Fühlen Deutsche was?
Ja – speziell dann, wenn sie etwas falsch gemacht haben.
Haben sich die Menschen schon immer geschämt? Oder schämen sie sich nur wegen anderer Menschen? Über diese Fragen machen sich Philosophen schon seit mehr als 2000 Jahren viele Gedanken. Sicher ist: Für die Deutschen ist das Schämen zu einer wichtigen Sache geworden.
Aber nicht jeder schämt sich gleich. Der eine fühlt sich schlecht, wenn er in ein Flugzeug steigt (Flug-Scham, heute nicht mehr so relevant, auch Urlaubs-Scham nicht). Der andere, wenn er eine Wurst isst (Fleisch-Scham). Und schon Jugendliche kennen das Fremdschämen – sie schämen sich besonders intensiv für ihre Eltern. Denn der Mensch ist „Ehre und Scham des Universums“(Blaise Pascal). Haben wir jetzt der geschrieben? Entschuldigung, auch sie und es natürlich (Gender-Scham). Also der, die und das Deutsche. Ein Überblick.
Corona-Scham
Was das ist: Husten in der S-Bahn und der schnelle Satz: „Nein, es ist kein Corona!“Einen Ort besuchen, wo es weniger als zehn Quadratmeter Platz pro Person gibt. Und in diesem Moment an die coronasensible Kollegin denken.
Wer darunter leidet: Alle, die Corona nicht für eine Lüge halten.
Was man dagegen tun kann: Einen Corona-Test machen und allen sofort von dem negativen Resultat erzählen.
Kita-Scham
Was das ist: Nach der Corona-Scham kam die Kita-Scham. Ein Lockdown bedeutet für viele Eltern von kleinen Kindern Chaos: Arbeiten mit Kindergartenkindern im gleichen Raum ist fast schon Alltagsakrobatik. Wann macht die Kita wieder auf? Wer darunter leidet: Privilegierte Eltern: Sie arbeiten in einem systemrelevanten Beruf (Ärztin, Verkäufer, Polizistin, Journalist) und dürfen ihre Kinder deshalb in die Notbetreuung bringen.
Was man dagegen tun kann: Die Kinder der Nachbarn einladen, vielleicht zwei Tage lang? Und vorher Corona-Sonderurlaub beantragen.
Müll-Scham
Was das ist: Eigentlich muss jetzt auch noch der Tesafilm von der Verpackung weg. Und altes Öl in den Ausguss, das ist absolut tabu. Und warum brauchen wir für unser Obst eine neue Plastiktüte? Wer darunter leidet: Am meisten der Harmonie-Mensch. Denn der möchte bei der Mülltrennung alles richtig machen. Was man dagegen tun kann: TV-Dokumentationen über Länder ohne relevante Mülltrennungssysteme schauen. Oder noch einmal das Twitter-Weihnachtsfoto mit den Clintons vor dem Weihnachtsbaum. So viel Plastikmüll!
Fleisch-Scham
Was das ist: Mit seinem Song über die Currywurst traf Herbert Grönemeyer 1982 ein Lebensgefühl. Heute ist die Currywurst nicht mehr so wichtig und für viele auch nicht mehr richtig. Ein Kunde freut sich auf den Riesenschnitzel-Montag für 7,77 Euro. Aber auch er weiß: Ein Kilogramm Rindfleisch verursacht bis zu 14 Kilogramm CO2.
Wer darunter leidet: Das größte Problem mit der Fleisch-Scham hat die „Ich-esse-jahöchstens-einmal-die-Woche-Fleischund-wenn-dann-Bio“-Fraktion. Das Problem haben also immer mehr Menschen. Was man dagegen tun kann: Damit strenggläubige Christen auch am Freitag Fleisch essen konnten, haben sie Maultaschen gewählt. Der zweite Name: Herrgottsbescheißerle. Warum nicht auch eine Currywurst in Nudelteig verpacken? Atheistische Fridays-for-Future-Aktivistinnen brauchen aber ein Re-Branding: Gretazuliebeversteckerle vielleicht.
Anderssein-Scham
Was das ist: Das Gefühl, plötzlich ganz allein zu sein.
Wer darunter leidet: Menschen mit Haaren unter den Achseln und ohne Haare im Gesicht. Menschen, die in der Arbeit keine Wollmütze auf dem Kopf tragen und noch nie ein Baby gewickelt haben. Menschen, die noch einen Diesel fahren und Handys dumm finden.
