Beerenhunger
Endlich Erdbeeren! Auf kaum eine Frucht reagieren Menschen so emotional.
Für viele Deutsche beginnt mit den ersten Erdbeeren aus dem eigenen Land endlich der Sommer. Für die Bauern bedeutet die Ernte aber viel Stress – denn nur wenige Früchte
gehen so leicht kaputt wie diese. Von Christoph Gurk
Gut, dass es jetzt losgeht“, sagt Annika Baumann und zupft eine dicke rote Erdbeere von einer Pflanze vor ihr auf dem Boden. Sie steht in einem knapp vier Meter hohen Tunnel aus Metallteilen und Folie, es riecht nach Stroh und nasser Erde. In drei ordentlichen Reihen wachsen hier Erdbeerpflanzen, dazwischen Baumann, 24 Jahre, Sneaker, bunter Schal, silberne Ohrstecker.
Baumann könnte in diesem Outfit auch in eine Universität gehen oder in ein Hipstercafé. Aber sie führt seit einem Jahr den Hof ihres Vaters, Spargel + Beeren Baumann, Süddeutschlands größten Erdbeerproduzenten. Seit Ende April ernten sie nun. Ein gutes Gefühl, sagt Baumann. „Wenn die ersten Früchte da sind, dann weiß ich: Das Schlimmste haben wir geschafft.“
Endlich Erdbeeren: Es gibt wahrscheinlich keine andere Frucht, auf die die Deutschen ähnlich emotional reagieren, wenn die Ernte beginnt. „Saison ist gestartet“, schreiben dann die Zeitungen. Und die Deutsche Presse-Agentur meldet den Start als Eilnachricht.
Den Erntebeginn von Äpfeln, Birnen oder Trauben melden höchstens Fachzeitschriften. Außer Bauern oder Winzern interessiert das nur wenige. Bei Erdbeeren aber ist das anders. Sie sind nämlich nicht Äpfel oder Birnen, sondern etwas Besonderes.
Es ist nicht so, dass die Deutschen besonders viele oder auch nur mehr Erdbeeren essen würden als früher. Knapp 300 000 Tonnen werden jedes Jahr in Deutschland konsumiert, das sind im Durchschnitt 3,6 Kilogramm pro Person. Das ist nur Platz fünf von Deutschlands meistgegessenen Früchten – nach Äpfeln, Bananen, Trauben und Pfirsichen.
Gleichzeitig reagieren die Menschen aber auf kaum eine andere Frucht emotional so stark wie auf die Erdbeere. Äpfel isst man immer und Bananen im Notfall auch mal im Schnee. Ist ja auch praktisch, durch die Schale muss man nicht einmal die Handschuhe ausziehen.
Erdbeeren aber gibt es für die meisten erst dann, wenn die Tage warm und lang sind, wenn die Grillen zirpen und die Haut nach Sonnencreme riecht. In einer globalisierten Welt, in der man alles immer und überall kaufen kann, ist die Erdbeere eine Besonderheit geblieben. Sie hat nämlich eine Saison, weil es sie, wenigstens theoretisch, auch mal nicht zu kaufen gibt.
Denn das, was die allermeisten Kunden wollen, sind nicht die Erdbeeren aus Spanien, Italien oder Marokko, die auch im Januar in der Frischetheke liegen. Sie wollen Erdbeeren aus Deutschland – die aber bitte so früh, so schön und so süß wie möglich. Das ist ein Problem, denn kaum eine Frucht ist so sensibel wie die Erdbeere.
Baumanns Folientunnel, zwei Monate vorher. Draußen weht ein kalter Märzwind über das Feld bei Geiselhöring, einem Städtchen in der bayerischen Provinz. Die Hügel hier sind sanft, die Straßen haben viele Kurven, und an den Bushaltestellen parken Mofas. Hier und überall in der weiteren Umgebung baut die Firma Baumann Erdbeeren an, manche unter freiem Himmel, andere unter Folientunneln. 13 Stück sind es hier in Geiselhöring, wie seltsam lang gestreckte Zelte sehen sie aus, eins neben dem anderen, ein sehr ordentlicher Campingplatz mitten auf einem Feld.
