Kein Sex ist auch keine Lösung
Wegen Corona haben die Menschen weniger Lust auf Sex? Aber nein. Über CovidPornos, den Boom von Vibratoren und Swingerpartys auf Zoom. Von Jan Stremmel
Gerade passt es nicht so gut, sagt die Frau am Telefon: „Ich dreh grad ein Video und kämpfe mit der Kamera.“Filme für ihre Website macht sie zwar schon länger. Aber seit der Kontaktsperre bietet sie ihren Kunden auch noch Webcam- und Telefon-Sessions an. Läuft’s gut? „Ich sag mal so: Momentan ist die Hochsaison der notgeilen Vollpfosten.“Gerade erst hat wieder einer angerufen und ins Telefon gestöhnt. „Haben ja jetzt alle Zeit.“
Die Frau nennt sich Davina, im Internet ist sie beschrieben als die „fleischgewordene Erfüllung aller bizarr-erotischer Phantasien“. Man kann sie in Süddeutschland und der Schweiz buchen. Genauer: Man konnte sie dort buchen. Wegen des Virus bietet sie ihren Service jetzt online an, wie viele Sexarbeiterinnen. Nur weil Corona ist, haben die Menschen nämlich nicht weniger Lust. Ganz im Gegenteil, sagt Frau Davina. Aber warum ist das so?
Die Frage kann man sich zurzeit wirklich stellen. Wenn man zum Beispiel liest, dass Pornhub.com seit März ein Viertel mehr Besucher hat als sonst. Auch andere Pornoseiten publizieren Grafiken, die fast so detailliert sind wie die Corona-Zahlen aus verschiedenen Ländern. Man braucht kein Mathematikstudium, um zu erkennen: Zu Beginn der Ausgangssperren sinken die Zahlen in fast allen Ländern. Zwei Tage danach steigen sie extrem.
Dazu kommt ein interessanter Trend in den Schlafzimmern. Onlineshops haben Probleme, die vielen Dildos, künstlichen Vaginen und App-gesteuerten SexToys zu verschicken, die ganz Europa gerade bestellt. Bei Wow Tech, dem Hersteller des teuren Vibrators „Womanizer“, sind die Verkäufe um 50 Prozent höher als sonst. Und beim Videokonferenzanbieter Zoom finden schon lange nicht mehr nur Meetings von Arbeitsgruppen statt, sondern zu jeder Zeit auch passwortgeschützte Swingerpartys.
Nach erster Panik, Hamsterkäufen und mehreren Episoden der verrückten
Wildtierdokumentation „Tiger King“bei Netflix reagieren viele Menschen jetzt offenbar so auf die Krise: Sie sitzen die Sache mit der Hand in der Hose auf dem Sofa aus. Ist es der Stress? Oder eine bis jetzt unbekannte Nebenwirkung des Virus? Es ist Zeit für Antworten.
Fast ganz Europa war gerade in den Lockdown gegangen. Da stellte die New Yorker Gesundheitsbehörde Ende März ein PDF online, das wahrscheinlich irgendwann in ein Museum kommt. Es geht darin um Sextipps im Kontext von Covid-19. Darin steht der Hinweis, dass manche Praktiken zurzeit das Risiko einer Infektion besonders erhöhen. Und die Behörde nennt genau das, was inzwischen für Millionen Menschen Alltag ist: „Du selbst bist dein sicherster Sexpartner. Video-Dates, Sexting oder Chatrooms könnten Optionen für dich sein.“
Könnten es – und sind es inzwischen auch. Ein Anruf bei Johanna Weber. Sie nennt ihr aktuelles Angebot „unterstützte Autoerotik“. In den Tagen, als das PDF in New York online ging, setzte sich die 52-Jährige an ihren Computer und änderte ihre Website. Normalerweise arbeitet sie „am Menschen“, sagt Weber. Sie besitzt ein Domina-Studio in Berlin. Mitte März musste sie schließen, wie alle Bordelle. Weber publizierte auf ihrer Startseite einen gelben Hinweis, dass sie ab sofort nur „Chat-Sessions“anbietet. Und so führt sie jetzt für 80 Euro die Stunde, inklusive Vorgespräch, Männer und Frauen in die Kunst der Selbstbefriedigung ein. Ohne Kamera, ohne Make-up, sie benutzt die Browser-Version von Whatsapp.
Ein Orgasmus füllt den Körper mit Glückshormonen, er reduziert Stress und unterstützt das Immunsystem. Sex in der Isolation ist deshalb keine schlechte Idee, sagen Therapeuten und Ärzte. Die Frage ist nur, mit wem. Und diese Frage stellt sich vor allem denen, die keinen festen Partner haben.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfiehlt Singles: Sie sollten sich, wenn es denn wirklich sein muss, während der Pandemie eine „feste Sexbeziehung mit einer Person“suchen. Man kann es aber auch anders sehen. Der
Ethik-Kolumnist des Time Magazine zum Beispiel schrieb auf die Frage, ob wenigstens Sex mit dem eigenen Partner okay ist: „Nein. Außer ihr wurdet gerade getestet und habt fünf Tage gewartet.“
Auch das ist inzwischen ein paar Monate her. Und so, wie Menschen das Homeschooling ihrer Kinder akzeptiert haben, haben sie auch ihre quarantänisierte Sexualität organisiert. Man kann inzwischen virtuell Online-Shows von
Ergebnis für eine Firma, die Vibratoren baut. Aber die 1200 Umfrageteilnehmer waren alle in Beziehungen.
