Mystisches Deutschland
Magische Orte und moderne Dämonen:
Für immer mehr Deutsche wird die Kraft der Natur ein Teil ihres Alltags – in Zeiten der Krise noch mehr als davor. Wird der alte Glaubenskult zur neuen Mainstream-Kultur?
Von Andreas Weber
Als die Zeremonie fast vorbei ist, passiert es. Andreas Neitz hört auf, die große Trommel zu schlagen und sein schamanisches Segenswort zu sprechen. Da geht mit großem Lärm der Baum oben am Berg kaputt. Die Männer und Frauen im Kreis um Neitz können es kaum glauben. Der Himmel über der alten Steinspirale mitten im Wald ist schwarz. Es regnet plötzlich stark, ein starker Wind lässt Blätter von den Bäumen fliegen.
Vor ein paar Momenten schien die Nachmittagssonne noch friedlich durch Bäume und auf die Felsen. Eine kleine Gruppe von Personen feierte friedlich den Mittsommertag im Wäldchen westlich der Externsteine, der legendären Formation bei Bielefeld im Weserbergland. Die Teilnehmer sind gekommen, um zu feiern, was ihrem Glauben nach neben den Pflanzen und Tieren auch noch in der Natur lebt: Götter des Himmels und der Erde, Pflanzengeister, geheime Kräfte. Als jetzt der Baum laut kaputtgeht, haben alle das Gefühl, dass die Natur auf sie reagiert.
Zwei Stunden früher hatte sich die kleine Gruppe auf dem großen Parkplatz getroffen: Neben dem Gärtner und Tagespfleger Neitz sind das seine Frau Sabine Melchers, eine Künstlerin und ein Geistheiler. Außerdem zwei junge Frauen, die sich Sinnsucherinnen nennen. Und ein Mann, der davon spricht, Aurafarben sehen zu können. Leiter der Gruppe ist Michael Peche. Für ihr Ritual möchte die Gruppe aber jetzt alleine sein.
In dieser Zeit kommen noch mehr Besucher zu den Externsteinen. Viele tragen lange Kleider wie aus einer anderen Zeit. Archaische Flötentöne sind zu hören. Ein Mensch steht ganz oben auf den Felsen, die Arme weit ins Licht ausgestreckt.
Wer zufällig in diese Situation kommt, könnte meinen, dass diese Menschen ein bisschen komisch sind. Was tun die hier? Indianer spielen? Sind wir zurück in der Prähistorie? Ist das Esoterik?
Aber das hier ist eine ernste Sache. Mittsommer an den Externsteinen – das ist ein spezieller Tag für alle, die an magische Kräfte glauben. Die Steinformationen sind bekannt als einer der magischsten Orte Deutschlands, ja vielleicht auch Europas: ein Stonehenge aus gewachsenem Fels, das Kontakt zu unsichtbaren Energien möglich machen soll.
Ob die Externsteine wirklich ein Megalithheiligtum sind, ist nicht sicher. Vielleicht ist das nur ein Traum: Die Reliefs und Felsgräber, die in den Stein geschlagen wurden, kommen wahrscheinlich erst aus christlicher Zeit.
Die Schamanen und Hellsichtigen lassen sich davon nicht stören. Ihr Tun ist Teil eines Phänomens, das Forscher neuen Paganismus nennen, eine moderne Form von Heidentum. Interessant ist er für immer mehr Menschen, die das kirchliche Monopol auf spirituelle Erfahrungen ablehnen, mit dem rationalen Denken der Wissenschaften aber keine Verbindung fühlen. Naturspiritualität ist dabei, zu einer neuen Weltreligion zu werden. Und sie findet ihre Basis in der Landschaft Deutschlands, wo Menschen vor langer, langer Zeit in einem schamanischen Kosmos gelebt haben.
Heiler, Kräuterfrauen und Schamanen sind inzwischen Teil des kulturellen Mainstreams. Die Bücher des „Schamanen aus dem Allgäu“Hans-Dieter Storl sind Bestseller. Ihm zeigen Pflanzengeister den Weg zu Heilkräutern. Moderne Hexen nehmen jedes Jahr in Berlin an der „Langen Nacht der Religionen“teil
– gemeinsam mit Institutionen konventioneller Glaubensrichtungen.
Langsam reagiert auch die Wissenschaft. Forscher bestätigen zwar nicht, woran Menschen wie Neitz und seine Bekannten glauben. Aber Soziologen, Psychologen und Kulturforscher beginnen zu akzeptieren, dass magische Praktiken das gleiche Existenzrecht haben wie andere Glaubensrichtungen auch.
