich
Im Sprachunterricht lernt man meistens Deutsch, wie es geschrieben wird. Beim Sprechen gibt es aber große Unterschiede: kürzere Wörter, andere Zeitformen – und auch spezielle grammatische Regeln. Von Guillaume Horst
Nach einem Fernsehabend mit ihrem Freund Sven schreibt Anna, eine junge Deutsche, in ihr Online-Tagebuch, wie der Abend verlaufen ist: „Wir setzten uns auf die Couch und schalteten den Fernseher ein. Es dauerte ein bisschen, bis wir einen Film fanden. Eigentlich wollte vor allem er ihn sehen. Ich dagegen hatte weniger Lust, weil ich nicht so ein Fan von Actionfilmen bin. Aber ich dachte mir, dass es schon in Ordnung sein würde. Ich habe also eine Schüssel Popcorn gemacht, mich an Sven gekuschelt und mir den Film angesehen. Plötzlich dachte ich: ‚Das gibt es nicht! Das ist doch dieser Schauspieler, der auch in diesem Film über Schokolade spielt!’ In diesem Moment bekam ich richtig Lust auf Schokolade und fragte Sven, ob ich eine Tafel haben könnte. Er antwortete nur, dass ich sie mir selbst aus dem Kühlschrank holen soll. Wer meinen Blog regelmäßig liest, dem brauche ich nicht zu sagen, dass ich so etwas doof finde. So stellte ich also fest, dass Sven und ich doch nicht so gut zusammenpassen.“
Später spricht Anna per Videoanruf mit ihrer Freundin Paula. „Und, wie war dein Date?“, fragt Paula sofort. Also erzählt Anna ihr die Geschichte, die sie auf ihrem Blog publiziert hat.
„Wir haben uns auf die Couch gesetzt und den Fernseher eingeschaltet. Es hat ein bisschen gedauert, bis wir ’nen Film gefunden haben. Also vor allem er wollt’ ihn schau’n. Ich hatte nicht so viel Lust, weil ich bin ja nicht so der Fan von Actionfilmen.Aber ich hab’ mir gedacht: ‚Wird schon okay sein.’ Ich mach’ also ’ne Schüssel Popcorn, kuschel’ mich an Sven und schau’ mir den Film an. Und plötzlich denk’ ich mir: ‚Das gib’s nich’! Das is’ doch dieser Schauspieler!’ Weißt doch, der, der auch in diesem Film über Schokolade spielt! Nee, weißt’ nich’, wen ich mein’? Ähm … egal – ich hab’ jedenfalls in dem Moment voll Lust auf Schokolade bekommen und Sven gefragt: ‚Kann ich ’ne Tafel Schoki?’ Und er so: ‚Hol sie dir doch einfach selbst aus dem Kühlschrank!’ Ich brauch’ dir nicht sagen, wie doof ich das fand, oder? Für mich war dann klar: Wir passen doch nicht so gut zusammen.“
Zwei verschiedene Deutschformen
Annas zwei Erzählungen haben fast den gleichen Inhalt. Die Sprache, die sie dabei benutzt, ist aber in beiden Situationen sehr verschieden. Denn es gibt oft große Unterschiede zwischen gesprochenem und geschriebenem Deutsch. „Die gesprochene Sprache vermittelt eine gewisse Nähe und ist spontan. Die geschriebene kann und muss man mehr planen“, erklärt Patrizia Noel, Professorin für Germanistik an der Universität Bamberg. Wenn man etwas schreibt, hat man also mehr Zeit zu überlegen, welche Wörter man benutzt. Bei der gesprochenen Sprache muss man dagegen schnell sein und auf den Gesprächspartner reagieren. Die Sätze sind deshalb oft kürzer, Wörter werden weggelassen oder verkürzt und auch die Grammatik ist anders – manchmal scheint sie sogar nicht mehr ganz richtig zu sein.
