Sprechen Sie Corona?
Vor einem halben Jahr gab es die ersten Corona-Kranken in Deutschland. Seit dieser Zeit hat die Pandemie nicht nur den Alltag radikal verändert. Sie hat auch viele neue Wörter gebracht.
Was wird sprachlich von Corona bleiben? Von Claudia May
Einen Boom hat die Corona-Krise nicht vielen Institutionen gebracht. Sicher hatten ein paar Hersteller von Desinfektionsmitteln sehr viel zu tun. Oder die eine Firma, die noch schnell viele medizinische Masken importiert hat. Aber es gibt noch einen klaren Profiteur der Pandemie, an den kaum jemand denkt: das Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim.
Annette Klosa-Kückelhaus leitet in dem Institut den Programmbereich Lexikografie und Sprachdokumentation. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben: Neologismen finden. Schon seit 1991 dokumentiert das IDS Wörter, die neu sind in der deutschen Sprache (siehe Deutsch perfekt 2/2018). Jeden Tag suchen Computer des Instituts in sehr vielen Texten nach Neologismen. Oder Menschen wie Klosa-Kückelhaus und ihr Team finden beim Lesen ein neues Wort. Oft geben auch Freunde, Bekannte und Kollegen Tipps.
Die Corona-Virus ist da wie eine Goldader. „Ich habe vor- her noch nie eine Zeit erlebt, in der sich bei den Neologis- men so viel tut“, sagt sie. „Wir finden fast jeden Tag neue Wörter.“Die Wissenschaftlerin weiß: Außergewöhnliche Ereignisse prägen die Sprache. So gab es nach dem Fall der Mauer 1989 plötzlich Vokabeln wie Wossi (eine Person aus Westdeutschland, die nach Ostdeutschland umgezogen ist).Und ab 2001 fand nach den Anschlägen in den USA ein Anti-Terror-Krieg (militärische Aktion der USA und anderer gegen al- Qaida, die Taliban und bestimmte Staaten) statt.
Da ist es nur logisch, dass eine Pandemie extrem viele neue Wörter bringt. Die deutsche Sprache ist dabei besonders flexibel. Durch die Kombination bekannter Wörter können nämlich schnell neue (und wie jeder Lernende weiß: auch ziemlich lange!) Komposita entstehen. Mit dieser Möglichkeit spielen die Deutschen besonders gern. Aber nicht jedes neue Kompositum ist auch ein Neologismus. „Typisch für einen Neologismus ist Kreativität“, sagt die 54-Jährige.
So wird zwar jetzt das Kompositum Besuchsverbot sehr oft benutzt. Aber neu ist dieser Begriff natürlich nicht, und das Wort versteht jeder. Anders ist es bei Corona-Krise, dem aktuell dominierenden Neologismus. Dazu muss man wissen: Das Wort Corona hat in der aktuellen Situation eine neue Bedeutung bekommen. „Eigentlich ist Corona der Name für eine Gruppe von Viren“, erklärt die Sprachexpertin. „Jetzt bezeichnen die Leute damit das Virus SARS-CoV-2, die Infektionskrankheit COVID-19 und auch die aktuelle Pandemie.“
Das bringt viele Möglichkeiten für einen kreativen Sprachgebrauch. Neben der Corona-Krise gibt es zum Beispiel die Corona-Frisur, die das IDS so definiert: „Durch die Schließung der Friseurgeschäfte während der COVID-19-Pandemie herausgewachsener bzw. durch unprofessionelles Schneiden verunstalteter Haarschnitt“. Zusammengefasst lässt sich sagen: Besonders der männliche Teil der Menschen in Deutschland sah nach einigen Wochen geschlossener Friseurläden oft lustig aus.
Bekannt sind vielen Leuten sicher auch die Corona-Kilos. Damit ist kein schweres Virus gemeint, sondern „durch Bewegungsmangel, Langeweile, Stress usw. während der COVID-19-Pandemie zugenommenes Körpergewicht“.
Ob viele Menschen diese beiden Neologismen auch noch nach der Pandemie benutzen werden? Wahrscheinlich nicht. Friseurbesuche waren in Deutschland nach wenigen Wochen wieder erlaubt. Und ein paar Kilos sind meistens auch wieder schnell weg.
Bessere Chancen hat da die Corona-Party. Für Sprachwissenschaftler ist dieser Neologismus besonders interessant. „Bisher bezeichnete die Kombination aus Krankheit und Party immer eine Veranstaltung, bei der sich Kinder bewusst anstecken sollen“, sagt Klosa-Kückelhaus. „Denken Sie zum Beispiel an die Masern-Partys.“Bei der Corona-Party ist das anders. Dort will sich niemand anstecken. Die Feier ist eine Form von Protest.
Die Pandemie ist für jeden Neologismensammler ein
Eldorado.
„Vielleicht ist das die Vorlage für ein neues Wortbildungsmuster: Party, die man der Krankheit X zum Trotz veranstaltet und besucht“, sagt die Wissenschaftlerin. Auch ein anderer Neologismus hat nach Meinung der Expertin Chancen auf seinen Platz im Alltag: die Online-Demo. „Weil Protest auf der Straße nicht möglich war, fand er im Internet statt“, erklärt sie. „Vielleicht bleibt diese Form der Meinungsäußerung weiter erhalten.“
Vielleicht aber auch nicht. Und wäre die Online-Demo dann komplett weg? „Es ist ganz schwer zu sagen, wann ein Wort wirklich tot ist“, sagt Klosa-Kückelhaus. Denn wenn Muttersprachler zum Beispiel über das Mittelalter reden, benutzen sie plötzlich wieder alte Wörter. Dann trainiert der Knappe mit dem Pferd – und die Edeldame schaut ihm dabei zu.
Auch durch die Corona-Krise sind fast vergessene Wörter plötzlich wieder alltäglich. Zum Beispiel die Triage. Das französische Wort ist seit den Napoleonischen Kriegen bekannt und beschreibt die Methode, Patienten selektiv oder mit Priorität zu helfen. Es ist eigentlich eine alte medizinische Vokabel aus der Fachsprache, so wie auch der Index-Patient. Also die Person, bei der die Infektionswelle angefangen hat.
Andere Wörter hören sich zwar neu an – sind es aber nicht. So steht Geisterspiel (Spiel ohne Publikum) schon lange im Duden-Wörterbuch. Aber: Vor Kurzem ist noch eine neue Erklärung dazugekommen. Früher fanden Geisterspiele nur als Sanktion gegen einen Verein oder seine Fans statt. Heute auch „zur Abwendung einer Gefahr für die Öffentlichkeit“.
Besonders kreativ findet Klosa-Kückelhaus Wörter wie Infodemie, eine Kombination aus Information und Pandemie. Die Infodemie steht für eine wachsende Zahl von Falschnachrichten, aber auch für zu viele Informationen insgesamt. Premiere hatte das neue Wort in einer Pressemitteilung der Weltgesundheitsorganisation am 2. Februar dieses Jahres – natürlich auf Englisch. Deutsche Journalisten haben aus infodemic dann Infodemie gemacht.
Viele andere Begriffe aus dem Englischen hat niemand übersetzt. Sie haben als Anglizismen ihren Platz im Corona-Alltag gefunden: Lockdown (Verbot von fast allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten), Social Distancing (physisches Abstandhalten der Menschen voneinander), Zoom-Bombing (absichtliche Störung von Videokonferenzen mit dem System Zoom).
Und dann gibt es Neologismen, die wirklich sehr deutsch sind. Ein Beispiel hat dafür Bundeskanzlerin Angela Merkel am 20. April bekannt gemacht. Bei einer Diskussion sprach sie von einer Öffnungs diskussionsorgie. Die Kanzlerin wollte mit der Kombination aus Öffnung + Diskussion + Orgie ihre Kritik an den geplanten Lockerungen der Maßnahmen in vielen Teilen Deutschlands klarmachen.
Und welchen neuen Begriff findet die Sprachexpertin besonders schön? „Das ist der Hygienehaken“, sagt Klosa-Kückelhaus und lacht. „Das ist ein Haken aus Plastik, mit dem man zum Beispiel einen Einkaufswagen schieben oder auch die Tür öffnen kann.“Auch die Hustenhygiene (Maßnahmen, die die Ausbreitung von Infektionskrankheiten durch Husten bremsen sollen) ist einer ihrer Favoriten. „Sprachlich innovativ ist auch das Kreativsemester. Das ist eine Bezeichnung für das Studienhalbjahr während der Pandemie und hört sich wirklich viel positiver an als Nullsemester“, sagt sie.
Bleiben diese Wörter nach dem Coronexit, in der Post- Corona-Zeit? „Es wird sich sicher vieles weiterentwickeln“, glaubt die Neologismen-Sammlerin. „Sprache reagiert immer flexibel auf die Situation. Vielleicht gibt es deshalb bald nicht nur den Distanzbesuch, sondern auch die Distanzferien?“Also neben dem Treffen von Freunden mit Abstandhalten auch eine Urlaubsreise mit diesen Normen.
Eins ist sicher: Die Sprecher einer Sprache entscheiden, welche Neologismen ihren Platz im Alltag finden – und ob sie dort bleiben. Denn sie sind es, die mit ihr spielen dürfen. Und dabei ist auch während einer Pandemie alles erlaubt.
Fast vergessene Wörter sind durch die Krise plötzlich wieder
alltäglich.
Sie kochen Kartoffeln und zerdrücken sie. Dann mischen Sie sie mit Milch, Salz und Muskatnuss. Was haben Sie gekocht? Die Antwort auf diese Frage wird nicht immer die gleiche sein. Nicht nur, weil die meisten Leute das Gericht nicht mehr frisch kochen. Sondern auch, weil die Kartoffel nicht überall Kartoffel heißt. In Österreich, Teilen der Schweiz und wenigen süddeutschen Regionen sagen die Leute lieber Erdapfel. In Westdeutschland und im Süden von Bayern heißt das Gericht oft Kartoffelpüree. In Österreich ist Erdäpfelpüree aber bekannter. Das Wort Püree kommt aus dem Französischen. Man benutzt es auch in Luxemburg oder im Elsass. In großen
Teilen Deutschlands ist aber der Ausdruck Kartoffelbrei
normal – von Bremen bis Nürnberg und von Freiburg bis Berlin kennen die meisten Leute dieses Wort. Immer weniger populär sind die Wörter Mus und Kartoffelmus. Manche Menschen in Schleswig-Holstein und in Sachsen benutzen diese Form noch. Aber vor 50 Jahren waren es noch viel mehr. Im deutschen Nordwesten und speziell im deutschen Nordosten gibt es noch eine Variante: Stampfkartoffeln. Das ist heute in Mecklenburg-Vorpommern die dominante Form. Wieder anders ist es in der Schweiz: Die Einwohner der Alpenrepublik sagen am liebsten Kartoffelstock oder nur Stocki.