Das neue Heidentum unterscheidet sich nicht absolut von anderen Glaubensrichtungen, hat zum Beispiel der Religionssoziologe René Gründer festgestellt, Professor an der Dualen Hochschule Heidenheim. Er sieht es nicht als Sekte oder pathologischen Kult, sondern als einen wirklichen Glauben. Und der mischt Traditionen, Elemente anderer Glaubensrichtungen, lange Zeit Vergessenes und ja, auch Fantasie. Die Ethnografin Victoria Hegner vergleicht es mit einem Dokument, das viele Male ausradiert, neu geschrieben und korrigiert wurde. Darin werden die Reste früher europäischer Kulte mit exotischen Ideen und freier Erfindung zurzeit neu kombiniert.
Eigentlich ist das ein ideales Thema für Kulturwissenschaftler und Brauchtumsforscher. Aber für die Wissenschaftler ist es immer noch ein Karriererisiko. Spirituelle Gefühle ernst zu nehmen oder die Natur als beseelt zu interpretieren, ist bis heute aus zwei Gründen gefährlich: Es passt nicht zum christlichen Glauben. Und es verletzt das Objektivitätsideal von Rationalismus und Wissenschaft. „Meine Erfahrung ist, dass man mit dem Thema Heidentum eher keine Karriere macht“, sagt Gründer.
Tabu ist das Thema auch bei seinen Kollegen aus der Altertumsforschung. Noch in den 80er-Jahren lehnten es deutsche Archäologen ab, prähistorische Stätten für an archaischen Kulten interessierte Hobbyforscher und Journalisten zu öffnen. Sie begründeten es mit dem Argument, dass Forscher nur rational denken sollen. Für Menschen, die an Naturkräfte
Historische Kultobjekte in Deutschland
Obwohl erst die Kultur des historischen Roms und dann das Christentum die Traditionen Mitteleuropas stark geändert haben, sind Gegenstände aus der Zeit davor noch an vielen Orten zu finden. In der Steinzeit waren die Menschen in Europa noch nicht sesshaft. An vielen Stellen sind bis heute Bilder in Stein aus dieser Zeit zu sehen, sogenannte Petroglyphen. In der Vogelherdhöhle östlich von Stuttgart zum Beispiel wurden rund 35 000 Jahre alte Tierfiguren aus Mammutelfenbein und eine Löwenmenschen-Skulptur gefunden. Diese Gegenstände könnten Spuren von früher Magie sein. Den Jägern und Sammlern folgten erste sesshafte Menschen, später Kelten, Germanen und Slawen. Aus dieser Zeit sind Megalithgräber in der Erde und viele Opferstätten in Höhlen, in den Bergen und im Uferwasser von Seen. Bei Hamburg wurde zum Beispiel ein Kultstab gefunden, auf dem vor langer Zeit ein Rentierschädel war. Und im Groß Glienicker See in Berlin und Brandenburg lagen Reste von 20 zeremoniellen Kannen und Tieren, die wahrscheinlich geopfert wurden. Höhlen in Bayern wie die Hexenküche im Kaufertsberg sind sehr alte Ritualstätten, an denen Archäologen zum Beispiel verbrannte Reste des menschlichen Skeletts fanden – wahrscheinlich das Resultat von Opferritualen.
glaubten, waren die Sektenspezialisten der Kirchen zuständig.
Bis heute ist der christliche Glaube immer noch die Norm – ein magischer Glaube ist im Kontrast dazu eine gestörte Abweichung. Schon der Begriff „neue Heiden“zeigt, aus welcher Perspektive er gesehen wird: Heiden sind die, die nicht dem normalen Glauben angehören.
Lange Zeit hatten Menschen, die zu Naturritualen zusammenkommen, ein negatives Image. Für viele waren das Menschen, die noch immer von einem neuen Germanenreich träumen. Außerdem gibt es einen großen Unterschied zu englischsprachigen Ländern: Die Nationalsozialisten missbrauchten alles Heidnische für die Legitimation ihres Regimes. Deshalb hat Naturspiritualität in
Deutschland immer das negative Image der Germanentümelei. Auch wenn heute, so religionssoziologische Untersuchungen, die Zahl rechtsextremer neuer Heiden keine relevante Größe hat.
Eines ist dabei interessant: Eigentlich wünschen sich viele Deutsche ein spirituelles Leben.
