EINE SPEZIELLE ZEIT Wie erinnern sich die Deutschen in ein paar Jahren an die Corona-Krise?
Krisen und Katastrophen haben die meisten Deutschen bis vor wenigen Monaten nur aus den Erzählungen ihrer Großeltern gekannt. Corona hat das geändert. Wie erinnern sie sich in ein paar Jahren an diese Weltkrise? Von Hilmar Knute
Mit Geschichten leben wir als Kind. Und aus Geschichten formen wir unser Bild von der Realität. Früh haben wir schon schlimme Geschichten gehört. Von Menschen in großer Gefahr. Wir haben diese Menschen gekannt: unsere Eltern und Großeltern. Die haben uns davon erzählt. Schon als Kinder haben wir von einer speziellen Zeit gehört: in der das tägliche Leben stillsteht. In der man seinen Alltag rationiert. In der man die Wohnung nicht verlassen darf. Und vom Warten vor den Lebensmittelläden.
Auch das Wort hamstern kennen wir seit Kindertagen. Für die Großeltern war es so wichtig wie die Wörter kochen und schlafen. Aber in unserem eigenen Leben war kein Platz dafür. Hamstern war eine exotische Überlebenstechnik aus einer anderen Zeit. In unserer Zeit haben wir keine Überlebenstechniken mehr gebraucht.
In den ersten Wochen nach Beginn der Corona-Pandemie aber war das Hamstern wieder da. Das Motiv dafür: Angst. Hamstern gehen wir meistens im Supermarkt. Dort kaufen wir so viel wie möglich. Besonders toll ist das wirklich nicht.
Die Hamsterfahrten von unseren Großeltern 1945 waren sehr viel komplizierter. Ihr soziales Prinzip war das Tauschgeschäft. Die Stadtmenschen sammelten zu Hause Bettwäsche, Geschirr, vielleicht auch Schmuck. Das haben sie bei den Bauern gegen Kartoffeln, Mehl, Eier und Obst getauscht. Die Geschichte der Hamsterfahrt ist ein Mythos aus den Jahren nach dem Krieg.
Es kann helfen, die alten Geschichten mit den aktuellen Erfahrungen zu vergleichen. Aber in den alten Geschichten finden wir nirgends Emotionen. Die brauchen wir aber, um uns mit den Menschen identifizieren zu können. Gefühle waren in den Geschichten der Großväter kein großes Thema – manchmal auch nur kein konkretes. Die Alten haben von Not und Sorge oft mit dem Sound des Alltagsheldentums erzählt. Waren sie also für Notzeiten besser vorbereitet als wir später Geborenen?
Manchmal lesen wir die Geschichten auch in alten Dokumenten. Das Arbeitsbuch des Großvaters: 14 Jahre war er 1923 alt. Für das Jahr ist in dem Buch so etwas wie eine grüne Periode dokumentiert. Es war das erste Jahr der Inflation. Arbeit fehlte. Der Junge hat einen Job auf dem Land gesucht. Der Großvater hat von diesem Jahr auf dem Bauernhof immer extrem positiv erzählt. In der Realität war er ein schlecht bezahlter Kinderarbeiter.
Lange Zeit waren uns diese Geschichten nicht mehr so wichtig. Heute bekommen sie eine neue Relevanz. Ob die Alten früher auch Angst gehabt haben wie viele von uns heute?
Der Historiker Frank Biess hat vor einem Jahr ein dickes Buch publiziert. Darin dokumentiert er die historische Basis der Bundesrepublik: Erzählungen und Narrative der Angst und der Panik. „Im Nachkriegsdeutschland war Angst eng mit der Erinnerung an eine katastrophale Vergangenheit verbunden“, schreibt Biess. Der Holocaust war gerade erst vorbei. Viele der in dieser Zeit Leidenden waren davor am Leiden von anderen schuld. „Negative Kontingenz“nennt Biess dieses Phänomen: Diese Angst projiziert eine katastrophale Vergangenheit in die Zukunft.
Die meisten Jüngeren kennen die Katastrophe nur aus Geschichten, aus Filmen und Büchern. Oder aus einer geografischen Distanz. Die macht sie in unserem Alltag abstrakt. Natürlich, es hat ein paar spezielle Momente gegeben. Zum Beispiel die Ölkrise Mitte der 70er-Jahre. Sie hat den heute utopischen autofreien Sonntag möglich gemacht. Stundenlange Wanderungen und Ballspiele auf der Autobahn – das waren bis jetzt unsere Geschichten, „die man den Enkeln erzählen kann“. So hat der Liedermacher Franz Josef Degenhardt mal über die Legenden der 68er-Bewegung gesungen.
