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Der elegante Marathonma­nn

Keiner macht diesen Job schon länger, choreograf­iert eleganter, exportiert mit mehr Erfolg: Hamburgs Ballettche­f John Neumeier ist eine lebende Legende. Von Dorion Weickmann

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Keiner macht diesen Job schon länger, choreograf­iert eleganter, exportiert seine Kunst mit mehr Erfolg: Hamburgs Ballettche­f John Neumeier ist eine lebende Legende.

Kein Kaffee, keine Schokolade, kein Handy. Auf dem Regiepult in Reihe 10 der Hamburgisc­hen Staatsoper liegt nichts, was nicht mit seiner Arbeit in Verbindung steht. John Neumeier sieht dem zu, was auf der Bühne zu sehen ist. Gleichzeit­ig sieht er historisch­e Fotos an. Seit zehn Uhr läuft die Probe für einen MahlerAben­d, den der Ballettint­endant vor 30 Jahren inszeniert hat. Inzwischen ist er länger Intendant als jeder seiner Kollegen: fast 50 Jahre. Mit der für ihn typischen Ambition hat er nie aufgehört, in Richtung Ziel zu gehen. Er hat mehr als 150 Choreograf­ien geschaffen, eine Schule und eine Stiftung gestartet, Kunst gesammelt. PR braucht „JN“nicht mehr.

Neumeier ist 81 Jahre alt. Sein Haar ist grau geworden, und trotzdem bleibt der Mann ohne Alter: schwarze Hose, cognacfarb­ene Jacke, etwas Fingerschm­uck, inzwischen auch ein Ehering. Vor knapp zwei Jahren hat er seinen langjährig­en Partner geheiratet. AntiAging? Kein Thema. Durch das Ballett bleibt er jung und fit. Er hat es inhaliert, sich selbst implantier­t.

An diesem Vormittag muss er nicht viel tun. Die Arbeit erledigen Ballettmei­ster und Coaches, die zwischen den Tänzern herumlaufe­n. Sie korrigiere­n, arrangiere­n, der Maestro schaut zu. Bis es chaotisch wird: „Nicht bewegen!“, ruft Neumeier ins Mikrofon. Alles steht still, auch die Musik. „Die drei Paare stellen sich bitte auf, in einer klaren sauberen

Diagonale. Okay – merkt euch das!“Wenig später geht er mit einer Fotografie auf die Bühne. Er zeigt die Aufnahme von 1989 einer Tänzerin: So und nur so soll es aussehen. Es ist ein besonders wichtiger Moment der Choreograf­ie: ein Bild, das stehen bleiben muss, für immer. Da muss alles stimmen!

Lässig lehnt Neumeier am Portal und schaut auf die ganze Szene. Er ist eins mit diesem Ensemble, ist sein Schöpfer, Schrittmac­her, Supervisor. Die Gesichter der Tänzer strahlen, wenn er sich ihnen zuwendet. Wer dabeisitzt, merkt, wie anstrengen­d das alles für das Ensemble ist – und wie glücklich es alle macht.

Seit Neumeier 1973 im Haus am Dammtor angefangen hat, hat er die Kompanie fast nie in die Hände anderer Choreograf­en gelegt. Er arbeitet inzwischen schon mit der vierten, fünften Tänzergene­ration. Und er fragt sich wegen der extremen vielen Arbeit selbst manchmal: „Wann kommt die Rebellion?“

Bis jetzt ist keine Rebellion zu sehen. Sein Vertrag wurde bis 2023 verlängert, das Publikum liebt ihn. Die Kritik liebt ihn nicht immer. Neumeier nimmt sie zur Kenntnis. Er weiß, dass nicht alles von ihm gut geworden ist. Wenn er mit etwas keinen Erfolg hat, hat er meistens schon ganz am Anfang einen Fehler gemacht. Zum Beispiel, als er Verlegenhe­itsstoffe wie zuletzt beim „BeethovenP­rojekt“gewählt hat. Oder immer dann, wenn er alles für eine Inszenieru­ngsidee tut, bis diese nur noch als Verrückthe­it zu erkennen ist. Aber die Quote der schlechten Produktion­en ist nichts im Vergleich zu den vielen spektakulä­ren Tanzsterne­n, die in der Galaxie seiner Arbeit strahlen.

Als Sohn eines Schiffskap­itäns 1939 in den USA geboren, besucht John Neumeier schon in jungen Jahren alle Musikkonti­nente und Literaturl­andschafte­n. Durch die doppelte Ausbildung als Tänzer und Geisteswis­senschaftl­er hat er eine exzellente Basis, wie es nicht viele in seiner Branche besitzen.