Baumann geht in einen der Tunnel und schaut sich die Reihen mit den Erdbeerpflanzen an. Drei Jahre sind sie schon alt, dieses wird ihre letzte Ernte sein, dann ist der Boden ausgelaugt. Wenn die Pflanzen Blüten tragen, werden Kisten mit Hummeln von speziellen Züchtern in die Tunnel gestellt. Sie sollen die Pflanzen bestäuben. „Wir haben hier die Sorten Clery und Sincerly angepflanzt, die kriegen besonders früh Früchte“, erklärt Baumann.
Die Kunden wollen deutsche Erdbeeren – so früh, so schön und so süß wie
möglich.
„Und weil es hier unter den Folientunneln auch noch schön warm ist, können wir hoffentlich schon Ende April ernten.“
Erdbeeren an Ostern: Unter den Bauern gibt es schon lange ein Wettrennen darum, wer als Erster Früchte verkaufen kann. Folientunnel sind heute schon fast Standard. Es gibt auch Bauern, die eine Art Fußbodenheizung nutzen, damit ihre Erdbeeren früh reif werden. Tunnel, Hummeln, Heizungen: Das alles ist teuer, hat aber auch seinen Vorteil. Zehn Cent mehr pro 500-Gramm-Portion können sie verdienen, wenn die Beeren früh genug in den Läden stehen, sagt Baumann. Das ist viel Geld, wenn man mehr als ein paar Dutzend Tonnen pro Woche erntet.
Baumann hat Gartenbau studiert. Spricht man mit ihr, hat man das Gefühl, dass Erdbeeren nicht nur ihr Beruf, sondern auch ihr Hobby sind. Sie weiß nicht nur, wo Erdbeeren gut wachsen, dass es nicht zu kalt sein darf, aber auch nicht zu warm, nicht zu nass und nicht zu trocken. „Von allem ein bisschen, von nichts zu viel“, sagt sie. Sie kann viel erzählen über die Größe der Frucht und den Geschmack. Oder über die Vorteile der sogenannten Frigopflanzen, die tiefgekühlt zu den Bauern kommen und dann nach dem Pflanzen innerhalb von acht Wochen Früchte tragen. „Die sind cool“, sagt Baumann.
Vor einem Jahr hat Baumann angefangen, die Firma zu leiten. Ihr Vater hatte 1990 den Hof in Geiselhöring geerbt. Er wollte etwas Neues anbauen. Darum experimentierte der Vater auf zwei Hektar mit Erdbeeren zum Selberernten. Ein paar Früchte ließ er pflücken und verkaufte sie an den Lebensmitteleinzelhandel. Der wollte schnell mehr, es kamen neue Kunden, und schon bald wuchsen die Erdbeeren der Baumanns auch auf gepachteten Feldern. Und so ging das immer weiter.
Aus dem kleinen Hof, den Annika Baumanns Vater Anfang der 90er-Jahre bekommen hatte, ist heute eine große Firma geworden. Rund 80 Angestellte gibt es, dazu noch bis zu 700 Saisonkräfte, die bei der Ernte und der Verarbeitung helfen. Die meisten kamen immer aus
Rumänien. Um ihnen eine Unterkunft anzubieten, haben die Baumanns Häuser in der Umgebung gekauft. Aber in der Coronakrise ist das nicht mehr so einfach – da werden auch Studenten und Freiwillige wichtig.
Auf 240 Hektar bauen die Baumanns heute Erdbeeren an, bis zu 90 Tonnen pro Woche ernten sie. In einem früheren Lager am Bahnhof von Geiselhöring haben sie heute ihre Maschinen für die Verarbeitung. Gerade wird hier noch Spargel geputzt, den die Baumanns auch anbauen. Bald aber kommen die Erdbeeren.