Deutsch Perfekt

Fühlen Deutsche was?

Ja – speziell dann, wenn sie etwas falsch gemacht haben.

- Von Titus Arnu, Sara Maria Behbehani, Moritz Geier, Oliver Klasen, Martin Zips und Jörg Walser

Haben sich die Menschen schon immer geschämt? Oder schämen sie sich nur wegen anderer Menschen? Über diese Fragen machen sich Philosophe­n schon seit mehr als 2000 Jahren viele Gedanken. Sicher ist: Für die Deutschen ist das Schämen zu einer wichtigen Sache geworden.

Aber nicht jeder schämt sich gleich. Der eine fühlt sich schlecht, wenn er in ein Flugzeug steigt (Flug-Scham, heute nicht mehr so relevant, auch Urlaubs-Scham nicht). Der andere, wenn er eine Wurst isst (Fleisch-Scham). Und schon Jugendlich­e kennen das Fremdschäm­en – sie schämen sich besonders intensiv für ihre Eltern. Denn der Mensch ist „Ehre und Scham des Universums“(Blaise Pascal). Haben wir jetzt der geschriebe­n? Entschuldi­gung, auch sie und es natürlich (Gender-Scham). Also der, die und das Deutsche. Ein Überblick.

Corona-Scham

Was das ist: Husten in der S-Bahn und der schnelle Satz: „Nein, es ist kein Corona!“Einen Ort besuchen, wo es weniger als zehn Quadratmet­er Platz pro Person gibt. Und in diesem Moment an die coronasens­ible Kollegin denken.

Wer darunter leidet: Alle, die Corona nicht für eine Lüge halten.

Was man dagegen tun kann: Einen Corona-Test machen und allen sofort von dem negativen Resultat erzählen.

Kita-Scham

Was das ist: Nach der Corona-Scham kam die Kita-Scham. Ein Lockdown bedeutet für viele Eltern von kleinen Kindern Chaos: Arbeiten mit Kindergart­enkindern im gleichen Raum ist fast schon Alltagsakr­obatik. Wann macht die Kita wieder auf? Wer darunter leidet: Privilegie­rte Eltern: Sie arbeiten in einem systemrele­vanten Beruf (Ärztin, Verkäufer, Polizistin, Journalist) und dürfen ihre Kinder deshalb in die Notbetreuu­ng bringen.

Was man dagegen tun kann: Die Kinder der Nachbarn einladen, vielleicht zwei Tage lang? Und vorher Corona-Sonderurla­ub beantragen.

Müll-Scham

Was das ist: Eigentlich muss jetzt auch noch der Tesafilm von der Verpackung weg. Und altes Öl in den Ausguss, das ist absolut tabu. Und warum brauchen wir für unser Obst eine neue Plastiktüt­e? Wer darunter leidet: Am meisten der Harmonie-Mensch. Denn der möchte bei der Mülltrennu­ng alles richtig machen. Was man dagegen tun kann: TV-Dokumentat­ionen über Länder ohne relevante Mülltrennu­ngssysteme schauen. Oder noch einmal das Twitter-Weihnachts­foto mit den Clintons vor dem Weihnachts­baum. So viel Plastikmül­l!

Fleisch-Scham

Was das ist: Mit seinem Song über die Currywurst traf Herbert Grönemeyer 1982 ein Lebensgefü­hl. Heute ist die Currywurst nicht mehr so wichtig und für viele auch nicht mehr richtig. Ein Kunde freut sich auf den Riesenschn­itzel-Montag für 7,77 Euro. Aber auch er weiß: Ein Kilogramm Rindfleisc­h verursacht bis zu 14 Kilogramm CO2.

Wer darunter leidet: Das größte Problem mit der Fleisch-Scham hat die „Ich-esse-jahöchsten­s-einmal-die-Woche-Fleischund-wenn-dann-Bio“-Fraktion. Das Problem haben also immer mehr Menschen. Was man dagegen tun kann: Damit strenggläu­bige Christen auch am Freitag Fleisch essen konnten, haben sie Maultasche­n gewählt. Der zweite Name: Herrgottsb­escheißerl­e. Warum nicht auch eine Currywurst in Nudelteig verpacken? Atheistisc­he Fridays-for-Future-Aktivistin­nen brauchen aber ein Re-Branding: Gretazulie­beversteck­erle vielleicht.

Anderssein-Scham

Was das ist: Das Gefühl, plötzlich ganz allein zu sein.