Was man dagegen tun kann: Erst einmal ganz ruhig bleiben. Und manchmal nichts
sagen. Sonst wird man online #exposed. Und die eigene Wikipedia-Biografie bekommt dann ziemlich schnell ein „Kontroversen“-Segment.
Internet-Scham
Was das ist: Wer einmal googelt, benutzt so viel Energie wie eine 11-Watt-Energiesparlampe in einer Stunde. Es ist also der Moment gekommen, um sich endlich einmal zu schämen für das dumme Klicken die ganze Zeit. Internettechnik verursacht bis zu vier Prozent der globalen Treibhaus-Emissionen. Das behauptet der französische Think-Tank „The Shift Project“.
Wer darunter leidet: Alle. Beim Twittern, Instagrammen, Netflixen genauso wie die, die gerade einfach nur auf dem Sofa sitzen und in die Luft schauen.
Was man dagegen tun kann: Keine Pornos mehr schauen. Im Jahr 2018 waren 27 Prozent des globalen Online-VideoTraffics Pornos. Sagt der französische Think-Tank. Das sind mehr als 80 Millionen Tonnen CO2.
Geschlechter-Scham
Was das ist: Männer sind entweder Machos oder das Gegenteil, Softies. Und was sind Frauen? Tussis oder Emanzen. Ja, es gibt wirklich viele Möglichkeiten, sich für sein Geschlecht zu schämen. Die UNESCO findet auch: Alexa und Siri machen die Diskussion über Geschlechterklischees noch schlimmer. Siri hat nämlich auf die Beleidigung „Du bist eine Schlampe“lange Zeit mit diesen Worten geantwortet: „Ich würde erröten, wenn ich könnte.“Alexa reagierte noch ein bisschen höflicher: mit einem Dank für das Feedback.
Wer darunter leidet: Jeder, der sich nicht frei machen kann von einem dieser Phänomene: sozialer Kontrolle, dummen Assistenzsystemen, alten Rollenklischees und der Konventionstyrannei.
Was man dagegen tun kann: Siri und Alexa ausmachen. Und endlich aufhören, in Geschlechtern zu denken.
Haustier-Scham
Was das ist: Ein großes Haustier ist besonders schlecht für die Umwelt. Ein Labrador ist im Vergleich zu einem Goldfisch ein Klimasünder – in der Jahresbilanz ist er so umweltschädlich wie eine 3700 Kilometer lange Autofahrt. Das ist das Resultat einer Schweizer Studie zur Ökobilanz von Haustieren.
Wer darunter leidet: Alle. Denn auch die Futterherstellung verursacht Emissionen. Erstens bekommen die meisten Hunde Nahrung mit Fleisch. Zweitens verursacht die Fleischindustrie besonders viel CO2. Relevant für die negative Ökobilanz sind auch Fahrten zum Tierarzt und „direkte Emissionen der Tiere“(Methanfürze).
Was man dagegen tun kann: So viel wie möglich mit dem Tier spazieren gehen. Das ist total ökologisch und gesund. Hundebesitzer gehen im jährlichen Durchschnitt viel mehr zu Fuß als Menschen ohne Hunde. Ganz wichtig: auch dem dümmsten Hund außer „Nein!“und „Ja!“auch das Kommando „Schäm dich!“beibringen. Zum Beispiel, wenn er – dieser kleine Spaß muss sein – einen Furz gelassen hat.
Einen großen Hund zu haben – das ist wirklich ganz schlecht
für die CO -Bilanz!
Weltkonzern-Scham
Was das ist: In den 90er-Jahren war die Rebellion gegen das „Schweinesystem“einfacher. Drei Dinge waren dafür genug. Sich einen olivgrünen Parka anzuziehen. US-amerikanische Burgerläden oder Softdrinkhersteller zu boykottieren. Und gegen Ölfirmen zu protestieren. 2021 aber gibt es so viele böse Konzerne! Wo soll man da mit dem Boykott anfangen?
Wer darunter leidet: Alle, für die dieser Satz des deutschen Philosophen Theodor W. Adorno zum Mantra wurde: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“Was man dagegen tun kann: Alle 100 Dinge für den eigenen Bedarf (mehr braucht kein Mensch) selbst herstellen.