Nur reden sie nicht so gern darüber. Umfragen zeigen: Jeder Sechste sympathisiert mit den Ideen der Anthroposophen und ihrer Liebe zu okkulten Wissenschaften, zu Ätherwesen und Engeln. Jeder Vierte ist offen für Geist- und Wunderheiler. Und fast die Hälfte glaubt an Astrologie und New-Age-Esoterik mit Seelenwanderung, Erinnerungen aus einem früheren Leben oder der Übertragung „feinstofflicher“Energien.
Für den Religionssoziologen Gründer ist das typisch für den Menschen. Im Christentum zum Beispiel wird aus dem unsichtbaren Gott der Körper eines Menschen, und daraus dann Brot und Wein. „Aus einer wissenschaftlichen Perspektive ist jeder Glaube absurd“, meint Gründer. Aber der Mensch sucht nach Sinn. „Das ist unser Wesenscharakter“, sagt der Soziologe. Wir fühlen uns oft erst gut, wenn die Welt ein sinnvolles, höheres Ganzes ergibt. Und: „Solche Sinnerfahrungen lassen sich als neuronale Prozesse im Hirn nachweisen.“Teil eines großen Ganzen zu sein bringt eine Kaskade an positiven Erfahrungen, findet er: „Das ist universell und war vor 1000 Jahren nicht anders als heute.“
Wahrscheinlich war es das auch schon sehr viel früher. In Mitteleuropa gibt es noch immer sehr viele Reste archaischer Kultstätten (siehe Seite 16). Könnte es Verbindungslinien geben zwischen den spirituellen Ideen der frühesten Bewohner des Kontinents und dem neuen Paganismus von heute?
Zu erkennen sind die Kultstätten oft an Namen wie „Teufelsstein“. So einer steht in Restrup (Niedersachsen). Namen wie dieser sollen Angst machen. Sie kommen aus der Zeit der Christianisierung. Weil aber heidnische Bräuche sehr stabil ein Teil der Kultur blieben, gab es drakonische Strafen dagegen. Schon im vierten Jahrhundert verbot Kaiser Theodosius Blumen und Räucherwerk auf dem Hausgötteraltar. Naturheiligtümer wurden kaputtgemacht – und, wo das nicht half, christianisiert. Viele frühe Kirchen wurden an Stellen gebaut, die Heiden heilig waren.
Was in den vorchristlichen Kulten passierte, werden wir nie wissen – auch wenn die Anhänger des neuen Heidentums gern eine direkte Verbindung zwischen ihren Riten und ältesten animistischen Praktiken sehen: „Es gibt Verbindungslinien solcher Bräuche in eine ferne Vergangenheit“, sagt der Religionssoziologe
Gründer, „aber sie lassen sich nicht mehr genau rekonstruieren“.
Trotzdem: Manche Rituale sind heute Teil der Mainstream-Kultur. Wichtige Bräuche sind deutlich als archaische Naturrituale und kosmische Feiertage zu erkennen: Aus dem Julfest wurde zum Beispiel Weihnachten. Aus dem Fruchtbarkeitskult des Frühlings mit seinen Eiern und Tiersymbolen wurden Oster-Traditionen. Karneval ist bis heute ein Symbol für die wilde Jagd der Naturgeister. Die alte Magie ist inzwischen auch Teil der modernen Eventkultur geworden. Am 30. April, der Walpurgisnacht, feiern Tausende in teuren Teufels- und Hexenkostümen in der Umgebung des höchsten Bergs in Norddeutschland, des Brocken. Hotels in der Region haben dann kein Bett mehr frei.
In einem hübschen Haus, 100 Kilometer entfernt, wohnt Andreas Neitz, der zu Mittsommer den fantastischen Segen sprach, mit seiner Frau. Auf dem Tisch liegen Fotos des Mittfünfzigers in einem kompletten Schamanenkostüm – Fantasiekleidung aus Leder. Er steht mit nackten Füßen im Bachwasser. Der Garten von Neitz hat zwei Teile: eine rituelle Hälfte, in der verschiedene Objekte erkennen lassen, dass hier öfter mal magische Aktivitäten stattfinden. Und einen Spielplatzteil für die Kinder, die Eltern hier zur Tagespflege abgeben. Die heidnischen Elemente stören niemanden. Das Areal ist ziemlich wild und ideal zum Spielen. Am Wasser des Flusses nebenan hat Neitz positive Energie zu „installieren“versucht, wie er sagt. Der Platz soll einen große Ruhe fühlen lassen.
Neitz kommt aus einer streng christlichen Familie. Für ihn bedeutete Religion in der Kindheit Zwang und seelischen Missbrauch. Endlich erwachsen, verabschiedete er sich vom Christentum. „Aber ich wollte nicht auf ein höheres Wesen verzichten“, sagt er. Das passt zu den Hypothesen des Religionssoziologen Gründer: Wir alle brauchen Sinn und Kohärenz.