Auch Johanna Weber sagt, sie hätte nie gedacht, dass die Sache mit der Whatsapp-Masturbation so ein „Door Opener“werden würde. Jetzt kontaktieren sie viele, die sich nie getraut hätten, einen Termin im Studio zu machen. Vor allem Frauen. Oft hört Weber von ihren Kundinnen: Sie haben jetzt zum ersten Mal die Ruhe,
Die Therapeutin kennt aber auch das Gegenteil. Schon länger abgekühlte Paare, die jetzt alles wollen, nur keinen Sex. Denen muss Melzer gut zureden, sich wenigstens manchmal in den Arm zu nehmen. Und natürlich spricht sie auch mit vielen einsamen Singles. Sie nennt sie die „Unberührten“, denen körperlicher Kontakt nun besonders fehlt. „Es haben ja nicht mal die Thai-Massage-Salons offen“, sagt Melzer, „von denen gibt es nicht ohne Grund einen an jeder Ecke“.
Der Wunsch nach Berührung war in den Großstädten mit ihren vielen Singles noch nie so groß – und wurde gleichzeitig so wenig Realität. Auch wenn der Alltag inzwischen wieder normaler wird: Körperliche Nähe zu Leuten außerhalb der eigenen Wohnung werden die meisten Menschen noch längere Zeit ablehnen.
Es ist also vermutlich gar nicht so kurios, wenn man nun Geschichten hört von Mitbewohnern, die in den Wochen der Isolation plötzlich zu Liebespaaren geworden sind – es ist Pandemie-Pragmatismus. Für alle anderen gibt es die
Pornowelten. In denen ist das Virus natürlich auch schon lange Teil von lustigen Überschriften wie „Sex mit der Krankenschwester nach dem Corona-Test“oder „Virenkommando räumt Wohnung in Wuhan und wird von weiblichen Covid-Infizierten attackiert“.
Melzer arbeitet viel mit Pornosüchtigen. Sie lehnt Pornos nicht kategorisch ab. Problematisch wird es ihrer Meinung nach erst, wenn man mit dem Masturbieren unangenehme Gefühle betäubt. „Es zeigt sich jetzt, wie resilient Menschen mit Krisen umgehen. Ob sie die Zeit als Chance begreifen, um neue Ideen auszuprobieren, vielleicht auch sexueller Art. Oder sich passiv im Pornorausch verlieren, der natürlich am Ende noch unglücklicher macht.“Konsum aus Angst, der Reflex wie bei den Hamsterkäufen – aber mit offener Hose vor dem Computer.
Und was passiert bei den Apps, die sonst dafür da sind, Geschlechtsverkehr gratis zu organisieren und das meistens ziemlich schnell? Für die scheinen die besten Zeiten vorbei zu sein. Die
Tinder-Gags aus den ersten Wochen der Krise – „Frau mit Klopapier sucht Mann mit Nudel“– sieht man kaum noch. Viele Userinnen loben eine „neue Sanftheit“in der Art, miteinander zu chatten. Jetzt, wo kein schnelles Date möglich ist, bekommt die Frage „Wie geht’s?“zum ersten Mal eine ehrliche Antwort. Plötzlich haben Menschen keine Angst mehr, nach nur wenigen Chatnachrichten etwas komplett Verrücktes zu tun: zu telefonieren.
„Klar“, sagt die Autorin Paula Lambert, die auch als Beziehungscoach arbeitet, „mit Auberginen-Emoji und Fragezeichen kommt man nicht mehr weit.“Schneller Sex ist plötzlich keine Möglichkeit mehr.
Lambert spricht mit vielen jungen Paaren und
Esther Perel im Mai dem New Yorker sagte: der Lockdown als „Petrischalen-Moment“. Perel hat vor Jahren einen Bestseller geschrieben über Sex in der Ehe, er heißt Mating in Captivity, Paarung in Gefangenschaft. Zurzeit arbeitet sie an so etwas wie einem zweiten Teil, sie spricht in ihrem Podcast mit Paaren unter Hausarrest. Das Gute und das Schlechte ist jetzt plötzlich zu sehen, glaubt Perel, in langjährigen Ehen genauso wie in der Beziehung mit sich selbst. Unter dem äußeren Druck werden Prioritäten neu geordnet. Es werden Dinge entschieden, die schon lange entschieden sein sollten. Luxusprobleme werden plötzlich als das gesehen, was sie sind: Probleme, die nicht so wichtig sind. Und viele