„Deutsche Eltern lieben basteln“
Unsere Lieblingsrussin weiß nun, warum Deutschland das Land der Ingenieure ist: Es kommt sicher von der großen Liebe zum Basteln. Denn ohne dieses „Hobby“ist hier keine Kindheit normal.
Meine Freundin Anja hat mich zum Nachdenken gebracht: Sie hat sich nämlich zu einem Nähkurs angemeldet. Als es am Ende der Sowjetunion fast nichts mehr zu kaufen gab, weil die Läden leer waren, habe auch ich selbst genäht. Ich kann auch stricken und sogar Löcher in den Socken stopfen, bin aber froh, das nicht mehr machen zu müssen. Dass jemand freiwillig Kleidung aus eigener Produktion tragen möchte, während sich in den Geschäften die Kleiderstangen biegen, überraschte mich.
Mir fiel auch meine Kollegin Kerstin ein, die Armbänder selbst herstellt. Und dann schenkte mir meine Nachbarin Simone einen selbst gebastelten Ring zu Weihnachten. Simone ist nicht zehn, sondern 52 Jahre alt. Als ich sie gefragt habe, woher sie die kleinen Steinchen hat, sagte sie: „Na, aus dem Bastelladen natürlich!“
Zwar wusste ich, dass es Bastelläden gibt. Ich hatte aber genauso wenig Grund hineinzugehen wie in eine Schule für das Nähen. Nun denke ich: Habe ich vielleicht etwas falsch gemacht? Könnte meine Einbürgerung daran scheitern, dass ich in 25 Jahren, die ich in Deutschland lebe, noch nie in einem Bastelladen war?
Oder noch schlimmer: Habe ich als Mutter versagt, weil ich mich nicht mit bunten Federn und Krepppapier zur Bastelerziehung meiner Kinder eingedeckt habe? Weil ich die Klopapierrollen und Eierkartons nicht gesammelt habe? Das nennt sich übrigens Upcycling, wenn man die Verpackung zum Basteln nimmt. Wenigstens habe ich mit meinen Kindern einmal Ostereier bemalt. Das war eine ziemliche Sauerei. Besonders schön haben die Eier am Ende auch nicht ausgesehen. Einmal Ostereieranmalen war genug. Hoffentlich tragen meine Kinder keine psychischen Schäden davon.
Im Gegensatz zu ihnen beherrschen ihre deutschen Freunde neben dem Marmorieren und Filzen eventuell auch die Seidenmalerei. Ihre Eltern haben Sendungen von Bastel-Guru Jean Pütz verfolgt und Kreativmessen besucht. Sie besitzen auch ein ganzes Regal mit Büchern von Pütz. Deutschland ist ja das Land der Ingenieure. Jetzt verstehe ich, woher das kommt: von einer intensiven Bastelerziehung seit der frühen Kindheit.
Angeblich basteln 61 Prozent der Deutschen mehr oder weniger regelmäßig. In Zeiten von Corona ist in Whatsapp-Elterngruppen immer was los, weil Basteltipps offenbar nie zu Ende gehen. Sogar Firmen setzen in ihre Newsletter Links mit Scherenschnitten. Viele Geschäfte haben durch die Corona-Krise finanzielle Probleme, aber Onlineshops für Bastelmaterial verkaufen so viel wie noch nie.
Im Gegensatz zu deutschen Eltern habe ich jetzt nichts, womit ich mich in Zeiten der Isolation wichtig machen könnte: Ich kann nur die Posts mit Bildern der Bastelerfolge der anderen Kinder liken. Bunte Ketten aus Klopapierrollen, Origami-Herzen und Tiere aus Filz. Meinen Kindern schlage ich das jetzt lieber nicht vor. Ich befürchte, sie sagen mir, es wird Zeit, dass ich endlich wieder ins Büro gehe. Von meiner Freundin Anja habe ich übrigens Post bekommen. Sie schickte mir eine selbst genähte Gesichtsmaske.