Deutschlands Tor zur Welt
Der Hafen hat Hamburg zur Weltstadt gemacht. Heute fahren extrem große Schiffe über die Elbe zu den hypermodernen Containerterminals. Wer fährt sie? Wer holt die Waren vom Schiff? Und wer hat die Kontrolle? Aus dem Inneren einer gigantischen Maschine.
Der Hafen hat Hamburg zur Weltstadt gemacht. Heute fahren Containerschiffe zu modernen Terminals. Wie funktioniert das alles? Aus dem Inneren einer gigantischen Maschine.
Ach, wie war das früher im Hafen! Die Menschen träumten vom Meer da draußen. Durchs Tor zur Welt schickten sie ihre Sehnsüchte. Und sie waren neugierig, was zu ihnen kam. Kisten, Menschen, Versprechen von Glück und Erfolg. Das war der Hafen der Muskelkraft.
Und jetzt?
400 Meter lange Containerschiffe, die bis zu 20 000 Stahlkisten transportieren.
Was passiert im Hafen Hamburg, dem drittgrößten Europas? Was tun sie, die dort arbeiten, an den Kaimauern, auf den Schiffen, in den Leitzentralen, unter den Brücken? Was schaffen und bewegen sie dort, von Millionen Hafentouristen unbemerkt und ungesehen? Kann ein Hafen noch zum Träumen einladen?
Die Container
Die Moderne im Hamburger Hafen begann am 31. Mai 1968. An diesem Tag legte die American Lancer an. Es war das erste
Schiff, das seine gesamte Ladung in Containern an Bord hatte: in sechs Meter langen, 2,44 Meter breiten, 2,59 Meter hohen genormten Boxen aus Stahl. Sie haben extrem schnell die komplette Schifffahrt revolutioniert. So auch in Hamburg, wo 2002 das wahrscheinlich bis heute modernste Terminal der Welt entstand, das Container-Terminal Altenwerder (CTA).
An der Kaimauer des CTA stehen 15 Brückenkrane, 80 Meter hoch. Sie können Container aus 60 Meter breiten Schiffen holen. Menschen sitzen noch in den Kontrollkabinen der Brücken. Menschen, die Festmacher, kommen noch, per Funk bestellt, um die Leinen festzumachen. Menschen klettern noch durch die Schiffe, um die Container zu arretieren.
Der größte Teil des Areals aber ist für Menschen tabu, weil dort ungefähr 100 autonom fahrende Lastwagen unterwegs sind. Sie holen die Container mithilfe von Lasersensoren unter den Brücken ab. Dann transportieren sie sie in Richtung der Bahngleise. Dort kommen die
Container auf Züge, von denen täglich bis zu 200 nach Bayern fahren, nach Prag und nach Budapest, nach Italien, in die Türkei und bis China.
Im Leitstand des CTA sitzen Männer vor 60 Monitoren; der Computer ist raumgroß. 1000 Tonnen Ladung an Land zu bringen dauerte bei der Cap San Diego vor 50 Jahren noch einen Tag, heute nur noch zehn Minuten.
Masse, Schnelligkeit, Koordination
Richtiges Beladen ist wichtig. 2013 brach im Arabischen Meer die 316 Meter lange
MOL Comfort auseinander. Die 26 Mann auf dem Schiff konnten sich retten. Die Wellen waren nur sechs Meter hoch, als das Unglück passierte. Ein Konstruktionsfehler? Oder eine falsche Beladung mit den über 4000 Containern?
Die Frage der Beladung beschäftigt jeden Tag auch die Schiffsplaner am CTA Hamburg: Welcher der bis zu 14 000 Container, den ein Schiff am CTA laden kann, ist von welchem Kran wann wohin zu bringen?
Die schwierigere Frage: Welcher Container mit welchem Gewicht muss wo in der Bay eines Schiffes versenkt werden? Die schweren mit den Maschinenteilen unten, die leichten mit den Kinderdecken oben? Außerdem: Stimmen die Gewichtsangaben für den Containerinhalt?
Was muss wohin, damit es in welchem nächsten Hafen einfach zu greifen ist? Wie ist es mit den Containern, die wegen Tropenpflanzen beheizt werden müssen? Wie ist der Container mit Zwiebeln wegen seiner Gasentwicklung von den anderen zu trennen? Und wo ist der Container mit dem Uranpulver aus Japan?
Die „Schiffsplaner“am CTA müssen, wie einer von ihnen sagt, jeden Tag „Tetris für Erwachsene spielen“. Sonst fällt irgendwo eine Fracht in die See.
Die Wärme
„Oiler“, die mit den Ölkannen an den 110 000-PS-Maschinen; „Fitter und Repairer“, die mit dem großen Werkzeug unter Deck; „Wiper“, die saubermachen: Warum kommen sie fast alle von den Philippinen?
Weil sie christlich sind. Weil sie Allesesser sind. Weil sie unsere Schriftzeichen verstehen. Das ist alles praktisch auf Schiffen, die unter dem Kommando internationaler Reedereien fahren. „Und weil sie leidensfähig sind“, sagt Jan Oltmanns. Er ist ihr Freund, ihr Herbergsvater. Die Herberge: der Seemanns-Klub Duckdalben. Der Name kommt von den Pfählen in der Mitte des Stroms, an denen manchmal Schiffe festmachen, für die es gerade keinen Auftrag gibt.
Oltmanns ist Diakon der Seemannsmission. Die Haare trägt er noch lang. Seinen Tabak rollt er noch selber. Und er denkt nicht, dass man über den Visionen vom hypermodernen Hafen der Zukunft die Arbeiter vergessen könnte: die Filipinos, Chinesen, Inder, Ukrainer, Russen. 2019 sind fast 33 000 Seeleute aus 103 Ländern in den Duckdalben gekommen: Sie werden mit Kleinbussen von den rund 300 Liegeplätzen im Hafen geholt, meistens von einem der vier Container-Terminals, und spätestens um 22 Uhr wieder dorthin zurückgebracht.
Betten gibt es im Duckdalben nicht. Er ist ein Asyl für ein paar Stunden. An der Wand hängen Rettungsringe, Fotos müde aussehender Decksleute und Schiffselektriker, Danksagungen und viele Bilder mit fremden Landschaften.
Es ist, als würde die Herberge mit ihren vielen Souvenirs zu einer Oase, von denen es da draußen in der Heavy-Metal-Landschaft des Hamburger Hafens keine mehr gibt. Und im ersten Stock ist „der friedlichste Ort der Welt“, wie jemand in das Gästebuch geschrieben hat: der „Raum der Stille“mit offener Tür, darin nebeneinander Gebetsecken für alle großen Weltreligionen und viele kleine, auch für Sikhs und Daoisten.
Dass trotz der kürzeren Liegezeiten der Schiffe so viele kommen, 2018 war es der einmillionste Seemann: Oltmanns sieht den Grund dafür in der „Verarmung des sozialen Lebens an Bord“. Seit der Terrorattacke auf das World Trade Center in New York dürfen immer weniger Menschen auf die Schiffe. Die fliegenden Händler und die Prostituierten erreichen die Seemänner nicht mehr.
Die Zentrale
Das Wasser ist ein Problem. Es fließt nicht immer tief genug, nicht überall breit genug. Es ist zu schlammig, bleibt nur selten ruhig. „Deutschlands größter Seehafen“ist in Wahrheit ein Binnenhafen am Fluss, trotzdem gibt es dort Ebbe und Flut. Im Durchschnitt sinkt und steigt das Wasser um 3,66 Meter.
Das ist noch nicht alles. Auf den 145 Kilometern von der Elbmündung bis nach Hamburg dürfen sich keine Schiffe begegnen, die breiter als 90 Meter sind. Nicht also zwei Schiffe, die durch die Straße von Malakka fahren können, durch den Panama- oder Suezkanal. Keine zwei Ultra Large Vessels, wie sie für die Hafenwirtschaft so wichtig sind.
Das macht die Arbeit in den Verkehrsleitzentralen des Hafens speziell, beim Hafenkapitän, bei den Hafenlotsen: Welches Schiff darf wann kommen? Welches muss in der Deutschen Bucht warten, muss vielleicht schon ab Gibraltar seine Geschwindigkeit reduzieren? Und welches Schiff darf wann ablegen, um auf der Elbe bei Flut sicher bis zum Meer fahren zu können?
Nur zweimal am Tag öffnet sich für eine halbe bis zwei Stunden ein Zeitfenster. Dann beruhigt sich das Wasser so sehr, dass ein 180 000 Tonnen schweres Schiff in ein Hafenbecken manövriert werden kann. Wo ist dann der komplette andere Schiffsverkehr zu stoppen? Und wie ist auf die aktuellen Windstärken zu reagieren, wenn der Wind von der Seite auf 18 000 Quadratmeter Stahl trifft?
Hafenkapitän Jörg Pollmann hat eine 6,5 mal 2,5 Meter große Videowand und
interaktive Peiltische, um das alles zu beobachten. Radarstationen, bewegliche Videokameras und UKW-Kontakte helfen ihm und den 30 Angestellten. Vor drei Monitorreihen sitzen sie. Ab Windstärke sieben gibt es von Pollmann „Großschiff-Stopps“, jeden Winter passiert das drei- bis viermal. Dann halten auch zehn Schlepper ein Containerschiff nicht mehr. Und bei Nebel haben Tanker Fahrverbot.
