Deutsch Perfekt

WIE GEHT ES EIGENTLICH DER … Kartoffel?

Die Kartoffel ist als typischer Teil der deutschen Küche so bekannt, dass Deutsche im Ausland oft sogar „Kartoffeln“genannt werden. Aber ist sie überhaupt noch ein typischer Teil der deutschen Küche? Von Jan Stremmel

- SCHWER PLUS

Hipper kann man die braune Knolle kaum inszeniere­n. Eine Showküche im Norden Münchens, Kameramänn­er in teuren Sneakern, helles Studiolich­t. Vorne halten ein Moderator und eine Moderatori­n, bekannt aus dem Privatfern­sehen, jeder eine Kartoffel in der Hand und unterhalte­n sich. Sie: „Du bist ja auch von deiner Herkunft her ’ne richtige Kartoffel, oder?“Er: „Absolut. Und du eher so ’ne Süßkartoff­el.“Die Kameraleut­e versuchen, nicht laut zu lachen.

Am Fenster sitzt Johann Graf und nickt. Hinter ihm liegen die Hausdächer der Vorstadt, dahinter die Äcker tief im Nebel. Graf weiß: wunderbar leichte Böden. Die Gegend ist ideal für Frühkartof­feln, die Ende Februar gepflanzt werden. Im Juni werden sie geerntet – und dann hoffentlic­h endlich wieder in großen Mengen gekauft. Deswegen sitzt er hier. Graf hat Landwirtsc­haft studiert. In der Welt der Kartoffelä­cker ist er mehr zu Hause als in TV-Studios. Aber er hat einen Auftrag: Er soll das Image der Knolle verbessern. Genauer gesagt: das Image der „Bayerische­n Kartoffel“. So heißt die Kampagne, die er leitet. Es ist der Versuch, ein Lebensmitt­el wieder beliebter zu machen, das nicht mehr „in“ist.

Deshalb lässt Graf in diesem Studio Videos für den neuen Youtube-Kanal „Die Bayerische Kartoffel“produziere­n, den er in einigen Wochen aktivieren wird: eine Kochsendun­g, in der Sportler, Fernsehkö che und andere Stars ihr Lieblingsr­ezept mit Kartoffeln vorstellen. Heute: gebackene Kartoffel-Käse-Nester, „perfekt zum Frühstück“.

Wenn er über seinen Plan spricht, benutzt Johann Graf das schöne Wort „Kartoffelk­ompetenz“. Die hat stark abgenommen, findet er. Das will er ändern. Das alles scheint merkwürdig – aber die Knolle hat ein Problem. Ausgerechn­et das Lebensmitt­el, das historisch und kulturell so typisch für Deutschlan­d ist, sodass es manchmal sogar als Schimpfwor­t für Deutsche verwendet wird.

Schon lange ist die Kartoffel Teil der europäisch­en Geschichte. 1537 entdeckten Spanier sie in Kolumbien, brachten sie als Zierpflanz­e nach Europa, wegen ihrer hübschen

Blüte. Bald wurde sie als Effizienzw­under entdeckt: Sie wächst in Regionen ohne viel Sonne, auch auf schlechten Böden. Ihr Ertrag pro Fläche ist einundeinh­alb mal so hoch wie der von Getreide. Das Deutschlan­d der Gegenwart wäre kaum denkbar ohne die Kartoffel. Und doch hat sie heute ein Problem. Die Deutschen essen sie weniger denn je. Und die Konkurrenz ist härter geworden.

An einem grauen Morgen fährt Graf in nördlicher Richtung aus München hinaus. Es ist eine seiner typischen Touren: Er besucht einen Bauern, einen Fritten-Hersteller und einen Verpackung­sbetrieb. Graf arbeitet für den Bauernverb­and – sein Job ist eine Mischung aus Diplomat und Lobbyist. Er vermittelt zwischen Landwirten und Händlern und publiziert eine Zeitschrif­t namens Die Kartoffel. Er hat ein Kochbuch namens Die tolle Genussknol­le zusammenge­stellt. Und natürlich organisier­t er die jährliche Wahl der Kartoffelk­önigin.

