Nur für dich
Vor einem halben Jahr hat Judith Holofernes ihr Leben als Popstar offiziell beendet. Nun verkauft sie ihre Musik und Texte einzeln an ihre größten Fans. Genau jetzt ist das eine ziemlich gute Idee. Von Jan Stremmel
Auf dem Puzzle
stehen Textzeilen aus dem Song „Ich bin das Chaos“– passt zu 2020.
Sie hat mit ihrer Band Millionen Platten verkauft, mehrmals den „Echo“-Musikpreis gewonnen und in den größten Hallen gespielt. Aber an diesem Tag arbeitet Judith Holofernes in ihrer Berliner Wohnung an einem Puzzle. Genauer gesagt malt sie eins, für ihre größten Fans.
Die Idee, sagt sie, hatte sie vor zwei Wochen, „coronabedingt“, ihre beiden Kinder haben zurzeit keine Schule. Das Motiv des Puzzles? Sie selbst in einem Wolfskostüm. Darüber stehen handgeschrieben ein paar Textzeilen aus einem ihrer Songs. Der heißt „Ich bin das Chaos“, und das findet sie doch ziemlich passend. Sowohl zum Prinzip des Puzzelns als auch zur Gesamtsituation der Welt im
Frühjahr 2020.
Andere Musiker blicken in diesen Tagen in den Abgrund. Sie streamen auf Instagram Gratiskonzerte aus ihrem Wohnzimmer und bitten die Fans darum, schon gekaufte Tickets nicht zurückzugeben. Während also eine ganze Branche vor dem Nichts steht, geht es für Judith Holofernes ganz bequem weiter. Sie hat keine Konzerte geplant, muss kein Album promoten. Sie muss heute einfach ein Puzzle malen. Genau dafür wird sie jetzt bezahlt.
Wer sich wundert, warum er schon länger nichts von Holofernes oder ihrer Band Wir sind Helden gehört hat: Es gibt sie eigentlich nicht mehr. Die Band hat sich schon 2012 aufgelöst. Holofernes hat seitdem zwei gelobte Soloalben und einen Gedichtband veröffentlicht. Aber dann, vor einem halben Jahr, gab sie auf ihrem Blog ihren „Rücktritt“bekannt, „mit dramatischem Gong und Fanfaren“.
Sie schrieb vom Ende ihrer „im Pop-Kontext stattfindenden Karriere“. Sie wollte nicht mehr „eine Familie haben und nebenher Rockstar in 70 %-Stelle sein“. Und nicht mehr ihr Geld verdienen, wie sie es 20 Jahre lang verdient hatte. Statt also wie bisher Alben zu produzieren, damit auf Werbetour zu gehen und dann auf Livetournee, wollte sie ihre Kunst nur noch für ihre größten Fans machen. Ohne Label, ohne Management, ohne Talkshow-Termine, aber mit „deutlich mehr Spaß“. Unterschrieben war der Eintrag mit „The Artist Formerly Known As Judith Holofernes“.
Es war eine kleine Sensation in der deutschen Indie-Szene. Wäre das nicht die Lösung? Ein gutes, selbstbestimmtes Künstlerleben, bezahlt nur von den eigenen Fans? Es klang utopisch. Aber nun, wo das Virus das Leben der meisten Livekünstler plötzlich auf null gestellt hat, fragen sich viele, ob Holofernes da nicht genau das Richtige getan hatte.
Seit Anfang des Jahres veröffentlicht sie ihre Gedichte, Zeichnungen, Tagebucheinträge und Podcast-Folgen hinter einer Bezahlschranke, auf Patreon, einer Plattform für Crowdfunding. Dort wird, im Unterschied zu anderen Anbietern, nicht ein großer Geldbetrag gesammelt, mit dem dann ein Videoclip oder ein
Album finanziert werden soll. Sondern dauerhaft kleine Beträge, wie bei einem Abonnement.
Wer ein „Patron“von Holofernes werden will, kann selbst bestimmen, wie viel er oder sie zahlen möchte für jedes Werk. Ab drei Dollar pro „Kreation“, also pro Lied, Text oder Video, darf man hinter die Schranke. Wer 25 Dollar pro Kunstwerk zahlt, dem schickt Holofernes Überraschungen per Post, etwa das Puzzle. Er bekommt bei ihrem nächsten Konzert auch freien Eintritt. Die teuerste Option sind 100 Dollar pro Werk. Sie nennt es „Vollmeisen-Abo für kunstverliebte Vollfreaks“. Wer so viel zahlt, der bekommt dazu noch Briefe und Postkarten von Holofernes’ Reisen sowie einmal im Jahr seine Lieblings-Holofernes-Songzeile, handgemalt von Holofernes.