Pollmann verbietet Schiffen das Auslaufen, wenn ihm technische Probleme mitgeteilt werden („drei- bis viermal im Monat“). Im Extremfall kommt ein afrikanisches Schiff deshalb zweieinhalb Jahre lang nicht aus Hamburg weg. Trotzdem müssen die Reeder froh sein: Pollmann garantiert guten Umgang mit ihren Sachen. Die Kosten eines Schiffes, Fracht und Treibstoff zusammen sind oft eine halbe Milliarde Euro wert. 500-Millionen-Euro-Schiffe, die die Elbe heraufkommen!
Tim Grandorff ist einer der beiden Chefs der Hamburger Hafenlotsen. Das sind ungefähr 80 Selbstständige, die moderne Informationssysteme benutzen, sich siebenmal pro Jahr fortbilden. Dazu Hör-, Seh- und Fitness-Tests, um über Außenleitern auf die Schiffe zu kommen.
An Bord stehen sie auf der Brücke neben dem Kapitän aus Singapur, neben dem ägyptischen Rudergänger und mit Sprechkontakt zum Iraker in der Maschine. Dann müssen Grandorff und seine Lotsen kommandieren, wie ein 180 000-Tonner an die Kaimauer zu bringen ist. Ungefähr 50 000 Mal im Jahr, immer so vorsichtig, dass sowohl die Mauern als auch die Schiffe ganz bleiben.
Die Aufpasser
Wenn der Kaffee Kaffee ist, die Spielsachen aus Shanghai nur einfach Metall, wenn Kreuzfahrttouristen kein Tiger-Penis-Pulver mitbringen: Dann ist alles gut. Zwischen 8000 und 9000 Seeschiffe laufen Hamburg in jedem Jahr an. Fast fünf Millionen Container bringen sie dabei mit. Vor Corona kamen auch circa 800 000 Kreuzfahrttouristen. Und wenn in den Autoreifen Zigaretten kommen oder zwei Millionen gefälschte Markensportschuhe in 200 Containern: Dann ist das ein Job für den Zoll.
Nur: Wie finden, was da alles unerlaubt gebracht wird? Es geht nicht um kleine Dinge. Mit dem Verkauf von 3,8 Tonnen Kokain, 2017 gefunden, hätte die Stadt einen großen Teil der 800 Millionen teuren Elbphilharmonie finanzieren können. Also patroulliert der Zoll mit Schnellbooten im Hafen. Mit Wärmebildkameras, um auch nachts sehen zu können, was er nicht sehen soll. Kokain wird manchmal in die Elbe geworfen und dann per Sportboot in irgendein Versteck gebracht.
Detaillierte Risikoanalysen helfen den Zöllnern. Zum Beispiel, wenn die Fracht eines Schiffes aus Curaçao als Elektroschrott deklariert ist. Elektroschrott aus der Karibik für Deutschland! So blöd wird nur selten gelogen. 700 Kilogramm Rauschgift waren an Bord.
Aus einem Drittel Hinweisen, einem Drittel Erfahrung und einem Drittel Intuition sind die Analysen des Zolls gemacht. Die Hinweise kommen zum Beispiel vom Maritimen Sicherheitszentrum in Cuxhaven, das Schiffe auf Basis von Ampelfarben klassifiziert. Ein Schiff aus Cartagena, Kolumbien, noch nicht aus jahrelangem Linienverkehr bekannt, mit seltsam großen Containern für die deklarierte Fracht: ein „Rotschiff“.
Die großen Coups gelingen in der Containerprüfanlage am Hauptzollamt Waltershof: ein Röntgentunnel mit 2,5 Meter dicken Wänden und 16 Tonnen schweren Strahlenschutztoren, Zutritt verboten für „lebende Wirbeltiere“. Die Fahrer also müssen aussteigen, wenn sie ihren Truck mit dem Container in die Anlage gesteuert haben. Die Fracht wird mit zehn Megaelektronenvolt, 50-mal so stark wie der Gepäckscanner am Flughafen, kontrolliert.
Besonders schlimm, sagt Pascal Eimert, Chef der Anlage, „sind Umzugscontainer“. Trotzdem hat sein Team die Waffe gefunden, zwischen den vielen Umrissen von Elektrogeräten, Weinflaschen, Möbeln, mit der eine Familie in die neue Heimat wollte.
Zwischen dem ersten Scan der Anlage 1996 und Anfang 2018, bei ungefähr
500 000 Kontrollen, wurden zum Beispiel 1,5 Milliarden unverzollte Zigaretten gefunden. Dem Handel und den deutschen Steuerkassen hätten zusammengerechnet über eine Milliarde Euro gefehlt.
