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Christian Ohrens führt Menschen durch Hamburg – ohne dass sie etwas sehen. Er konnte das noch nie. So machen die Teilnehmer seiner Führungen eine spezielle Erfahrung.

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Herr Ohrens, Sie haben viele verschiede­ne Jobs. Was würden Sie denn sagen, was Sie von Beruf sind?

Ich sage immer, dass ich Journalist bin. Man muss es ja einfach halten.

Sie arbeiten aber auch als Fotograf. Sind Menschen überrascht, wenn sie einen Blinden mit Kamera sehen?

Heute nicht mehr so extrem wie vor fünfeinhal­b Jahren, als ich angefangen habe. Viele Leute konnten nicht verstehen, warum ich das mache. In Deutschlan­d muss man Kunst immer erklären. Manche wollten mir auch die Kamera aus der Hand nehmen: „Komm, ich mache das für dich!“Aber heute ist es nicht mehr so schlimm. Vielleicht ist die Gesellscha­ft ein bisschen toleranter geworden. Insgesamt ist Hamburg ja eine sehr offene Stadt.

Sie bieten auch Blinden-Touren durch Hamburg an …

Es sind keine BlindenTou­ren. Es sind Touren für Sehende. Sie laufen zwei Stunden mit einer Augenbinde durch die Stadt.

Was lernen die Leute dabei?

Das Ziel ist nicht, Hamburg neu zu entdecken oder touristisc­he Orte zu zeigen. Es geht um diese Alltagserf­ahrung: Wie kann ich durch die Stadt gehen, wenn ich nichts sehe?

Woher kam die Idee für diese Führungen?

Ich habe früher bei der Ausstellun­g „Dialog im Dunkeln“gearbeitet. Dort haben die Besucher immer wieder gefragt, ob man das nicht auch mal auf der Straße erleben kann. Ich habe mir dann gedacht: Was spricht eigentlich dagegen? Also habe ich angefangen, diese Führungen zu organisier­en.

Ist es für Sehende gefährlich, mit verbundene­n Augen durch die Stadt zu laufen?

Sie laufen nicht völlig allein. Die Teilnehmer haken sich immer beieinande­r und beim Führer ein. Sehr viele würden die Führung eigentlich gern ohne das Einhaken machen. Das geht aber nicht – schon aus Versicheru­ngsgründen nicht.

Laufen Sie nur durch die Fußgängerz­one?

Ich sage nicht, wo wir bei der Führung genau hingehen. Ich erkläre den Gästen auch immer: Wenn ihr im Internet Bewertunge­n schreibt, dann sagt nicht, wo ihr wart. Das nimmt nämlich anderen Leuten die Spannung weg. Nur so viel: Wir zeigen den Leuten Alltagssit­uationen, die ihre Sinne fordern.

Gibt es dafür ein Beispiel?

Es können einfache Objekte sein wie ein Baum oder eine Telefonzel­le. Viele erkennen das ohne ihre Augen nicht. Bei einem Baum mit glatter Rinde habe ich schon Paare gesehen, die sich streiten. Er hat gesagt: „Das ist doch eine Betonsäule!“Und sie hat geantworte­t: „Du bist doch doof, das ist ein Baum!“Dinge, die man eigentlich kennt, erkennt man nicht mehr, wenn man sie nicht mehr sieht. Auch Sachen zu schmecken oder zu riechen und dann zu erkennen, ist nicht so einfach.

Ist Hamburg eine blindenfre­undliche Stadt?

Was ist denn blindenfre­undlich? Ich akzeptiere die Dinge lieber so, wie sie sind – statt immer danach zu schreien, was nicht da ist. Das macht es mir auch beim Reisen einfacher. Wenn es mal eine Ampel gibt, die kein Audiosigna­l hat, muss ich fragen. Oder ich gehe über die Straße, wenn ich kein Auto höre. Interview: Guillaume Horst

In Deutschlan­d, Österreich und der Schweiz (D-A-CH) leben 100 Millionen Menschen. An dieser Stelle interviewe­n wir jedes Mal einen von ihnen.

 ??  ?? Christian Ohrens (35) ist Journalist, DJ, Radiomoder­ator, Fotograf und Videoblogg­er – und er ist blind. In Hamburg bietet er auch Stadtführu­ngen an. Die Teilnehmer können dabei lernen, wie ein Blinder die Stadt wahrnimmt.
Christian Ohrens (35) ist Journalist, DJ, Radiomoder­ator, Fotograf und Videoblogg­er – und er ist blind. In Hamburg bietet er auch Stadtführu­ngen an. Die Teilnehmer können dabei lernen, wie ein Blinder die Stadt wahrnimmt.

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