Sie hat in den letzten Wochen mit Musikerfreunden „enthusiastische Gespräche“über dieses Finanzierungsmodell geführt, sagt Holofernes. Speziell jetzt erfahren viele Künstler selbst, wie schwierig dieses Leben ist. Wer sein Geld eben noch als freier Studiomusiker verdient hat, kann jetzt nicht mal mehr kellnern.
Ihr Rücktritt war keine Überraschung. Trotz des großen Erfolgs hat sie eines immer gestört: „Das Dogma, dass es bei der Musik um Masse geht.“Um die Masse an Leuten, die einen Song im Radio hören. Um die Masse an Menschen, die einen Künstler kennen. „80 Prozent der Zeit war ich damit beschäftigt, an die Leute ranzukommunizieren, was ich in den verbleibenden 20 Prozent der Zeit mache.“
Sie war frustriert: vier Stunden im Zug sitzen, um dann vier Minuten in einer TV-Sendung zu sprechen, die nur Menschen anschauen, die sich nie im Leben ein Holofernes-Album kaufen würden. Viel zu viel Reibungsverlust: „Ich wollte mich immer schon lieber auf die Menschen fokussieren, die meine Musik lieben. Und zwar wirklich lieben, und nicht nur tolerieren, wenn sie im Radio läuft.“
Es geht ihr aber um mehr als nur ums direkte Beliefern ihrer Zielgruppe.
Nämlich um eine Frage, die vielleicht noch nie so dringend beantwortet werden musste wie jetzt, wo das System der Livemusik so öffentlich sichtbar kollabiert: Was bedeutet Kunst der Gesellschaft wirklich, wie viel Geld ist sie ihr wert? Im Deutschlandfunk nannte neulich der Generalsekretär des Deutschen Musikrates, Christian Höppner, eine schockierende Zahl: 13 000 Euro verdienen freie Musikerinnen und Musiker in Deutschland im Durchschnitt. Im Jahr und brutto.
Wer sich als Musikfan noch an Zeiten erinnern kann, in denen man mehrmals im Jahr im Plattenladen drei, vier neue Alben kaufte und dafür gerne einen dreistelligen Betrag zahlte, dem muss es schon länger seltsam vorkommen, dass er heute für zehn Euro im Monat auf Spotify fast alle Songs der Weltgeschichte hören kann. Wer hat sich noch nie gefragt, wie das überhaupt aufgehen kann – oder ob es nicht vielleicht etwas wenig ist, dafür dass davon echte Menschen leben sollen?
Holofernes ist einerseits einer der letzten Musiker, die noch viele Platten verkauft haben, als die Menschen noch CD-Spieler hatten. Andererseits ist sie kein Megastar mehr. Sie hat kaum 18 000 Follower auf Instagram, das ist für einen Popstar sehr wenig. Vor zwei Jahren erklärte Holofernes dem SZ-Magazin ihr Problem: „Ich kriege unheimlich viel Liebe – und verkaufe trotzdem keine Platten.“Da war ihr Ausstiegsplan schon fast reif.
Genau dafür war Patreon gestartet. Gegründet wurde die Plattform 2013 von Jack Conte, einem frustrierten Musiker aus San Francisco. Der erste große Erfolg gelang ihm, als die Musikerin Amanda Palmer, Ex-Sängerin der Indieband Dresden Dolls, sich über Patreon finanzieren ließ. Palmer war bereits ein Star beim Thema Crowdfunding. Nachdem ihre Plattenfirma ihr gekündigt hatte, nach 25000verkauften Alben – aus Perspektive des Labels ein Flop –, hatte Palmer ihre Fans um Geld fürs nächste Album gebeten. Sie bekam 1,2 Millionen Dollar,
13 000 Euro verdienen freie Musikerinnen und Musiker im Durchschnitt – pro Jahr.
und zwar von fast genau 25 000 Fans, was die Rechnung der Plattenfirma in ihrer Absurdität eigentlich perfekt bloßstellte: Wozu gibt es überhaupt noch ein Label, wenn 25 000 Fans bereit sind, das Geld auch direkt an die Künstlerin zu zahlen?
Palmer schrieb ein Buch namens The Art of Asking. Darin formulierte sie eine sehr naheliegende, aber für die Musikindustrie revolutionäre Idee: Als zentrales Prinzip der Kunst nannte sie die Verbindung zwischen Künstler und Fan. Wer sich verbunden fühlt, will helfen. Sie fand: Man sollte nicht überlegen, wie man die Leute dazu zwingt, für Musik noch zu zahlen. Man sollte ihnen lieber eine einfache Möglichkeit geben, ihre liebsten Künstler direkt zu unterstützen. Dafür müsste man als Künstler allerdings eine Hürde überwinden: Man muss sich trauen, „Bitte“zu sagen.