Die Wahl der Zeitform
Um etwas in der Vergangenheit zu erzählen, hat man im Deutschen meistens die Wahl zwischen dem Präteritum (oder Imperfekt) und dem Perfekt. Das Präteritum wird normalerweise beim Schreiben benutzt. So schreibt Anna: „Wir setzten uns auf die Couch und schalteten den Fernseher ein.“Als sie aber mit Paula spricht, benutzt sie das Perfekt: „Wir haben uns auf die Couch gesetzt und den Fernseher eingeschaltet.“Anna spricht außerdem auch im Präsens, um über die Vergangenheit zu sprechen: „Ich mach’ also ’ne Schüssel Popcorn, kuschel’ mich an Sven und schau’ mir den Film an.“Diese Form heißt historisches Präsens und wird gern beim Sprechen benutzt. Sie existiert aber auch in der Literatur: Dann soll sie dem Leser die Geschichte nahebringen.
Regionale Unterschiede
Das Präteritum wird speziell in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz beim Sprechen fast gar nicht mehr benutzt. Nur für ein paar Verben ist diese Zeitform noch normal (siehe Kasten auf
Seite 42). „Im süddeutschen Raum haben wir das Präteritum in der gesprochenen Sprache fast verloren“, bestätigt Noel. Aber im Norden des Landes werden beim Sprechen noch beide Formen verwendet. Anna ist wahrscheinlich Süddeutsche.
Nicht nur bei den Zeitformen gibt es Unterschiede. Standarddeutsch hat sich größtenteils an den süd- und mitteldeutschen Dialekten orientiert. Sprachwissenschaftler nennen diese die hochdeutschen Dialekte. Dadurch ist der Unterschied zwischen den norddeutschen Mundarten (Niederdeutsch) und dem Standarddeutsch heute sehr groß.
„Wer niederdeutschen Dialekt lernt, wächst fast zweisprachig auf. Die Schriftsprache ist im Norden eine ganz andere als die gesprochene Sprache im Dialekt“, erklärt Noel. Heute sprechen speziell junge Menschen im Norden aber auch kein Niederdeutsch mehr – und deshalb keinen wirklichen Dialekt. Speziell Hannover gilt aus speziellen historischen Gründen als das Zentrum des Standarddeutschen. Die Unterschiede zwischen gesprochenem Deutsch und Schriftdeutsch, die in diesem Artikel genannt werden, sind heute meistens im Süden größer als im Norden.
Kürzere und weggelassene Wörter
Eine der ersten Sachen, die man beim Deutschlernen üben muss, ist das Konjugieren von Verben. Jeder Lernende weiß bald: In der ersten Person Singular im Präsens endet das Verb auf -e. Es heißt also ich mache, ich kuschle und ich schaue. Anna ignoriert diese Regel aber. Sie sagt „ich mach’“, „ich kuschel’“und „ich schau’“. In der gesprochenen Sprache ist dieses
Weglassen von Buchstaben typisch. Ein -en am Ende wird als einfaches -n gesprochen („schaun“, „wollt’n“), ein -t wird ignoriert („Das gib’s doch nich’! Das is’ doch dieser Schauspieler!“).
Nicht nur einzelne Buchstaben, auch ganze Silben werden weggelassen. Bei unbestimmten Artikeln wie eine, einem oder einen wird die erste Silbe verschluckt: Man sagt nur ’ne,’nem oder ’nen.
Auch Pronomen werden gern kürzer gemacht, wenn sie nach einem Verb stehen. Statt gibt es oder war es sagt man gib(t)’s oder war’s. Die Frage Wie geht’s? lernen Deutschlernende schon in ihren ersten Kursen kennen. Wie geht es dir? wäre hier die komplette Form. Dieses Beispiel zeigt auch einen anderen Trend der gesprochenen Sprache: Personalpronomen einfach ganz wegzulassen.
Anna macht das in ihrem Gespräch mit Paula mehrmals. Sie sagt „wird schon okay sein“statt „es wird schon okay sein“und „weißt nicht, wen ich meine?“statt „weißt du nicht, wen ich meine?“. Auch wenn das grammatikalisch eigentlich nicht korrekt ist, sind viele solcher Formulierungen im gesprochenen Deutsch völlig normal: komm schon, kann sein oder auch geht doch.
Falsche Grammatik?
