Eine gute Tür
Im Oktober 2019 versucht ein Terrorist, in die Synagoge von Halle zu kommen. Aber die massive Eingangstür aus Holz schützt die vielen Menschen darin. Gebaut hat sie Thomas Thiele. Hier erzählt er von seiner
lebensrettenden Arbeit. Von Martin Machowecz
Am Ende war es, man mag es kaum sagen, das heiligste Holz der Deutschen, das einen Neonazi stoppte. Eine sechs Zentimeter starke Tür aus Eiche. Sie schützte die Menschen in der Synagoge von Halle im Oktober 2019 vor den Kugeln eines rechten Extremisten.
Eine Tür, ein Wunder. Und ein Mann. In Halle, vor der Synagoge, an einem sommerlichen Tag im April, bewegt Thomas Thiele die Hände über seine Tür. Fährt damit Kurven und Linien auf dem Holz: wie wenn man das Wunder nur verstehen könnte, indem man es berührt.
Noch immer ist die Tür ein Teil der Mauer, die das Synagogenareal und den jüdischen Friedhof schützt. Und noch immer sind darin ungefähr 20 Löcher zu sehen. Thiele steckt seinen kleinen Finger in eines hinein, die Fingerkuppe ist nicht mehr zu sehen. „Schon Wahnsinn“, sagt Thiele. „Wie froh ich bin.“Weil sie gehalten hat: seine Tür.
Thomas Thiele (47), in Dessau (Sachsen-Anhalt) geboren und aufgewachsen, ein mittelgroßer, kräftiger Mann, ist Tischlermeister. Er hat diese Tür gebaut, die für Stephan B., einen Rechtsextremisten aus Sachsen-Anhalt, den Weg in die Synagoge blockierte.
Es gibt Videobilder von diesem 9. Oktober, auch Thomas Thiele hat sie sich angesehen, fassungslos und schockiert. Es war an Jom Kippur, dem wichtigsten jüdischen Feiertag. An keinem anderen Tag sind so viele Menschen in der Synagoge, der Täter wusste das. In dem Film hört man Stephan B., 27 Jahre alt, darüber fluchen, dass die Tür zu ist. Er drückt dagegen, sie öffnet sich nicht. Man hört, wie er ärgerlich und ärgerlicher wird. Wie er plötzlich eine Frau erschießt, die zufällig vorbeigeht. Wie er mit einer seiner Waffen auf die Tür schießt, dreimal. Aber die Tür öffnet sich nicht.
Am Ende zündet B. selbst gebaute Brandsätze und wirft sie über die Mauer. Dann fährt er weg. Auf seinem Weg durch die Stadt erschießt er noch einen Gast in einem kleinen Lokal.
Zwei Tote. Aber es hätte noch viel mehr Tote geben können. Mindestens 50 Menschen waren in der Synagoge. Über eine Überwachungskamera konnten manche alles sehen, was Stephan B. draußen machte.
Thiele ist wirklich sehr froh, dass der Attentäter auf die dickste Stelle der Tür geschossen hat, auf den äußeren Rahmen aus Eichenholz. Der Rahmen ist aus einem Stück gemacht. Er schoss auf die ganz rechte Seite, über und unter dem Schloss. „Der ist schwachsinnig vorgegangen, dilettantisch“, sagt Thiele. „Was für ein Glück.“Aber war es wirklich nur Glück? Es gibt Leute, die sagen: Sie, der Tischler, sind ein Held.
„Ich? Neeee“, sagt Thiele. Dann: „Das ist ja keine Wundertür. Das is’ eine Tür, wie sie ein guter Tischler baut. Keine Billigtür. Eine stabile, gute Holztür.“
Ja, ein bisschen stolz ist er schon. „Aber mehr auch nich’. Wirklich wahr.“
Ein anderer Tag im April. Auf einem alten Industrieareal in Dessau steht Thomas Thiele vor seiner Werkstatt und sieht vorsichtig in die Sonne. Es war nicht leicht, ihn auf dem Areal zu finden.
Lange war die Synagogentür von Halle ein Mysterium. Journalisten fragten sich, welche Geheimnisse sie wohl so stabil gemacht haben. Welche brillante, moderne Sicherheitstechnik das wohl möglich gemacht hat? War es das Können eines Geheimdienstes? Oder das Wissen einer Security-Firma?
Aber nein, die Tür kommt vom Tischler in der Nachbarstadt. Von einem, der in seinem Beruf wirklich gut ist. Der aber nicht so viel darüber spricht. Noch nie hat Thiele jemandem außer seiner Familie und seinen Freunden erzählt, dass er die Tür gebaut hat. Warum nicht?
Ach, sagt er. Er ist keiner, der hausieren geht mit so einer Geschichte. Und bis jetzt hat ihn einfach keiner gefragt.
Damals, am 9. Oktober, war er schockiert wie alle. Verstanden hat er die Sache erst, als ihn der Lebensgefährte seiner Schwiegermutter anrief, der bis vor Kurzem in der Nähe der Synagoge wohnte. Das ist doch deine Tür!