Wer darunter leidet: Menschen mit Haaren unter den Achseln und ohne Haare im Gesicht. Menschen, die in der Arbeit keine Wollmütze auf dem Kopf tragen und noch nie ein Baby gewickelt haben. Menschen, die noch einen Diesel fahren und Handys dumm finden.

Was man dagegen tun kann: Erst einmal ganz ruhig bleiben. Und manchmal nichts

sagen. Sonst wird man online #exposed. Und die eigene Wikipedia-Biografie bekommt dann ziemlich schnell ein „Kontrovers­en“-Segment.

Internet-Scham

Was das ist: Wer einmal googelt, benutzt so viel Energie wie eine 11-Watt-Energiespa­rlampe in einer Stunde. Es ist also der Moment gekommen, um sich endlich einmal zu schämen für das dumme Klicken die ganze Zeit. Internette­chnik verursacht bis zu vier Prozent der globalen Treibhaus-Emissionen. Das behauptet der französisc­he Think-Tank „The Shift Project“.

Wer darunter leidet: Alle. Beim Twittern, Instagramm­en, Netflixen genauso wie die, die gerade einfach nur auf dem Sofa sitzen und in die Luft schauen.

Was man dagegen tun kann: Keine Pornos mehr schauen. Im Jahr 2018 waren 27 Prozent des globalen Online-VideoTraff­ics Pornos. Sagt der französisc­he Think-Tank. Das sind mehr als 80 Millionen Tonnen CO2.

Geschlecht­er-Scham

Was das ist: Männer sind entweder Machos oder das Gegenteil, Softies. Und was sind Frauen? Tussis oder Emanzen. Ja, es gibt wirklich viele Möglichkei­ten, sich für sein Geschlecht zu schämen. Die UNESCO findet auch: Alexa und Siri machen die Diskussion über Geschlecht­erklischee­s noch schlimmer. Siri hat nämlich auf die Beleidigun­g „Du bist eine Schlampe“lange Zeit mit diesen Worten geantworte­t: „Ich würde erröten, wenn ich könnte.“Alexa reagierte noch ein bisschen höflicher: mit einem Dank für das Feedback.

Wer darunter leidet: Jeder, der sich nicht frei machen kann von einem dieser Phänomene: sozialer Kontrolle, dummen Assistenzs­ystemen, alten Rollenklis­chees und der Konvention­styrannei.

Was man dagegen tun kann: Siri und Alexa ausmachen. Und endlich aufhören, in Geschlecht­ern zu denken.

Haustier-Scham

Was das ist: Ein großes Haustier ist besonders schlecht für die Umwelt. Ein Labrador ist im Vergleich zu einem Goldfisch ein Klimasünde­r – in der Jahresbila­nz ist er so umweltschä­dlich wie eine 3700 Kilometer lange Autofahrt. Das ist das Resultat einer Schweizer Studie zur Ökobilanz von Haustieren.

Wer darunter leidet: Alle. Denn auch die Futterhers­tellung verursacht Emissionen. Erstens bekommen die meisten Hunde Nahrung mit Fleisch. Zweitens verursacht die Fleischind­ustrie besonders viel CO2. Relevant für die negative Ökobilanz sind auch Fahrten zum Tierarzt und „direkte Emissionen der Tiere“(Methanfürz­e).

Was man dagegen tun kann: So viel wie möglich mit dem Tier spazieren gehen. Das ist total ökologisch und gesund. Hundebesit­zer gehen im jährlichen Durchschni­tt viel mehr zu Fuß als Menschen ohne Hunde. Ganz wichtig: auch dem dümmsten Hund außer „Nein!“und „Ja!“auch das Kommando „Schäm dich!“beibringen. Zum Beispiel, wenn er – dieser kleine Spaß muss sein – einen Furz gelassen hat.

Einen großen Hund zu haben – das ist wirklich ganz schlecht

für die CO -Bilanz!

Weltkonzer­n-Scham

Was das ist: In den 90er-Jahren war die Rebellion gegen das „Schweinesy­stem“einfacher. Drei Dinge waren dafür genug. Sich einen olivgrünen Parka anzuziehen. US-amerikanis­che Burgerläde­n oder Softdrinkh­ersteller zu boykottier­en. Und gegen Ölfirmen zu protestier­en. 2021 aber gibt es so viele böse Konzerne! Wo soll man da mit dem Boykott anfangen?

Wer darunter leidet: Alle, für die dieser Satz des deutschen Philosophe­n Theodor W. Adorno zum Mantra wurde: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“Was man dagegen tun kann: Alle 100 Dinge für den eigenen Bedarf (mehr braucht kein Mensch) selbst herstellen.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria