Biernation?
Die Liebe der Deutschen zum Bier ist legendär – warum ist die Realität ganz anders?
Bier als das Getränk, das alle Deutschen verbindet, egal ob Mechaniker oder Professor? Das war früher mal so. Das Bier ist in der Krise, und Corona ist noch gar nicht vorbei. Aber ist wirklich die Pandemie an allem schuld? Von Christoph Koopmann
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Sebastian Holtz kennt Stress eigentlich gut, aber die aktuelle Lage findet er schon ganz besonders stressig. Deshalb erreicht man ihn an einem Donnerstagmorgen am besten telefonisch. Holtz ist 41 Jahre alt. Der Hamburger ist CEO bei Carlsberg Deutschland, einem der größten Bierkonzerne des Landes. Dazu gehören Marken wie Astra, Holsten, Lübzer und Duckstein. Er sagt: „Es nützt doch überhaupt nichts, den Kopf in den Sand zu stecken.“
Die Sache ist nämlich so: Sebastian Holtz’ Büro liegt nur ein paar Kilometer entfernt von der Hamburger Reeperbahn. Auf der kann man nachts um halb eins ja in normalen Zeiten ganz schön Spaß haben. Aber seit Monaten ist nichts mehr normal. Deshalb ist auf der Reeperbahn nachts um halb eins auch nichts mehr los. Und dadurch hat der Manager ein ziemliches Problem. Denn eigentlich trinken die Leute auf der Reeperbahn gern und viel Astra-Bier. Wo könnte man denn in diesen Tagen noch trinken? Eine ziemlich zentrale Frage.
Jetzt ist nicht nur auf der Reeperbahn nichts mehr los, sondern eigentlich überall, wo Menschen Bier trinken. Aus der Corona-Krise wurde längst auch eine Bier-Krise. Restaurants, Kneipen und Biergärten mussten schließen, zweimal sogar inzwischen. Klubs blieben die ganze Zeit geschlossen. Aus Fußballspielen wurden Geisterspiele, und die Europameisterschaft der Herren heißt zwar noch Euro 2020, findet aber 2021 statt. Dorffeste konnten nicht stattfinden. Auch das Oktoberfest ist ausgefallen und der Karneval im Februar. Die Lage ist, Entschuldigung, bierernst.
Die Menschen trinken zwar zu Hause jetzt mehr als vor der Pandemie, aber die leichten Zugewinne im Einzelhandel sind viel kleiner als das Minus aus der Gastronomie. Der Deutsche Brauer-Bund (DBB) hat im Herbst seine Mitglieder gefragt, wie schlimm die Lage ist. Die Antwort: sehr. Schon im ersten Halbjahr 2020 ist der Absatz um 16 Prozent gesunken, das zweite war wahrscheinlich nicht viel besser. DBB-Präsident Jörg Lehmann hat zu der Umfrage gesagt: „Für die deutsche
Brauwirtschaft ist 2020 eines der schwierigsten Jahre ihrer Geschichte.“Manche kleineren Brauer, die ihr Geld vor allem mit Wirtshäusern und Volksfesten verdienten, mussten schon für immer schließen. Sogar der Gigant Bitburger streicht Stellen.
Und Carlsberg-Chef Sebastian Holtz? Der sagt: „Auch wir sind massiv betroffen von der Corona-Krise.“Die Gastronomie macht immerhin ein Fünftel seines Umsatzes aus – in Nicht-Corona-Jahren. Astra und die leere Reeperbahn, das ist jetzt ein Problem. Aber man muss ja positiv denken, findet Holtz. Der Sommer zum Beispiel war für die Firma gar nicht so schlimm. Die Carlsberg-Marke Lübzer ist Marktführer in Mecklenburg-Vorpommern. Und im letzten Jahr haben viele Deutsche lieber an Deutschlands Stränden Urlaub gemacht. Das hat Lübzer natürlich geholfen. Wenigstens ein paar Wochen lang.
Blickt man auf die Absatzzahlen, ist Carlsberg eine der zehn größten Brauereigruppen des Landes. 2,6 Millionen Hektoliter verkaufte die Firma 2019. Es lief gut in Zeiten, in denen Menschen noch ohne Probleme zusammen feiern und trinken konnten. Bei Carlsberg ging der Bierausstoß, anders als bei vielen anderen Brauereien, zuletzt sogar zwei Jahre nacheinander um ein
paar Tausend Hektoliter nach oben. Aber das war vor der Pandemie. Andere Brauereien haben ihr Bier 2020 für fünf Euro pro Kasten in die Supermärkte gestellt, ein extremer Preis. Holtz sagt dazu: „Wir haben uns gegen kurzfristige Volumengewinne durch Preissenkungen entschieden.“Sie haben es anders gemacht und die Brauerei Wernesgrüner gekauft, die davor zu Bitburger gehörte.
Man könnte es eine Trotzreaktion nennen, mitten in der Krise auch noch zu expandieren. Holtz berichtet von einem lang geplanten und vorbereiteten Kauf. Er soll das Geschäft stärken, speziell in Ostdeutschland. „Diesen Vorteil erwarten wir trotz Corona-Krise“, sagt Holtz. Aber zur Wahrheit gehört, dass so ein Kauf wahrscheinlich auch eine Flucht nach vorn ist. Denn es ist ja nicht so, dass es für die deutschen Brauereien vor der Pandemie überall perfekt gelaufen wäre.
Warum ist das so? Um eine Antwort darauf zu bekommen, kann man im historischen Zentrum von München zwischen zwei Handyshops in ein Gässchen einbiegen. Da steht ein Haus mit weißer Fassade, das mehr als 600 Jahre alt ist. In dessen Inneren ist es so eng, dass Lukas Bulka bei jedem Schritt aufpassen muss, mit dem Kopf nicht anzustoßen. Bulka (44) ist fast zwei Meter groß, ein großer Mann in Trachtenweste. Schon zur Mittagszeit bietet er einen Schnitt an. Mit diesem Wort meinen die Bayern, dass ein halbes Bier noch geht, oder schon – abhängig von der Uhrzeit. Bulka ist so etwas wie das Gedächtnis der Münchener Bierkultur. Er leitet das Bier- und Oktoberfestmuseum, das es seit 15 Jahren in München gibt. Biersommelier ist er auch. Oder wie Bulka sagt: Bierliebhaber.
Bulka sitzt an einem Tisch, der einmal ein Bierfass war. Hinter ihm steht ein sehr alter Braukessel. Darüber hängen drei Lebkuchenherzen. „Wirtshauswiesn“steht darauf. Das war der traurige Versuch, vom Oktoberfest 2020 zu retten, was zu retten war. Wenigstens in den Wirtschaften sollten die Leute noch in Trachten trinken. Hat ganz gut funktioniert, war aber nur ein kurzer Moment in der Krise. Wenn Bulka „Krise“sagt, meint er nicht nur die aktuelle durch Corona. Er meint auch die, die schon länger da war. „Es hat sich etwas verändert, ganz grundsätzlich“, sagt er.
1994 haben die Brauer in Deutschland noch 107 Millionen Hektoliter Bier verkauft, ohne alkoholfreies. 2019 waren es nur noch 76 Millionen Hektoliter. Fast ein Drittel weniger in nur 25 Jahren. Und das war nur die Krise vor der Krise. Denn dann kam das Jahr 2020, eine ziemliche Katastrophe. Die verkaufte Menge sank auf rund 72 Millionen Hektoliter. Hat jeder Deutsche 2019 noch fast 92 Liter Bier getrunken (ohne alkoholfreies), sind es nun nur noch rund 88 Liter.
Schon lange geht es für Holtz und die anderen Großbrauer nicht mehr darum, den deutschen Markt zu vergrößern. Das Ziel ist nur noch, so viel wie möglich von dem zu bekommen, was noch zu kriegen ist. Holtz sagt: „Wenn wir wachsen wollen, müssen wir den anderen etwas wegnehmen.“
Biermuseumsleiter Bulka fallen einige Gründe dafür ein, dass die Deutschen immer weniger Durst nach Bier haben. Erstens: Früher haben sie sich fast jeden Abend nach der Arbeit noch auf ein, zwei Halbe in die Bierhalle oder die Kneipe gesetzt. Trinken war Ritual, Bier hat alle verbunden – egal, ob Professor oder Handwerker.
„Individualisierung“– so nennen es Soziologen, wenn die Menschen nicht mehr zusammen trinken.
„Macht heute kaum einer mehr“, sagt Bulka. „Individualisierung“, würden Soziologen sagen. Und wenn die Menschen noch zusammen unterwegs sind, gerade die Jüngeren, dann immer seltener in der Gastronomie.
Der zweite Punkt: „Früher war Bier ein Nahrungsmittel“, sagt Bulka. Aber irgendwann haben die Leute angefangen, mehr auf ihre Gesundheit zu achten, auch in Deutschland. Genauso wie sie inzwischen weniger rauchen, trinken sie auch weniger Alkohol. Wobei: Beides kam ja irgendwie oft auch zusammen.
Dazu kommt der dritte Punkt, der demografische Wandel. In Deutschland gibt es immer mehr Alte. Und die trinken weniger. Einfache Rechnung. Insgesamt, sagt Bulka, „ist die Lage bescheiden“.
Ein viertes Problem ist das Image des Biers. Das liegt näher an der Kegelbahn als am Fair-Trade-Bio-Laden. „Dabei müsste Bier doch voll im Trend liegen: natürliche Inhaltsstoffe, meistens regional produziert, sogar vegan. Nur glutenfrei ist’s nicht“, sagt Bulka.
Einer, der das Image ändern möchte, ist Tilman Ludwig. Im Süden von München hat er seine Kneipe, deren Namen er als Ziel versteht: „Frisches Bier“. Hinter der Theke steht jetzt Ludwig mit Hipsterwollmütze und Hoodie. Er erklärt, warum für ihn „alles easy“ist. Der 36-Jährige betreibt nicht nur mit einem Freund die Kneipe. Vor allem braut er „Tilmans Biere“. Craft Beer.
Seit ein paar Jahren erlebt das nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland einen ziemlichen
Hype. Bei Craft Beer wird geschmacklich mit neuen Ideen experimentiert. Oft konform mit dem deutschen Reinheitsgebot: Die Regel sagt, Bier soll nur aus Hopfen, Malz, Hefe und Wasser hergestellt werden. Craft Beer kommt oft aus Brauereien, die im Jahr weniger als 1000 Hektoliter produzieren. Vor 15 Jahren gab es in Deutschland 500 dieser Mikrobrauereien. Inzwischen sind es fast 900.
Auch wenn man vom Craft-Boom spricht, in der Summe haben alle Mikrobrauereien Deutschlands nur einen Bierausstoß von wenig mehr als 200 000 Hektolitern im Jahr. Im Vergleich zu den 2,6 Millionen zum Beispiel, die Carlsberg jedes Jahr in Deutschland braut, ist das nichts. Experten glauben, dass der Marktanteil von Craft Beer bei weniger als einem Prozent liegt.
Können diese vielen Kleinen trotzdem etwas tun für die große Bierindustrie? Ludwig glaubt daran: „Die Menschen trinken ihr Bier bewusster, wenn es besonders schmeckt.“Und wenn das Marketing stimmt.
Ludwig holt sich hinter der Theke eine Flasche Helles, selbst gebraut, klar. Darauf steht: „Das Helle“. Extravagant ist nur der Look seiner Biere. Auf der Flasche in seiner Hand ist ein in psychedelischen Farben gezeichneter Löwe zu sehen. Aber hinten steht nur: Hopfen, Malz, Wasser. „Die Leute mögen es schnörkellos“, sagt Ludwig. Und sie mögen es transparent. Deshalb sollen sie wissen, woher die Zutaten kommen. Außer Hopfen aus den USA ist alles „superregional“, wie er sagt. Es ist das Fair-Trade-Bio-Image, das die Kunden wollen. Und natürlich den speziellen Geschmack für so ein Helles: viel Frucht und viel, viel Hopfen.
Mit dieser Strategie ist Tilman Ludwig sehr gut durch das Jahr 2020 gekommen. Das liegt vor allem an etwas, das ihm vor der Pandemie noch Sorgen machte: „In München mit seinen großen Traditionsbrauereien ist es wahnsinnig schwierig, sich als Neuer in der Gastronomie zu etablieren.“Deshalb liefert er kaum Fässer an Wirtshäuser und Kneipen. Deshalb konnte er in den Lockdowns und Light-Lockdowns auch kaum Umsatz verlieren. Er verkauft sein Bier vor allem im
Einzelhandel, und der blieb ja die ganze Zeit geöffnet. Die Kneipe mussten sie zwar wegen Corona immer wieder schließen. Da aber fiel Ludwig und seinem Geschäftspartner Max Heisler zum Glück etwas ein. „Andere hätten gesagt, Scheiße, das war’s“, erzählt Ludwig. „Aber Max hat gesagt: Wir müssen was machen.“Sie machten einen Lieferservice mit Fahrradkurieren – und einen Getränkemarkt. „Es läuft echt gut“, sagt Ludwig.
Angefangen hat er mit ungefähr 1000 Hektolitern pro Jahr. Inzwischen braut er fast 3000 Hektoliter im Jahr. Er könnte sogar noch etwas wachsen. Aber er ist ganz zufrieden, mit vier Kollegen und ein paar Sorten. Ludwig sagt: „Ich braue mein Bier, weil es mir schmeckt, nicht weil der Markt danach schreit.“
Und wie sieht die Zukunft für die Giganten aus? Carlsberg-Manager Holtz erwartet vor April keine große Besserung. Aber: „Wir glauben, dass wir besser durch die Krise kommen als viele Konkurrenten.“Hoffnung machen ihm Craft-Brauer wie Tilman Ludwig, die dem Image des Biers helfen. „Man spricht jetzt anders über Bier“, sagt Holtz. „Positiver.“Es ist ein Anfang. Gemacht wird er diesmal von den Kleinen dieser Branche.
Die Kleinen der Branche ändern das
Image des Biers. Das hilft auch den Großen, die es so schwer haben.