Kritiker – speziell aus den Kirchen – werfen der schamanischen Crossover-Spiritualität vor, ein religiöser Selbstbedienungsladen zu sein. Ihre Anhänger machen sich nach außen hin Sorgen um die Welt und ihre Wesen. Aber nach innen spielen Konsum und Hedonismus eine große Rolle, glauben diese Kritiker. Sie übernehmen keine soziale Verantwortung wie die Kirchen, findet zum Beispiel der Theologe Kai Funkschmidt, der für die Evangelische Beratungsstelle in Weltanschaulichen Fragen arbeitet.
Dazu kommt die Tendenz, aus allen Weltregionen und Glaubensrichtungen Elemente von Spiritualität zu kombinieren: „Sich als Mensch aus dem Westen Schamane zu nennen, hat für mich etwas Kolonialistisches“, sagt die Bremer Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil, die selbst viel Zeit mit sibirischen Zauberheilern verbracht hat.
Für René Gründer aber macht speziell die wilde Mischung die neuen Heiden zu Vorläufern einer postmodernen Weltreligion. „Ihr Glaube ist extrem pluralistisch“, sagt der Soziologe. „Sie schaffen, was die Kirchen zwar predigen, selbst aber nicht hinbekommen: eine friedliche Koexistenz aller Glaubensrichtungen.“
Schamanin und „neue Hexe“nennt sich auch die Berlinerin Xenia Fitzner. An einem windigen Sommerabend steht die 57-Jährige mit nackten Füßen auf einem Feld, die Arme weit in den Himmel ausgestreckt. Neben ihr steht ein verdorrter Baum über den Resten eines Megalithgrabes. Fitzner trägt einen langen Fellumhang, genäht aus den Häuten verschiedener Tiere.
Die Hexe ruft mit geöffneten Handflächen den Mond an. Der schiebt sich langsam über den Horizont beim Ostseestädtchen Rerik. Hinter ihrem Rücken sind über dem Meer schwarze Wolken zu sehen. Sie leitet den Kurs „Natur als Kraftort“. Im Steingrab unter den dicken Felsen liegt eine Teilnehmerin. Den Eingang des Erdlochs blockiert eine hohe
Trommel, auf die ein Teilnehmer rhythmisch schlägt. Die anderen stehen im Kreis, sie in der Mitte.
Die Frau, die hinter dem Instrument im Resonanzraum des historischen Grabes liegt, soll darin symbolisch das Sterben erfahren. „Jeder Tod ist eine Geburt“, hatte Fitzner den Teilnehmern vorher gesagt. Das Ritual ist eine freie Erfindung. Aus der Frühgeschichte ist nichts dieser Art bekannt.
Fitzner, die Arme ausgestreckt, sagt nicht Mond, sondern „die Mondin“. An dieser Sprache erkennen sich moderne Hexen. Die alte Kultur, so glauben sie, ist das Matriarchat, die Kultur von Mutter Erde. Im Zentrum dieser Bewegung steht die Kalifornierin Miriam Simos, die sich als Hexe den Namen „Starhawk“gegeben hat. Ihr Buch Spiral Dance von 1979 wurde zum Bestseller einer neuen Spiritualität – der Natur und der Weiblichkeit.
Die Renaissance der europäischen Naturmagie begann in England: In den 50er-Jahren machte der frühere Kolonialbeamte Gerald B. Gardner öffentlich bekannt, dass ihn weise Frauen in einen Hexenkult eingeweiht hätten. Als Priester dieses Kults publizierte er dazu mystische Romane, ein Buch der Schatten mit rituellen Anweisungen und eine Traditionslinie, die ihn als Eingeweihten in alte Praktiken darstellte.
Gardner nannte diese Religion Wicca. Seit dieser Zeit hat sie eine große Karriere gemacht, mit Tausenden Anhängern vor allem in England und den USA. Auf Soldatengräbern in den USA ist sogar ihr Symbol erlaubt, um die Religion des Toten zu zeigen: der Fünfstern, das Pentagramm – der „Drudenfuß“aus Johann Wolfgang von Goethes Faust.
Auch Fitzner war eine Zeit lang Mitglied des Wicca-Ordens. Dann wollte sie aber wieder zurück zu ihren eigenen Ritualen. Sie benutzt dafür ein großes Repertoire von Anweisungen und Praktiken. Es wird zwar oft davon erzählt, dass es aus ältesten Quellen kommt. Aber das