Es hat den Terrorismus der 70er-Jahre gegeben. Er hat die Erwachsenen panisch gemacht. Und 1986 ist das Jahr
Ob die Alten früher auch so viel Angst gehabt haben wie
viele heute?
des Reaktorunfalls von Tschernobyl. Die größte Konsequenz der Eltern war danach: Ihre Kinder mussten bei Regen einen Gummimantel tragen. Auch der 11. September 2001 hat die Deutschen nicht physisch bedroht.
Im Jahr 2020 ist das komplett anders. Positiv ist, nicht nur für die Deutschen: Wir sind jetzt selbst die Quelle der Geschichten von morgen. Geschichten von Menschen in schweren Zeiten. Ist die Corona-Zeit in ein paar Jahren ein negatives Beispiel? Wie schnell sich eine Gesellschaft von ihren großen Idealen verabschiedet? Wie schnell sie radikale Verbote akzeptiert? Fragen uns unsere Enkel einmal: Haben wir wirklich aus so großer Angst in ganz kurzer Zeit Kunst und Literatur, Theater und Film aufgegeben? Erzählen wir von der Angst vor zu wenig Toilettenpapier im Supermarkt? Und wie die demokratische Gesellschaft extrem schnell ein Ende gefunden hat?
Oder das Narrativ der Solidarität. Erzählen wir einmal von großer Solidarität in großer Not? Und von dieser Logik: Es kann seit der Krise nur noch zusammen funktionieren? Oder berichten wir von schlimmen Entscheidungen? Ein altes Menschenleben gegen das Überleben von einer Firma?
In den Medienberichten über immer restriktivere Entscheidungen der Regierung mussten wir wie eine Formel diesen Satz lesen: „Natürlich sind diese Maßnahmen richtig.“Erzählen wir später auch das? Oder erzählen wir einmal von einer sicheren, kritischen Urteilskraft nach einer Phase der Angst und Sorge?
Wir schreiben auch schon die kleinen privaten Geschichten. Damit assoziieren uns unsere Enkel einmal. Die Geschichte des Abstandnehmens ist eine davon – 1,50 Meter als sozialer Standard. Die Geschichten der guten Nachbarschaft könnten wir auch erzählen. Wie wir ein paar Restaurants und Kneipen mit Bestellungen nach Hause vor dem Bankrott gerettet haben. Bücher und Filme dokumentieren schon bald die große Leere in den Städten.
Ein paar Kulturhistoriker erinnern sich vielleicht einmal so: Im März 2020 war der 250. Geburtstag des Lyrikers Friedrich Hölderlin. Und zu dem traurigen Jubiläumsjahr hat etwas von Hölderlin ideal gepasst: seine Formulierung von der „bleiernen Zeit“.
Einen Mann wie Hölderlin könnten wir heute noch für etwas anderes feiern: Für sein verrücktes Zuhausebleiben. Mehr als 30 Jahre hat er in seinem Zimmer in einem Turm verbracht und dort immer wieder über die Jahreszeiten gedichtet. Die hat er durch sein Fenster gut gesehen.
Nicht nur Hölderlin: Corona macht die großen Figuren der Isolation wieder wichtiger. Xavier de Maistre, der französische Autor: 1790 hat er im Hausarrest seine bekannte Reise um mein Zimmer geschrieben. Heute ist der Einsamkeits-Expeditionsbericht die Vorlage von vielen Blogs, Internet-Tagebüchern und Homeoffice-Feuilletons.
Wer kann in dieser Situation noch Marcel Proust in seinem Bett kritisieren? Er hat alles richtig gemacht. Der Autor und Sozialkritiker ist zu Hause geblieben und hat die verlorene Zeit auf Papier dokumentiert. Und Blaise Pascal hat schon immer gewusst: Nur von Zuhause kann man die Menschheit retten.
Es ist wahr: Die Theater haben uns Modelle für unsere Realität gegeben. Jetzt sind sie geschlossen. Genau wie die Kinos. In denen fehlen uns heute nicht die Katastrophenfilme. Viel mehr fehlen uns die schönen Filme über unsere Freude am Leben und die Freiheit.
Manche meinen, wenn sie an die Zeit nach Corona denken: Die Kunst und die Literatur sind nicht mehr aktuell. Sie haben nämlich unseren Katastrophenmodus, unsere veränderte Realität nicht im Programm. Aber so dumm, wie manche glauben, sind wir nicht. Heute nicht und auch nicht in ein paar Jahren. Wie jede Generation vergessen nämlich auch wir nicht: Es hat eine Welt vor der Katastrophe gegeben. Die ist uns immer noch vertrauter als die Geschichten von morgen.
Erzählen wir später einmal von eine Phase der großen Solidarität?