Vor 75 Jahren: Das große Aufräumen nach dem Krieg
Nur wenige Wochen nach Kriegsende beginnt der Wiederaufbau von Berlin. Dabei spielen Frauen eine wichtige Rolle – es ist der Anfang von einem deutschen Mythos.
Berlin ist zerstört, aber nicht tot. Nach der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 beginnt das Leben in der Großstadt neu. Die Infrastruktur funktioniert: Die Straßenbahn fährt, es gibt Wasser und wenigstens für ein paar Stunden am Tag Strom. Aber die Zerstörungen in der Stadt sind gigantisch. Von 1,5 Millionen Wohnungen sind nur noch 370 000 sofort wieder bewohnbar. 500 000 Wohnungen sind total zerstört, rund 100 000 schwer beschädigt. Ein großer Teil der Stadt liegt in Trümmern. Vor allem das Zentrum ist fast komplett zerstört.
In der Metropole beginnt das große Aufräumen. Ab dem 1. Juni 1945 müssen die ersten Frauen beim Aufräumen helfen: Jeder nennt sie bald Trümmerfrauen.
Die Trümmerfrauen sind ein deutscher Mythos. Und der geht so: Hunderttausende Frauen räumen nach dem Krieg die deutschen Städte auf – freiwillig, fröhlich und mit sehr einfachen Mitteln. Aber dieser Mythos ist zu einfach. In Wirklichkeit erledigen fast überall in Deutschland Baufirmen mit großen Maschinen (und Männern) die meiste Arbeit – anders geht es auch gar nicht. Im ganzen Land müssen rund 400 Millionen Kubikmeter Schutt weggeräumt werden. Das können
auch sehr viele Frauen mit Eimern nicht schaffen.
Die Trümmerfrauen gibt es, aber sie räumen nur einen kleinen Teil der Trümmer weg. Die Frauen werden vor allem in Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone eingesetzt. Es ist eine sehr harte Arbeit, und fast niemand macht sie freiwillig. Während des Kriegs müssen Zwangsarbeiter nach Bombenangriffen den Schutt wegräumen. Nach dem Krieg verpflichten die Alliierten vor allem deutsche Kriegsgefangene und NSDAPMitglieder dazu.
Auch die meisten Berliner Trümmerfrauen tun die Arbeit nicht freiwillig. Sie gehen zum Arbeitsamt, um Lebensmittelmarken zu bekommen. Zu dieser Zeit bekommt jeder nur eine vereinbarte Ration an Lebensmitteln. Sehr viele Menschen hungern. Aber wer hart arbeitet, bekommt etwas mehr. Zum Beispiel 450 Gramm Fett pro Monat statt nur 210 Gramm.
Die Ämter verpflichten die Frauen als sogenannte Bauhilfsarbeiterinnen. Sie klopfen Steine, die für den Bau von neuen Häusern verwendet werden können. Und sie beladen die Loren, auf denen der Schutt transportiert wird. 45 Kilometer Gleise sind dafür durch die ganze Stadt gelegt worden. Mit dem Schutt werden zuerst die Bombenkrater gefüllt, dann Trümmerberge aufgeschüttet. So bekommt das flache Berlin 14 kleine Berge.
Weil die Arbeit in den Trümmern so hart ist und als Strafarbeit gilt, soll sie populär gemacht werden. Vor allem in der sowjetischen Besatzungszone und in Berlin werden die Trümmerfrauen als Idole inszeniert. Es werden Fotos publiziert, auf denen fröhliche Frauen zwischen den Trümmern stehen. Die hart arbeitende Frau – das passt gut zum neuen sozialistischen Frauenbild, dass die Sowjets in ihrer Zone propagieren wollen.
Jahre später ist klar, dass viele dieser Fotos von Trümmerfrauen inszeniert sind. Auch in Berlin arbeitet nur ein kleiner Teil der Frauen beim Aufräumen mit: rund 60 000 Trümmerfrauen gibt es in der Stadt, das sind circa drei Prozent aller
Berlinerinnen. In den westlichen Besatzungszonen ist der Anteil noch kleiner als im östlichen Teil.
In Wirklichkeit haben also nur wenige Frauen dabei geholfen, den Kriegsschutt wegzuräumen, und das auch nicht ganz freiwillig. Aber trotzdem sind es die Frauen, die in der Zeit nach 1945 das Land am Laufen halten. 5,3 Millionen deutsche Soldaten sind tot, rund elf Millionen in Kriegsgefangenschaft – und 60 Prozent der Menschen in Deutschland sind in dieser Zeit Frauen. Viele Männer sind verletzt oder krank. Und Millionen Frauen wissen nicht, ob ihre Männer wieder nach Hause kommen werden.
In dieser Zeit erledigen Frauen fast alle Arbeiten – wie auch schon während des Kriegs. Sie suchen in den Trümmern nach Resten ihres Besitzes. Sie fahren auf die Dörfer und tauschen bei den Bauern oft ihren letzten Besitz gegen ein paar Kartoffeln, Eier und ein bisschen Milch. Viele Frauen müssen sich prostituieren, um ihren Kindern etwas zu essen kaufen zu können. Die Not ist groß.
Aber die Frauen kümmern sich nicht nur um ihre Familien. Sie machen seit dem Krieg auch viele Arbeiten, die traditionell vor allem von Männern erledigt worden sind: Frauen bedienen in Fabriken große Maschinen, sind Lehrerinnen und Handwerkerinnen. Deutschland ist nach dem Krieg ein Land der Frauen.
Die Trümmerfrauen werden später zum Symbol für die Leistung der Frauen in dieser Zeit. Das ist ein Grund dafür, warum der Mythos so groß wird: Die Trümmerfrauen werden ein Teil der deutschen Identität der Nachkriegszeit – wie das Wirtschaftswunder und das Wunder von Bern, der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954.
Mit der Umkehr der Geschlechterrollen ist es für die meisten Deutschen schon in den 50erJahren wieder vorbei. Anders als in der Deutschen Demokratischen Republik macht im Westen niemand die hart arbeitende Frau zum Idol. Das Ideal der Wirtschaftswunderzeit ist die Hausfrau. Barbara Kerbel
Deutschland ist nach dem Krieg ein Land der
Frauen.