Stimmt ja, dachte Thomas Thiele. In dem Moment hat er sich gesagt: „Könnte echt sein, dass es meine Arbeit war, die diesen Vollhonk aufgehalten hat.“Er sagt, er hätte nie gedacht, dass es Leute wie diesen Attentäter gibt. Nicht hier, in Sachsen-Anhalt, wo es zwar auch Nazis gibt. Aber wo die meisten Leute auf jeden Fall in Ordnung sind, wie er findet.
Thiele ist ein freundlicher Mann. Seine Werkstatt liegt auf einem großen früheren Industrieareal. Hier gibt es viele Firmen, auch viele Handwerker. Thiele hat in einer der Hallen seine Tischlerei. Sie hat sechs Mitarbeiter: drei Gesellen, einen Lehrling, Thiele selbst, als Chef, und seine Frau, die die Büroarbeit macht.
Normalerweise hört Thiele von seiner Arbeit nur noch mal, wenn es ein Problem gibt. Wenn eine Treppe knarzt, nach Jahren, dann sind die Kunden plötzlich wieder da. Aber dass eine Arbeit mal in die Zeitung kommt?
An den Auftrag aus dem Jahr 2010 kann er sich noch sehr genau erinnern, an alle Details. Es war einer seiner ersten, nachdem er sich selbstständig gemacht hatte. Ein befreundeter Unternehmer, der Mitglied der Jüdischen Gemeinde ist, hatte ihn als Tischler empfohlen.
Eigentlich baut Thiele Möbel, Treppen, Haustüren. Aber wenn du mal an ein repräsentatives Objekt randarfst, an eine historische Rekonstruktion mitten in der Stadt: „Dann ist das schon was Besonderes. Dann machst du das.“
Wie die Tür aussehen musste, hat ihm damals der Denkmalschutz genau erklärt. Seit vielen Jahren war in der Außenmauer der Synagoge eine einfache Metalltür. 2010 aber sollte das historische Bild wiederhergestellt werden, nach Fotos aus dem Archiv. Ein schwerer Holzrahmen außen, schräg stehendes Holz in der Mitte. 110 mal 209 Zentimeter. Nicht einfach eine Haustür, wie man sie heute oft bekommt, billig zusammengedübelt. Sondern mit Schlitz-Zapfen-Verbindungen. Das heißt: Die Holzteile greifen ineinander wie Hände, die sich halten. „Das ist ’ne ganz andere Qualität. Ein ganz anderer Aufwand, ’ne ganz andere Langlebigkeit.“
So eine Tür, sagt Thiele, existiert meistens länger als der, der sie baut. 80, 100 Jahre, wenn man sie gut pflegt.
Die Sicherheit war gar nicht so wichtig. Wichtiger war das Aussehen. Von einem Attentäter redete damals niemand.
Wenn Thiele zu Privatleuten fährt, dann ist es oft genau das Gegenteil. Dann ist die Optik nicht so wichtig. Die Hausbesitzer wollen Sicherheit. Manche, findet er, sind sicherheitsfanatisch. Er hört
immer öfter von einem Problem von Feuerwehrleuten: Die können Menschen kaum aus ihren brennenden Wohnungen retten, weil sie die Türen nicht aufbekommen.
„Wenn ich eine Tür verkaufe, sage ich den Kunden: Überlegen Sie mal, ob Sie wirklich Fünffachverriegelung brauchen. Durch Ihre Haustür, frontal zur Straße, einsehbar für alle, wird ein Einbrecher nie kommen“, sagt Thiele. Er hatte schon Leute, die ließen sich die dickste Haustür einbauen. Und dann fuhren sie einkaufen und ließen die Terrassentür offen, um frische Luft hereinzulassen.
Ist das nicht Ironie, dass die Tür der Synagoge, bei der das Äußere wichtiger war als die Sicherheit, so gut hielt?
Sie hat einen Rahmen aus Eichenholz, der eine Sperrholzplatte trägt. Auf diese sind von beiden Seiten schräg stehende Lamellen geklebt, „aufgedoppelt“, sagt Thiele. Auch die Lamellen sind aus Eiche, befestigt mit wetterfestem, hitze- und feuchtigkeitsbeständigem
Polyurethanleim. „Für so eine Tür brauchst du gutes Holz“, sagt Thiele, Bretter von sechseinhalb Zentimetern, ohne Fehler im Holz. Die werden dann zurechtgesägt und -gehobelt und -gefräst. Am Ende ist der Rahmen immer noch fast 60 Millimeter dick. So dick muss er aber auch sein, findet Thiele, damit der Platz für das Schloss reicht.
„Durch das Verleimen, durch die Lamellen, die ganze Konstruktion kriegt das eine unheimliche Stabilität“, sagt Thiele. „Und ein enormes Gewicht.“Bestimmt 100 Kilo. Weil so eine Tür schwer ist, braucht sie eine stabile Aufhängung aus Stahl. Das sind die sogenannten Bänder, Laien würden Scharniere dazu sagen. Außerdem, klar, ein wirklich gutes Schloss.