Palmer hat heute 15 000 Unterstützer. Auf der einen Seite ist auch das für einen Popstar eher wenig. Andererseits zahlt jeder davon im Schnitt neun Dollar für jeden veröffentlichten Song, jedes Video und jeden längeren Text. Insgesamt unterstützen auf der Plattform vier Millionen „Patrone“150 000 Künstlerinnen und Künstler. Die Sache mit dem „Bitte“scheint zu funktionieren.
Holofernes war begeistert von Palmers Buch. Sie schrieb ihr auf Twitter. Die beiden trafen sich und wurden Freunde. Dann gingen sie zusammen auf Tour. Währenddessen hat Palmer sie „nebenher aus dem Ärmel Patreon-fertig gecoacht“. Der wichtigste Rat? „Underpromise, overdeliver.“Lieber wenig versprechen und die Erwartungen übertreffen.
Palmer hatte zum Beispiel einigen zahlungsfreudigen Fans versprochen, ihnen signierte Plattenspieler per Post zu schicken – ohne sich zu informieren, wie viel Porto es kostet, die Objekte bis nach Japan zu verschicken. Am Ende zahlte sie drauf. Deshalb wird das Puzzle, das Holofernes gerade designt, auch eine Überraschung, die sie sicherheitshalber niemandem offiziell versprochen hat. Overdeliver.
Und was bekommt man nun, als zahlender Fan von Holofernes? Erstens: ein Wohnzimmergefühl. Der Ton auf ihrer Patreon-Seite erinnert in seiner
Nettigkeit an die frühen Zeiten sozialer Netzwerke. „Mein friedlicher, unhysterischer Rückzugsraum“, sagt Holofernes dazu, „nicht so ein Drive-by-Shooting wie sonst im Internet.“
Unter der Osterausgabe ihres „Corona-Tagebuchs“, 1000 Wörter Text, unterhalten sich zum Beispiel Pia, Daria und Chris mit der „lieben Judith“über Erlebnisse im Lockdown: die Kinder, die kranke Oma, das Asthma. Holofernes sagt, dass sie jeden einzelnen Kommentar liest. Was bisher nicht extrem viel Zeit kostet: Es sind nicht viele Kommentare. Sonst teilt sie dort auch Buchtipps, Meditationen oder Folgen ihres Podcasts „Salon Holofernes“.
Natürlich ist Patreon ideal für Künstler wie sie: Holofernes schreibt gern, teilt Selfies aus dem Familienurlaub auf Teneriffa und erzählt, dass ihr Mann letzte Woche krank war. Wer seine Musik ganz für sich sprechen lassen wollte, hätte mit Patreon vermutlich weniger Erfolg. Und natürlich haben es Newcomer schwer, man muss seine Fans schon mitbringen. Wie die britische Rapperin M.I.A., die sich auch kürzlich anmeldete und im April dort exklusiv ihre neue Single veröffentlichte.
Wie viel Geld Holofernes bisher mit Patreon verdient, verrät sie nicht. Aber ein
Ziel hat sie schon jetzt erreicht: Sie kann zwei Mitarbeiter bezahlen, die sich um ihr „Backoffice“kümmern, während sie Zeit hat, Kunst zu machen.
Das Verhältnis zwischen „rankommunizieren“und echter Arbeit ist für Holofernes so gut wie noch nie. Für sie ist es eine Rückkehr dahin, wo Künstler immer waren, bevor es Popstars gab, die mit ihrem Produkt einen ganzen Hofstaat mitfinanzieren mussten: in die Gemeinschaft ihrer Unterstützer. Den Hofstaat ist Holofernes jetzt los. Zu Recht darf man aber fragen, ob am Ende auch genug Unterstützer bleiben, denen die Kunst das Geld wert ist.
Für ein abschließendes Urteil ist es noch zu früh. Aber es gibt positive Signale. Vor Kurzem verkündete Patreon, wie sich Corona bisher auf die Plattform auswirkt: Im März haben sich mehr als 30 000 neue Künstler angemeldet, so viele wie noch nie. Die eigentlich wichtige Nachricht ist dabei, dass auch die Unterstützer mehr wurden: In Deutschland, Italien und den USA gab es im März 36 Prozent mehr zahlende User als im Vormonat.
Corona dürfte die Welt stark verändert haben. Aber wenigstens sieht es so aus, als ob wahre Fans ihre Künstler in der Not nicht alleine lassen.