Anna benutzt beim Sprechen Satzstrukturen, die für jemanden, der nur Standarddeutsch gelernt hat, falsch klingen. So lernt jeder, dass nach Konjunktionen wie weil, obwohl oder während das Verb am Ende des Satzes steht. Aber Anna sagt „weil ich bin ja nicht so der Fan von Actionfilmen“. Sie stellt das Verb also auf Position 2. Für Germanistin Noel sind
solche Konstruktionen aber kein wirklicher Fehler – denn viele Deutsche benutzen sie. „Man kann davon ausgehen, dass Muttersprachler ihre Sprache perfekt können. Was wir hören, sind typische sprechsprachliche Strukturen oder typische regionale Strukturen. Jeder kann sich in jeder Sprache versprechen, dann ist es vielleicht ein Fehler. Aber die gesprochene Sprache hat ihre eigenen Regeln“, erklärt sie. Eine grammatische Struktur, die nicht dem Standarddeutschen entspricht, aber von vielen Muttersprachlern benutzt wird, sollte man also nicht korrigieren. Sie ist dann einfach Teil des gesprochenen Deutsch.
So benutzt Anna beim Schreiben die Formen „ob ich eine Tafel haben kann“und „ich brauche nicht zu sagen“. Sie sagt aber „Kann ich ’ne Tafel Schoki?“und „ich brauche nicht sagen“. Wer nur in sein Grammatikbuch sieht, wird meinen: Die zwei gesprochenen Sätze sind falsch. Denn wenn man das Verb brauchen mit einem Verb im Infinitiv verbinden möchte, dann muss man das Wörtchen zu benutzen. Und Modalverben wie können brauchen (fast) immer ein zweites Verb im Infinitiv. Diese Regeln befolgt Anna im geschriebenen Deutsch – aber sie und viele andere ignorieren sie beim Sprechen.
Dativ statt Genitiv
In vielen Situationen, in denen man den Genitiv benutzen kann, sprechen Deutsche lieber im Dativ – oft mithilfe der kleinen Präposition von. So schreibt Anna zwar „Am Ende des Abends“, sie sagt aber „Am Ende vom Abend“. Es gibt auch eine andere Variante, bei der der Dativ den Genitiv ersetzt. Für Grammatikfans ist sie sehr ärgerlich. Statt Ludwigs Tasche hört man manchmal die Formulierung dem Ludwig seine Tasche.
Trotzdem glaubt Noel nicht, dass der Genitiv wirklich in Gefahr ist. „Peters Haus, Ottos Buch – das verschwindet nicht. Nur Verben, die den Genitiv verlangen, werden seltener: sich einer Sache erinnern, jemanden einer Sache bezichtigen, das gibt es heute fast nicht mehr. Ansonsten geht die Benutzung des Genitivs nur sehr langsam zurück“, sagt die Professorin.
Im Gespräch interagieren
Ein wichtiger Unterschied zwischen Sprechen und Schreiben ist: Beim Sprechen haben wir einen Gesprächspartner. Dieser reagiert auf das, was wir sagen. Und wir reagieren auf seine Reaktionen. Das zeigt sich zum Beispiel bei der Benutzung von Modalpartikeln. Diese kleinen Wörter signalisieren dem Gesprächspartner, wie wichtig etwas ist, ob es neu ist, und ob er es schon weiß (siehe Deutsch perfekt 2/2019). Anna benutzt sie beim Sprechen mehrmals: „ich bin ja nicht so der Fan von Actionfilmen“. Das ja bedeutet hier: Anna denkt, dass Paula diese Information schon kennt. Ähnlich ist die Funktion von doch beim Satz „Weißt doch, der, der auch in diesem Film über Schokolade spielt!“. Hier ist Anna nicht ganz sicher, dass Paula das wirklich weiß.
Auch im nächsten Satz reagiert Anna auf Paula. Sie merkt nämlich, dass ihre Freundin nicht weiß, über wen sie spricht. Wahrscheinlich schüttelt Paula den Kopf oder hat einen fragenden Blick. Deshalb wird Anna kurz unsicher. Das zeigt das kleine Wort Ähm und die kurze Pause, die Anna braucht, bevor sie weitererzählt. Sie benutzt außerdem auch Sprechersignale wie das kurze Wort oder? am Ende des Satzes „Ich brauch dir doch nicht sagen, wie doof ich das fand, oder?“. Es ist hier ein rhetorisches Mittel, auf das Anna keine wirkliche Antwort erwartet.