Er fragt sich heute manchmal: Warum ist die Tür trotz des enormen Drucks, den die Schüsse definitiv ausgeübt haben, nicht aus dem Schloss gesprungen? „Letztlich“, sagt Thiele, „kann ich mir das nur durch zwei Sachen erklären. Erstens: dass das Eichenholz genau richtig war,
weil es ein festes Holz ist, das unheimlich viel Energie absorbiert hat. Zweitens: weil das Gewicht der Konstruktion dafür sorgte, dass sie nicht einfach aufspringt.“Na ja, und drittens ist der Täter zum Glück nicht strategisch vorgegangen.
In einem Bericht werden Polizeibeamte später dokumentieren, wie massiv die Tür war. Erst haben sie versucht, von der Rückseite der Tür aus eine Kugel herauszuholen, die noch im Holz steckte. „Die Beamten stellen jedoch fest, dass die Tür dicker und robuster als gedacht ist“, schreiben sie.
Max Privorozki, der Vorsteher der Jüdischen Gemeinde, hat dem Tischler gedankt, telefonisch, eine ganze Zeit nach dem 9. Oktober. Er hatte über die Jahre vergessen, wer ihm diese Tür gebaut hat. Dass es Thiele war. „Ich habe ihm gesagt, dass niemand je vorausgesehen hätte, dass die Tür, die er vor vielen Jahren gebaut hat, uns gerettet hat. Aber das hat sie. Wir sind froh darüber.“
Läuft man mit Thiele durch seine Tischlerei, trifft man im Erdgeschoss seine zweite Liebe. So nennt er sie, es ist eine CNC-Fräse, „und meine Frau sagt, ich bin nicht nur mit ihr, sondern auch mit der Fräse verheiratet“. Eine CNC-Fräse ist ein Monster, groß wie ein Auto. Man kann sie exakt programmieren, sie schneidet Teile jeder Art zu.
In einer Tischlerei sieht es heute nach einer Klinik für Holzartikel aus, mit einem OP-Saal für Schränke und Tische. Thiele gefällt das, einen traditionellen Beruf zu haben, aber sehr modern zu arbeiten. Handwerklich und trotzdem wie ein Chirurg. Schon als Kind hat er mit Holz gebastelt, Tischler wollte er schon immer werden, nur mit den Ausbildungsplätzen war das nicht so einfach in der Deutschen Demokratischen Republik. Die bekam man nur durch gute Beziehungen.
Sein Meisterstück ist ein Schreibtisch in U-Form, nach altmeisterlicher Art gebaut. Er baute ihn noch zu Hause in der Garage, „mit Furnier, mit Intarsie, mit Einlagen und allem, was dazugehört“. Die
Intarsie zeigt einen springenden Fisch. „Ich bin ja so ein Angelfreak“, sagt Thiele. Jedes Jahr fährt er dafür nach Norwegen.
Erkennen die Deutschen auch den Wert eines wirklich guten Tischlers?
Seit er sich selbstständig gemacht hat, vor zehn Jahren, gab es für Thiele alle Facetten des Berufslebens. Große Erfolge: In den ersten Jahren wurde seine Firma schnell viel größer. Aber auch eine Krise, er war fast bankrott. Er arbeitet nun am liebsten für Privatkunden. Minutenlang kann Thiele enthusiastisch über neue italienische Lederoberflächen sprechen, von besonderen Möbelgriffen, von Dekoren, die es bei Ikea nicht gibt. Weil der Kunde bei ihm alles haben kann, in sehr hoher Qualität. „Auch die ganz Ausgeflippten kommen bei mir auf ihre Kosten“, sagt Thiele.
Thiele weiß: Zufriedene Kunden bestellen wieder.
Immer wieder steigt er im Mai in seinen Lieferwagen und fährt die 50 Minuten von Dessau nach Halle: zu einem zufriedenen Kunden, der wieder bestellt hat.
Die Jüdische Gemeinde hat nach längerer Zeit entschieden. Die alte Tür soll als Kunstprojekt ausgestellt werden. Thiele soll eine neue bauen. Sie soll wie die alte aussehen. Aber ein bisschen anders wird sie schon sein. Innen wird viel Metall sein, von außen nicht zu sehen. Und wenn man den Schlüssel dreht, wird in Zukunft nicht mehr nur ein Bolzen die Tür halten, sondern ein paar mehr Bolzen: an mehreren Stellen, von ganz unten bis ganz oben.
Eines Nachmittags, Thiele ist gerade auf dem Areal der Jüdischen Gemeinde, um seine Arbeit vorzubereiten, kommt Privorozki dazu, der Gemeindevorsteher. Ein Mann, der nicht sehr viel spricht. Wie Thiele. Auf dem Bürgersteig stehen sie sich einen Moment gegenüber: Privorozki, der mit seiner Gemeinde fast gestorben wäre, und Thiele, dessen Tür sie geschützt hat. Einen Moment schauen sie sich an. Sie nicken sich zu.
Und gehen auseinander, vielleicht weil Worte auch nicht mehr sagen könnten.