Geschichten aus der Geschichte
Am 6. März 1981 tötet Marianne Bachmeier den Mann, der ihre Tochter getötet hat. Sie tut das vor den Augen der Justiz – und ist bald sehr populär.
Vor 40 Jahren: Eine Mutter tötet vor den Augen der Justiz – und wird populär
Die Tat, die sie zu einer der berühmtesten Kriminellen Deutschlands macht, dauert nur einen kurzen Moment. Am 6. März 1981 kommt Marianne Bachmeier in den Saal am Lübecker Landgericht. In ihrer Manteltasche hat sie eine Pistole versteckt. Sie geht zu dem Angeklagten, zieht die Pistole aus der Tasche – und schießt ihm in den Rücken. Acht Mal schießt die 30-Jährige, sechs Mal trifft sie. Bachmeier geht aus dem Saal, legt die Pistole im Foyer auf den Boden und lässt sich verhaften.
Der Mann, den Bachmeier erschießt, ist der 35 Jahre alte Klaus Grabowski. Er hatte ihre Tochter Anna getötet, im Mai 1980 in seiner Wohnung. Noch am Abend der Tat wird er verhaftet – und sagt den Polizisten, dass er es war.
Ob Grabowski Anna auch sexuell missbraucht hat, ist bis heute nicht sicher. Grabowski selbst sagt, dass er das nicht getan hat. Aber er hat mehrmals Menschen sexuell missbraucht und dafür Strafen bekommen.
Im September 1975 wird er wegen sexuellen Missbrauchs eines Mädchens zu einer Gefängnisstrafe und der Unterbringung in der Psychiatrie verurteilt. Kurze Zeit später lässt er sich kastrieren – und kommt im Mai 1977 wieder frei.
Gutachter glauben, dass er jetzt nicht mehr gefährlich ist. Allerdings bekommt er Anfang 1978 von einem Arzt Hormone gegen gesundheitliche Konsequenzen der Kastration. Dadurch wird aber auch sein Sexualtrieb wieder stärker. Sehr wahrscheinlich ist der Mord an Anna eine Konsequenz davon.
Grabowskis Version: Anna wollte Geld von ihm. Sonst wollte die Siebenjährige ihrer Mutter erzählen, dass er sie angefasst hat. Für Bachmeier sind das schreckliche Lügen. Sie schießt, damit Grabowski nicht noch mehr Lügen erzählen kann, sagt sie danach. Und sehr viele Menschen in Deutschland verstehen den Schmerz der Mutter – und ihre Selbstjustiz.
Im Gefängnis bekommt Bachmeier Briefe von Menschen, die ihr zu ihrer Tat gratulieren. Ein Verein sammelt in wenigen Tagen 100 000
D-Mark (heute circa 120 000
Euro) für ihre Verteidigung. Bachmeier wird zur Ikone – und zur Medienfigur. Sie ist groß, stolz und sehr hübsch.
Bachmeier leidet darunter, dass die Medien sie für sensationelle Berichte benutzen. Aber sie benutzt die Medien auch selbst: Noch vor dem Beginn ihres Prozesses verkauft sie ihre Lebensgeschichte exklusiv an die Zeitschrift Stern – für heute 300 000 Euro. Die Serie „Annas Mutter“wird ab August 1982 publiziert, fast drei Monate vor dem ersten Prozesstag gegen sie. Kurz vor Prozessbeginn zeigt das Zweite Deutsche Fernsehen die Dokumentation „Den hätte ich auch erschossen“mit Interviews von Menschen auf der Straße. Die sagen schreckliche Dinge darüber, was sie selbst mit Grabowski gemacht hätten.
Das Medienspektakel wird nicht einfach für die Justiz. Aber auch für Bachmeier selbst nicht. Immer mehr wird über sie bekannt – erst durch die Medien, dann im Prozess. Und immer ambivalenter wird sie dadurch als Mensch.
Ein schönes Leben hatte Bachmeier nie. Ihr Elternhaus ist sehr religiös, ihr Vater autoritär. Früh muss sie Gewalterfahrungen machen. Mit 16 wird sie zum ersten Mal schwanger. Sie bekommt eine Tochter, gibt sie zur Adoption frei. Mit 18 wird sie schon wieder schwanger. Kurz vor der Geburt ihrer zweiten Tochter wird sie vergewaltigt. Auch die zweite Tochter gibt sie zur Adoption frei.
Mit 23 bekommt sie schließlich Anna. Aber auch für dieses Kind hat sie wenig Zeit. Sie überlegt, es zu Pflegeeltern zu geben. Bachmeier leitet mit ihrem Freund eine Lübecker Kneipe. Sie führt ein alternatives Leben zwischen Kneipensubkultur und einem ökologischen Bauernhof außerhalb der Stadt. Konservative Ideale haben da wenig Platz. Nicht nur ihre Tat polarisiert, sondern auch sie selbst.
Über ihren Charakter und ihre Gewalterfahrungen wird vor Gericht lang gesprochen. Nach der Aussage der psychiatrischen Gutachter wird die Anklage reduziert: Aus Mord wird Totschlag. Wegen Totschlags muss sie am Ende auch für sechs Jahre in Gefängnis. Das Gericht akzeptiert ihre spezielle psychische Situation. Es glaubt ihr, dass sie die Tat nicht geplant hat. Jahre später wird sie selbst aber das Gegenteil sagen. Außerdem wird bekannt, dass sie vor der Tat schießen geübt hat.
Nach drei Jahren Gefängnis kommt Bachmeier frei. Ihre Beziehung zu den Medien bleibt ambivalent. Immer wieder sucht sie den Kontakt zur Öffentlichkeit, gibt Radio- und Fernsehinterviews. Sie heiratet einen Lehrer und beginnt mit ihm ein neues Leben in Nigeria. Nach dem Ende der Beziehung zieht sie nach Sizilien um. In Palermo findet sie ein neues Zuhause und eine neue Aufgabe: Im Hospiz begleitet sie todkranke Menschen beim Sterben.
Im Sommer 1996 erfährt Bachmeier, dass sie selbst todkrank ist. Sie geht nach Lübeck zurück, wo sie im September 1996 im Alter von 46 Jahren an ihren Tumoren stirbt. Ein Fernsehjournalist begleitet sie in den letzten Wochen ihres Lebens – sie hatte ihn darum gebeten. Bachmeier wird in Lübeck im Grab ihrer Tochter Anna beerdigt. Ihre Tat hat sie nie öffentlich bereut. Barbara Kerbel
Noch vor Beginn ihres Prozesses verkauft sie ihre Lebensgeschichte an eine Zeitschrift.