Gesprochenes Deutsch lernen die meisten nicht im Kurs, sondern wenn sie sich mit Deutschen unterhalten und die Sprache immer wieder hören. „Wenn jemand lernen möchte, entspannt auf Deutsch zu quatschen, sollte er den Kontakt zu Muttersprachlern suchen“, empfiehlt Noel. Für manche Lernenden ist das aber nicht möglich. Dann können Lehrer, Hörübungen und deutsche Filme, Serien und Radiosendungen helfen.
Am Ende ist es aber auch kein Problem, wenn man mündlich nur Schriftdeutsch benutzt. So sagt Noel: „Wenn man eine Sprache lernt und es wirklich schafft, sich schriftsprachlich auszudrücken, dann ist das eine prima Leistung. Warum soll man zum Beispiel als Tourist noch mehr können? Das ist doch toll!“
Die deutschen Zeitformen
In vielen Sprachen gibt es verschiedene Zeitformen für die Vergangenheit. Oft haben diese auch verschiedene Bedeutungen. Im Deutschen sind die Regeln zur Benutzung des Präteritums und des Perfekts aber ziemlich einfach. Denn einen Bedeutungsunterschied gibt es zwischen beiden meistens nicht. Präteritum: Er zum Bäcker und ein Brot.
Perfekt: Er ein Brot
Diese zwei Sätze bedeuten das Gleiche. Im gesprochenen Deutsch wird aber meistens das Perfekt verwendet. Vor allem wenn man über alltägliche Dinge spricht, benutzt fast jeder Deutsche diese Zeitform. Bei persönlichen Inhalten ist sie auch in geschriebenen Texten typisch – zum Beispiel bei einer Messenger-Nachricht oder einer Postkarte. Was du gestern Abend
Ich Nudeln und zu Abend
Dann ich ein bisschen und ins Bett
ist gekauft. hast habe gegessen.
ging
zum Bäcker
gegangen
gemacht? gekocht habe bin
gegangen.
kaufte
und
hat
ferngesehen
Die gleiche Unterhaltung im Präteritum würde zu formell und für die Ohren der meisten Deutschen ziemlich fremd klingen. Besonders bei Fragen verwenden Deutsche fast immer das Perfekt.
Das Präteritum benutzt man im Deutschen hauptsächlich beim Schreiben. In Büchern, juristischen Berichten oder in journalistischen Texten findet man viele Formulierungen in dieser Zeitform. Trotzdem wird aber in der gesprochenen Sprache auch das Präteritum verwendet: zum Beispiel für gewöhnlich bei den Verben sein und haben.
Ich gestern in der Arbeit.
Ich viel zu tun.
Auch bei Modalverben ist das Perfekt selten. Bei diesen benutzt man beim Sprechen lieber das Präteritum:
Sie am Wochenende arbeiten und
keinen Sport machen.
Es gibt auch ein paar Verben, die bei bestimmten fixen Formulierungen öfter mit Präteritum als mit Perfekt benutzt werden:
war hatte
musste konnte
gab
Es keine Milch mehr.
Aber: Ich ihm eine Flasche Milch
gegeben.
fand lief,
habe
Ich den Film, der gestern im Fernsehen
wirklich sehr gut.
Aber: Ich meinen Schlüssel und nach Hause
Außerdem ist es in Norddeutschland üblich, zwischen Präteritum und Perfekt zu wechseln, wenn man über Vergangenes spricht. Nur in einer Situation ist das Perfekt obligatorisch: Wenn man über etwas spricht, das gerade passiert ist und noch einen Einfluss auf die Gegenwart hat.
Ich habe keinen Hunger, weil ich vor zehn Minuten
Das alles heißt also: Wenn Sie einen Satz formen und sich dafür entscheiden, das Präteritum zu benutzen, brauchen Sie keine Angst zu haben. Normalerweise wird dieser Satz nämlich richtig sein, und Ihr Gegenüber weiß: Das alles ist in der Vergangenheit passiert. Es ist aber möglich, dass der Satz ein bisschen komisch klingt.
bin
habe
gelaufen.
gegessen habe.
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