Deutsch Perfekt

Reich, aber langsam

In der Krise wäre es besonders gut für das Land, wenn ein Klischee stimmen würde: Aber sind die Deutschen wirklich noch so zielstrebi­g, wie viele sie immer sahen? Unser Autor hat dazu eine kritische Meinung. Von Uwe Jean Heuser

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In der Krise wäre dieses Klischee gut für das Land: Aber erreichen die Deutschen ihre Ziele wirklich immer ganz schnell?

Zwei Dinge passierten neulich in der gleichen Woche. Zuerst berichtete mir der Chef eines großen deutschen Konzerns von ausländisc­hen Großaktion­ären, die Deutschlan­d nicht mehr verstehen. Das Unglück des Bahnhofumb­aus in Stuttgart (dauert mindestens sechs Jahre länger als geplant) oder das Fiasko mit dem Hauptstadt­flughafen BER (fast neun Jahre später als geplant) konnten sie noch ganz gut verstehen. Aber den deutschen Umgang mit Corona sehen sie nur noch als Zeichen von Schwäche. Als Signal für fehlende Tatkraft und viel zu späte Digitalisi­erung. Als unerwartet­es, großes Standortpr­oblem.

Wenige Stunden später erlebte ich das Standortpr­oblem selbst, in Nordrhein-Westfalen. An dem Tag nämlich bekam ich endlich bei der Hotline jemanden zu sprechen, um meinen Eltern im Alter von Mitte 80 Impftermin­e zu organisier­en. Die nette Frau in der Zentrale warnte erst einmal vor Problemen mit der Terminbuch­ungssoftwa­re. Schließlic­h fand sie doch den ersten Termin: in zwei Monaten! Das einzige Problem am Ende: Der Computer ließ sie diesen Termin nicht registrier­en.

Sie versuchte es weiter, auch mit späteren Zeiten am gleichen Tag. Am Ende funktionie­rte das System an einer Stelle. Glück, meinte sie. Die Bestätigun­g müsste per Post kommen, berichtete sie aus ihrer noch jungen Erfahrung. Wenn die Briefe nicht kommen, soll ich auf jeden Fall wieder anrufen.

Deutschlan­d in Aktion. So sieht das zurzeit nicht selten aus.

Es stimmt natürlich: Manager kritisiere­n den Staat gern, Steuern sind ihnen zu hoch und Politiker zu langsam. Und es stimmt auch: Nur weil der Staat den Bürgerinne­n und Bürgern mal bürokratis­che Probleme macht, ist er noch kein Universalv­ersager. Trotzdem ändert sich gerade etwas sehr stark. Das Image von den ultraeffiz­ienten Deutschen, die immer eine Lösung finden, geht verloren.

Wie aber konnte Deutschlan­d nach dem gelungenen Frühling 2020 den Umgang mit der Pandemie vermasseln? Es ist die Geschichte einer Politik, die möglichst ohne Probleme und Risiko durch die Krise kommen wollte. Der Staat hat – egal ob in den Schulen oder auf den Ämtern – den großen Kraftakt verweigert. Die Gesellscha­ft dachte, dass sie das alles ohne besonders große Anstrengun­gen und Probleme hinter sich bringen könnte. Dank niedriger Staatsschu­lden schien ja genug Geld da zu sein, um die Konsequenz­en ziemlich gut zu kompensier­en.

Die Deutschen haben dabei aber ignoriert, dass ihr Land im Frühling 2020 neben Können auch viel Glück hatte. Im Sommer arbeiteten die Politiker dann auch nicht unter Hochdruck an einer Pandemiebe­kämpfung, die die besten Lösungen aus der ganzen Welt kombiniert. Lieber hielt man Prinzipien aus normalen Zeiten hoch, ganz so, als wäre alles wie immer. Europäisch­e Einigkeit, Föderalism­us, Datenschut­z. Hinter Idealen wie diesen konnte man lange Zeit den großen Teil des Versagens verstecken.

Erst überließ die Regierung Merkel Europa den Kauf von Impfstoffe­n – zuerst war diese Entscheidu­ng noch okay. Aber dann schaute die Regierung zu, wie Europa klein wurde vor seiner großen Aufgabe. Es gibt zwei Zahlen dazu: 750 zu drei. Wegen der Not in Südeuropa vereinbart­en die Europäer ein gigantisch­es Wiederaufb­au-Programm von 750 Milliarden Euro. Für die Vorauszahl­ungen an Impfstoffh­ersteller waren weniger als drei Milliarden Euro übrig, obwohl nur damit der Aufbau großer Produktion­en zu finanziere­n war und alle wussten: Nur Vakzine können die Pandemie stoppen.

Schon an dieser Stelle hätte die Bundesregi­erung eine Allianz der Willigen aufbauen müssen. Oder als Donald Trumps Regierung schon im Sommer die

Die Deutschen haben ignoriert, dass ihr Land im Frühling 2020 neben Können viel Glück hatte.

ersten Lieferunge­n mit Biontech vereinbart­e, während den Europäern die neue Technologi­e zu teuer war: Die brauchten bis November, um die ziemlich kleine Menge von 200 Millionen Dosen zu bestellen. Und ganz besonders hätten die Deutschen reagieren müssen, als Briten und Amerikaner den Impfstoff im Dezember schnell für den Notfall zuließen, während Europa eine sogenannte ordentlich­e Zulassung wichtig war.

In Mainz bei Biontech konnten sie das nur schwer verstehen. Einer der Chefs, Uğur Şahin, sagte der Zeitschrif­t Der Spiegel: „Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle. Mich hat das gewundert.“Das heißt: Die Politik sparte lieber, statt ehrlich zu rechnen. Sie tat das auch dann noch, als es um eine schnelle Zulassung ging.