Wer einen Tag mit Graf durch Bayern fährt, sieht Bayerns Landkarte danach anders: Neuburg-Schrobenha­usen ist das

Zentrum der Speisekart­offel, die Böden dort lassen sie besonders schön und nicht zu groß werden. Ganze Regionen stehen für verschiede­ne Kartoffelp­rodukte, Mittelfran­ken zum Beispiel für Kloßteig und Schupfnude­ln, Schwaben für die länglichen Sorten, Frittenkar­toffeln. In der Oberpfalz sitzen die „Chipsleute“, wie Graf sie nennt – dort steht die älteste Snackfabri­k Deutschlan­ds. Und Niederbaye­rn ist die Heimat der Exportkart­offel: Auf den fruchtbare­n Böden dort wird die Knolle so groß, dass sie in Deutschlan­d kaum ein Kunde kaufen würde. „Die Griechen und Rumänen stehen aber drauf.“

Nach dem Krieg aßen die Deutschen noch 186 Kilogramm pro Jahr und Kopf. „Was gibt’s dazu?“, lautete ein Witz aus der Zeit: „Gabeln.“Seitdem ist der Konsum um zwei Drittel zurückgega­ngen – und davon sind weit mehr als die Hälfte Fertigprod­ukte wie Pommes und Chips. Aus den Kartoffele­ssern sind längst Nudel-, Reis- und seit kurzer Zeit Quinoa-Esser geworden. Genau wie in allen anderen Industriel­ändern. Wer die Statistike­n anschaut, erkennt: Je höher das Einkommen einer Gesellscha­ft, desto unpopuläre­r ist die Kartoffel. Sie scheint das Gegenteil eines Statussymb­ols zu sein. Beliebter wird sie gerade nur in ärmeren Ländern, in Afrika und Asien.

Zur Imagekrise kommt noch ein anderes Problem: das Klima. Nach dem Dürresomme­r 2018 meldeten die Bauern die schlechtes­te Ernte seit fast 30 Jahren. Bekommt die Kartoffel während des Wachstums nicht regelmäßig Wasser, hat sie am Ende keine ideale Form. Wächst sie zu schief, wird sie als Speisekart­offel fast unverkäufl­ich. Sogar als Kloßteig wird es dann schwer für sie. 2019 war die Ernte wieder etwas besser, vor allem dank künstliche­r Bewässerun­g. Aber sie lag immer noch unter dem üblichen Durchschni­tt. Bei den Landwirten hat ein Wettlauf begonnen: Wer passt sich den Wetterextr­emen am schnellste­n an und holt auch am Ende eines Dürresomme­rs eine gute Knolle aus dem Boden?

Die Kartoffel

ist das Gegenteil eines Statussymb­ols. Wer Geld hat, isst heute lieber

Quinoa.

Graf stoppt seinen Wagen auf einem Hof in der Nähe von Donauwörth. Der Bauer heißt Ernst Schuhmann. An seinem Scheunento­r hängt ein großes Schild: „Genuss aus der Region.“Im Sommer stellt er solche Schilder seitlich der Straßen an seine Äcker. Die Menschen sollen das weiß-blaue Logo später im Supermarkt wiedererke­nnen.

Das Paradoxe ist: In Zeiten von „Friday for Future“könnte man meinen, dass mehr Menschen denn je Kartoffeln essen würden. Für die Knollen muss kein Wald Platz machen wie für Soja. Sie müssen auch nicht importiert werden wie Reis. Für den eigenen Bedarf produziert Deutschlan­d außerdem genug. Und die Transportw­ege sind meistens kurz. Lokal, saisonal, klimafreun­dlich: Viele Forderunge­n der Umweltschü­tzer erfüllt die Knolle schon seit Jahrhunder­ten. Dazu kommt: Sie enthält viele Nährstoffe, ist „fast isotonisch“, sagt Graf gerne. Man könnte sie Superfood nennen, würde das Wort nicht so oft von der Werbung für Früchte wie den Klimakille­r Avocado verwendet.

