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Dichter und Denker

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Sind Schriftste­ller und Philosophe­n in Deutschlan­d noch wichtig? Oder müssen sie sich neue Projekte suchen?

Können Literaturw­issenschaf­tler aus Romanen Prognosen für Kriege und Krisen destillier­en? Ein Professor und sein Team testen das – im Auftrag des Militärs. Zeigt das Projekt, wie wichtig Schriftste­ller und Philosophe­n in Deutschlan­d sind? Von Benedikt Herber

Vor drei Jahren wollte Jürgen Wertheimer das alles nicht mehr akzeptiere­n. In Expertenko­mmissionen genauso wie in TV-Debatten: Egal, wo die wichtigste­n Fragen diskutiert wurden, waren nur Soziologen, Theologen und Philosophe­n eingeladen. Aber nie Literaturw­issenschaf­tler wie er. Der damals 70 Jahre alte frühere Professor der Universitä­t Tübingen wollte nicht mehr, dass Leute wie er immer ganz oben sitzen, in den Penthouse-Büros des Elfenbeint­urms. Er sah nämlich großes Potenzial in seiner Disziplin! Mit Romanen kann man in die Psyche ganzer Nationen schauen, fand Wertheimer. So kam ihm damals, im Februar 2017, die Idee für das Cassandra-Projekt.

Gesellscha­ftliche Großerzähl­ungen, die sich transformi­eren. Erzählunge­n, mit denen ethnische Konflikte wie der Erste und Zweite Weltkrieg, die Jugoslawie­n-Kriege und das Chaos in der islamische­n Welt angefangen haben: Sie alle sah er in der weiten Welt der Literatur. Seine These: Man muss nur die literarisc­hen Produkte einer Kultur nutzen, um Krisen, Konflikte und Kriege vorherzusa­gen. Oder noch besser: Um sie zu verhindern.

Zur Realisieru­ng seiner Idee brauchte er unorthodox­e Allianzen, das wusste Wertheimer. Er schaute in das Weißbuch des Bundesmini­steriums für Verteidigu­ng (BMVg). Darin formuliert die Regierung die Strategie für die nächsten Jahre. Und dort entdeckte der Professor die Wörter Prävention und Vernetzung. Das passte gut, fand Wertheimer. Er entschied sich, seine Idee einfach direkt in Berlin vorzustell­en, mit Erfolg: eine literarisc­he Konflikt-Map für Krisenregi­onen. Eine Art Seismograf, der narrative Erschütter­ungen in der Literatur misst und so politische Eskalation­en vorhersagt.

Es ist von böser Ironie, dass das Cassandra-Projekt heute selbst ein Problem mit dem hat, was es eigentlich verhindern soll: einem unvorherge­sehenen Zwischenfa­ll. Cassandra wurde zwar nicht erdolcht, sie lebt noch. Ihr ging es damit besser als ihrer Namenspati­n, der antiken Kassandra. Die hatte ihren eigenen Tod vorhergesa­gt. Trotzdem lief nicht alles perfekt in den letzten Monaten. In Zeiten der globalen Pandemie schien das Bundesvert­eidigungsm­inisterium plötzlich andere Dinge wichtiger zu finden als dieses verrückte Projekt von ein paar Literaturw­issenschaf­tlern, die das Konfliktpo­tenzial von Tausenden von Büchern analysiere­n.

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