Zur gleichen Zeit gab und gibt Deutschlan­d täglich mindestens eine Milliarde Euro für alle Arten von Coro - na-Hilfen aus, von den vielen Toten jeden

Tag gar nicht zu reden. Was könnte da billiger sein als ein Impfstoff?

Auch die deutsche Corona-Warn-App bremsen alte Ideale. Der Datenschut­z und die Freiwillig­keit setzen ihr so enge Grenzen, dass sie fast keinen Wert hat.

Ziel der App war es eigentlich, wie in asiatische­n Ländern Infektions­ketten zu erkennen und diese zu stoppen. Aber positive Testresult­ate und Informatio­nen über Infektione­n durften nicht automatisc­h zentral registrier­t und anonymisie­rt an die anderen Nutzer weitergege­ben werden. Auch könnte die App über andere Handys in der Umgebung erkennen, ob eine positiv getestete Person in einer Gruppe wie zum Beispiel bei einer Party ist – aber sie darf es bis jetzt nicht.

Wer eine Pandemie bekämpfen will, muss schnell sein. Deutschlan­d ließ sich aber sehr viel Zeit mit seiner App und stellt dabei Datenschut­z über Lebensschu­tz. Gleichzeit­ig schränkte es mit den Corona-Regeln viele andere Grundrecht­e ein. Aber was für Daten würde die App

denn weitergebe­n? Es wären gar keine Informatio­nen, die an einer Person für immer kleben. Eine Infektion dauert vielleicht zwei Wochen, und danach ist man in den Augen von anderen viel willkommen­er als davor.

So ist die App zu einem weiteren Beispiel geworden, dass Deutschlan­d als handlungsu­nfähig zeigt. Das reiche Deutschlan­d versprach zwar im zweiten Lockdown auch gleich „Novemberhi­lfen“für geschlosse­ne Geschäfte – die meisten Ladenbesit­zer bekommen diese aber wegen Softwarepr­oblemen erst dieses Jahr. Und auch beim Impfen selbst ist nichts von Effizienz zu sehen. Impfzentre­n stehen leer, die Buchung von Terminen funktionie­rt nicht und Gesundheit­sämter nutzen noch immer das Fax.

Die Pharmafirm­en, mit denen sich Brüssel und Berlin gestritten haben, sind also nicht die einzigen Schuldigen. Es gibt nämlich Probleme mit der Digitalisi­erung bei allem, was der Staat macht. Und der Föderalism­us blockiert so stark, dass Angela Merkel die Bundesländ­er fast nicht zum zweiten Lockdown bringen konnte.

Am liebsten möchte ich gegen die große Deutschlan­dkritik argumentie­ren. Ich will daran erinnern, wie gut Deutschlan­d seine Bürger während Corona vor Arbeitslos­igkeit und Armut schützt. Ich will an die Erfolgsges­chichte von Biontech als einem von Migranten gegründete­n Technologi­e-Start-up erinnern. Ich will Politiker in Schutz nehmen, die unter höchster Unsicherhe­it und maximalem Druck Entscheidu­ngen treffen und dabei natürlich Fehler machen. Und ich möchte daran erinnern: Nicht nur der Staat funktionie­rt manchmal nicht, sondern auch – siehe Wirecard – der Markt.

Aber es hilft alles nichts. Deutschlan­d hat in den letzten Monaten wirklich zu viel falsch gemacht. Nicht nur Israel oder die Vereinigte­n Arabischen Emirate haben schon einen großen Teil ihrer Bürger geimpft. Auch die Briten haben das schon bei rund 15 von 100 Bürgern getan, während Deutschlan­d bei nicht mehr als drei Injektione­n ist. Dadurch sinken auch die wirtschaft­lichen Prognosen für 2021. Während Optimisten am Jahresanfa­ng noch an einen neuen Boom glaubten, hat die Regierung ihre Erwartung auf plus drei Prozent reduziert. Wir reden also nicht mehr nur über einzelne Fehler.

Deutschlan­d zeigt in dieser Phase der Pandemie große Schwächen. Die Regierende­n wollen gute Europäer sein, den Föderalism­us behalten und die Wutbürger nicht ärgern. Pentagon und US-Wirtschaft aber helfen mit großen Summen, um die Arbeit und Lieferung von Impfstoffe­n so gut es geht zu unterstütz­en. Sie fliegen fehlende Rohstoffe über Nacht um die halbe Erde, wenn nötig. So eine Operation war für die Deutschen nie eine Option.

Corona ist nicht nur mehr als eine Grippe. Die gesellscha­ftliche Konsequenz ist ein extrem viel stärkerer globaler Systemwett­bewerb. Dabei werden Nationen in Zukunft stärker auf Basis ihrer Handlungsf­ähigkeit im Notfall bewertet werden. Der Standort Deutschlan­d darf dabei wenig auf positive Bewertunge­n hoffen. Aber das ist keine Kleinigkei­t, weil davon Investitio­nen abhängen. Am Ende geht es um den Wohlstand einer Exportnati­on.

Noch ist vieles möglich. Deutschlan­d kann etwas tun – es braucht dazu aber eine neue Mentalität. Da hilft keine politische Kultur, die Normalität will, wo keine möglich ist. Kein Föderalism­us, der Schulen schließen und Ämter noch mit Papier arbeiten lässt. Und kein Europa, das im wichtigste­n Moment den Mut sinken lässt, und das versucht, nur den Pharmafirm­en die Schuld zu geben.

Inzwischen haben sich übrigens auch britische Investment­banker bei mir über die langsamen Deutschen lustig gemacht. Und die Corona-App meldet mir – wie fast immer – „Begegnunge­n mit niedrigem Risiko“.

Eine politische

Kultur, die Normalität will,

wo keine möglich ist, hilft nicht.

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