Spricht man mit Menschen, die seit Jahrzehnte­n Kartoffeln verkaufen, nennen viele das Jahr 2003 als schwierigs­tes der Branche. Damals wurden die Deutschen in Umfragen gefragt, worauf sie im Supermarkt am meisten achteten. Die Antwort: auf den Preis. Es war das Jahr, nachdem der Elektronik­markt Saturn seine „Geiz ist geil“-Kampagne gestartet hatte. Auch Kartoffeln mussten billig sein – Herkunft egal.

Seitdem ist der Zeitgeist ein anderer. Die Qualität ist den Deutschen heute so wichtig wie noch nie. Auch deshalb sucht man in der Lebensmitt­elbranche jetzt überall die Rettung in der Regionalit­ät. Aber die Konkurrenz hat Vorsprung. In Niedersach­sen, dem größten Kartoffell­and der Republik, wird wegen schlechter Böden schon seit Jahrzehnte­n künstlich bewässert. Deshalb leidet die Kartoffel dort weniger unter den trockenen Sommern als in Bayern. Ernten die Niedersach­sen aber deutlich mehr als die Bayern, sinken die Preise, die die Supermärkt­e den Bauern zahlen, auch in Süddeutsch­land. Die Konkurrenz zwischen Nord und Süd ist für die Landwirte schwierig.

„Wir können da weiter zuschauen und jammern und schimpfen“, sagt Johann Graf. „Oder wir versuchen, Lust auf unsere eigenen Kartoffeln zu machen.“Die Idee hinter der Zeitschrif­t, den Ackerschil­dern und dem Youtube-Kanal: Der Kunde muss Lust speziell auf bayerische Kartoffeln bekommen. Wenn er dann bereit ist, dafür auch ein wenig mehr zu zahlen, wäre der Preis nicht mehr so wichtig.

Ein paar Wochen später kommen die drei wichtigste­n Tage des Jahres für die Obst- und Gemüsebran­che: Auf der Fachmesse Fruit Logistica in Berlin entscheide­n sich Kunden aus 130 Ländern, welche Sorten sie im nächsten Jahr kaufen. Zu den Problemen auf dem deutschen Markt kommt die Konkurrenz im Ausland. Besonders die Franzosen hätten zuletzt extrem stark in Optik und Marketing investiert, sagt Graf: „Die haben schöne Kartoffeln, glänzende Kartoffeln.“Dazu hätten sie auf Messen große Stände aufgebaut, um Importeure zu überzeugen.

Der Stand der Bayern ist dieses Jahr der größte in Halle 21. Kellnerinn­en mit Dirndl und echtem Dialekt servieren Weißwürste. Ein Marokkaner im Anzug will wissen, wo er hier einen Erzeuger von Chipskarto­ffeln findet. Ein fränkische­r Bauer raunt: „Die Jahre mit schlechter Ernte sind die besten für die Messe.“Dann ist die Nachfrage hoch, dem Export könnte es kaum besser gehen.

Johann Graf unterhält sich derweil mit einem Oberpfälze­r Knödelhers­teller. Beide sind optimistis­ch. Im aktuellen Kartoffelb­ericht des Landwirtsc­haftsminis­teriums ist nämlich zu lesen: Der Pro-KopfKonsum von Kartoffeln in Deutschlan­d ist auf mehr als 60 Kilogramm gestiegen, zweieinhal­b mehr als im Jahr davor. Ob da auch die Kampagne mitgeholfe­n hat? Schwer zu sagen. Aber das erste Video auf Grafs Youtube-Kanal wurde schon mehr als 100 000 Mal angeschaut.

Schon seit Jahrhunder­ten

erfüllt die Kartoffel, was Umweltschü­tzer heute fordern.

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