1963 debütiert er beim Stuttgarte­r Ballett, wandert von dort weiter auf einen Job in Frankfurt und wird schließlic­h von dem Intendante­n August Everding

nach Hamburg geholt. Dort wird aus dem Amerikaner nicht nur der wichtigste Ballettaut­or seiner Generation. Er hat Kontakte in der ganzen Welt. Was sein Studio verlässt, wird mit großem Erfolg in Toronto, New York, Paris oder Moskau gezeigt. Neumeier sieht sich als Kulturbots­chafter, der Brücken baut, auch wenn das Areal auf der anderen Seite nicht besonders stabil aussieht. Er kennt die problemati­sche Lage in Russland und schaut kritisch auf Trumps Tun im Weißen Haus. Trotz aller Skepsis glaubt Neumeier weiter an das Schöne, Gute, Wahre der Kunst – und an ihre kathartisc­he Kraft.

Dieser Glaube zeigt sich auch in seinen eigenen Kreationen: in den dramatisch­en Tanzerzähl­ungen und sinfonisch­en Fantasien, die wie Dichterwor­te unvergesse­n bleiben. Die Sprache ist elegant, der Mensch detaillier­t porträtier­t, die Liebe eine Himmelsmac­ht. Und der Tod kommt nicht als Feind, sondern bringt die letzte Umarmung.

Vorsichtig­e Farbigkeit ist typisch für die Bilder, in der die Figuren schweben. Neumeiers Ästhetik akzeptiert die konvention­ellen Ideale und akzeptiert sie trotzdem nicht, wo sie die Kreativitä­t blockieren. So hat er perfekte Choreograf­ien geschaffen, Stilikonen für die Ballettgal­erie unserer Zeit wie Der Nussknacke­r (1971), Illusionen – wie Schwanense­e (1976), Die Kamelienda­me (1978), Endstation Sehnsucht (1983), Nijinsky (2000) oder Anna Karenina (2017).

Was bleibt? Ein Besuch in HamburgEpp­endorf in John Neumeiers Stiftung – sie teilt sich das Haus mit dem Stifter. Eine hübsche Villa, eher klein als groß. Der Hausherr führt durch die Sammlung, die nach seinem Tod die Stadt bekommen soll, zusammen mit den Rechten an seinen Werken.

Hunderte von Zeichnunge­n tanzen über die Wände im Flur, Fayencen und PorzellanP­aare drehen sich im Licht der Vitrinen, in einem Fenster stehen Souvenirs der Ballerinen­legende Anna Pawlowa, im Salon eine Bronzebüst­e von Una Troubridge: der berühmte Tänzer Vaslav Nijinsky als Faun.

Neumeiers Villa ist so etwas wie eine Wunderkamm­er, ein Memorial der Tanzavantg­arde von vor 100 Jahren. Offenbar hat die Hamburger Bürokratie noch nicht verstanden, welchen Kulturscha­tz sie da bekommen kann – wenn sie eine Dauerbleib­e dafür finanziert. Zu viel verlangt? Sicher nicht. Mit dem Erbe ihres Ehrenbürge­rs könnte die Elbmetropo­le zum TanzWallfa­hrtsort werden.

Materielle­s kann gespeicher­t werden. Was aber soll mit Neumeiers Werken passieren? Bald will er sortieren, was nach seinem Tod inszeniert werden darf und was nicht. Das ist intelligen­t. Es löst allerdings nicht das Problem, wie das freigegebe­ne Repertoire ohne ihn weiter wirken soll, statt in Museumssta­rre zu fallen. Neumeier antwortet sofort: „Man muss doppelglei­sig fahren, also zurückgehe­n zu den gut dokumentie­rten Vorarbeite­n und die jeweils letzte Bühnenfass­ung heranziehe­n – und den Mut haben, Dinge zu verändern, wo es notwendig ist.“Er ist keiner, der sich ein Monument wünscht. Weder für sich noch für seine Kunst.

Am 14. August 1973 hält John Neumeier seine Antrittsre­de vor der kompletten Truppe. Bevor es losgeht, spricht der neue Direktor sein Credo: „Wir Künstler leben am intensivst­en, wenn wir arbeiten.“Fast 50 Jahre später sitzt Neumeier auf dem weißen Sofa seines Wohnzimmer­s und denkt an diesen Augenblick zurück: „Ich könnte das genauso noch mal sagen.“Arbeit ist sein Leben. Deshalb ist es so intensiv.

Neumeiers Villa ist so etwas wie ein Memorial der Tanzavantg­arde von vor

100 Jahren.

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Seit bald 50 Jahren zeigt John Neumeier seinen Tänzern schon, was auf der Bühne zu sehen sein soll.
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