Die Gefahr
Aromastoffe für die Produktion von Badezusätzen: Gefahrgut. Lithium-Ionen-Akkus: Gefahrgut. Ein Container voller Tischtennisbälle: Gefahrgut; sie entwickeln, in der Masse, ein Gas. Fast 200 000 Container mit potenziell explosiver, ätzender, giftiger, leicht radioaktiver Ware werden jedes Jahr im Hamburger Hafen bewegt, fast 5000 davon kontrolliert die Wasserschutzpolizei.
„Das Problem ist, dass wir Unsichtbares aufspüren müssen“, sagt Torsten Wrobel. Und das in einem Revier, in dem auch 520 Männer und Frauen etwas verloren wirken. Teil des Areals sind auch die fast 200 Elbkilometer bis zur Deutschen Bucht, dazu über 200 Kilometer Gleise im Hafen, 130 Kilometer Straßen.
Weniger geworden sind nur die „blinden Passagiere“. Seit 2002 müssen international auf Schiffen und in Hafenanlagen Gangway-Wachen stehen und die Terminals hinter den Kaimauern stark gesichert sein. Das macht Fluchten im Geheimen fast unmöglich. Ein bis zwei waren es früher pro Woche, jetzt sind es maximal zwei im Jahr. Manchmal finden sie einen toten Mann.
Wichtiger ist da schon der illegale Export von Elektroschrott; Routine-Kontrolle mit Dirk Schwarz an einem Morgen auf dem O’Swaldkai. Ein Terminal, an dem auch Holz und Schwergut umgeladen werden. Schwarz und seinen Kollegen interessiert der Parkplatz des Terminals, an dem die ConRos und RoRos festmachen. Das sind Schiffe, die Container und rollendes Material transportieren können oder ganz wie Autofähren sind: roll on, roll off. Jedes Jahr gehen von Hamburg ungefähr 80000 Fahrzeuge weg, die auf deutschen Straßen nicht mehr fahren dürfen. Aber afrikanische Ämter lassen sie noch fahren.
Schwarz prüft an einem weißen Kia Sportage, der zu einer Marie Outaiba in
Mesin, Türkei, transportiert werden soll, ob er nicht vielleicht in Skandinavien gestohlen wurde. So etwas, sagt er, ist aber nur ihr „Beifang“. Wenn sie durch die Fenster von VW-Bussen TV-Geräte sehen, die garantiert nicht mehr funktionieren, dann holen Schwarz und sein Kollege den Absender zum Terminal: zum Auspacken der Ladung.
Am Ergebnis sehen sie die inoffiziellen Spielregeln der Globalisierung: Was in Bremen niemand mehr will, kommt nach Freetown, Sierra Leone, nach Lagos oder Cotonou in Benin. Eine alte S-Klasse von Mercedes zum Beispiel wird in Beirut wieder zum Statussymbol.
Die Brücke
„Wir wollen zum lieben Gott, da ist es warm, deshalb haben wir keine Schuhe an.“Der fünfjährige Junge, der das sagte, saß auf dem Schoß seiner lebensmüden Mutter. Die Mutter wollte mit ihm in die Tiefe springen, so wie es seit Eröffnung der Köhlbrandbrücke vor 46 Jahren mehr als 60 Menschen getan haben. Einer jungen Polizistin und ihrem Kollegen gelang es, mit der Mutter zu reden, sie und das Kind zu retten. Es war eine Nacht im Dezember. Bei der Polizei wird das in Erinnerung bleiben.
Die Köhlbrandbrücke ist die zweitlängste Straßenbrücke Deutschlands, mehr als 3,6 Kilometer lang, 135 Meter hoch sind ihre Pylone. Ihren Sicherheitstest bestand die Konstruktion bei einem nächtlichen Konvoi von 58 Lastwagen, die 2300 Tonnen Gewicht über die Brücke fuhren. Aber schon zweieinhalb Jahre später zeigten Roboter-Messgeräte Rost an manchen der 88 Trageseile. Seit 2012 dürfen Trucks nicht mehr überholen. An mehr als 100 000 Stellen der Brücke musste inzwischen etwas getan werden.
Vor allem aber ist die Köhlbrandbrücke eine Grenze für Schiffe, die mehr als 14 000 Container bringen. Größere kommen nicht unter ihr durch – und damit, schlecht für den Hafen, nicht zum Container-Terminal Altenwerder.
Eines der Hamburger Wahrzeichen ist zum Problem geworden. Die wichtigste Straßenverbindung im Hafen – 37 000