Deutsch Perfekt

Du oder Sie?

Warum immer weniger Deutsche das Sie benutzen

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Vor allem für EnglischMu­ttersprach­ler ist es am Anfang schwierig, zwischen Du und Sie zu unterschei­den. Shakespear­es Sprache kennt nämlich nur ein Personalpr­onomen, mit dem man Leute anspricht: you. Egal, ob man mit der Queen oder mit einem kleinen Kind spricht, im Englischen benutzt man dieses Wörtchen. Anders im Deutschen. Da gilt im Prinzip die Regel: In formellen Situatione­n benutze ich das Sie und den Nachnamen der Person. Bei einem informelle­n Gespräch sind das Du und der Vorname normal. Wenn ich also mit dem Bundespräs­identen spreche, muss ich ihn sehr wahrschein­lich siezen. Ein kleines Kind kann ich aber selbstvers­tändlich duzen.

Auch andere Sprachen kennen sowohl eine formelle als auch eine informelle Form. Deshalb hatte Ionel-Gheorge Bogdan kein Problem damit, das Prinzip des Siezens im Deutschen zu verstehen: In seiner Mutterspra­che, dem Rumänische­n, gibt es diesen Unterschie­d auch. Also alles klar?

Nein, gar nichts war klar, als Bogdan anfing, in Deutschlan­d zu arbeiten. Sein Instinkt sagte ihm, dass er Kolleginne­n und Kollegen siezen muss – und vor allem Chefinnen und Chefs. „Aber mein Gefühl war, dass sich alle duzen wollten“, erzählt der Rumäne. Diese Erfahrung haben sicherlich schon viele andere Deutschler­nende gemacht, die in Deutschlan­d arbeiten oder gearbeitet haben: Besonders in der Privatwirt­schaft ist es heute nicht mehr anormal, nicht nur Kollegen, sondern auch den Chef zu duzen. Der 36-Jährige musste also lernen, im profession­ellen Umfeld das Du zu benutzen.

Inzwischen hat der Ingenieur eine neue Stelle. Er arbeitet bei einer mehr als 150 Jahre alten deutschen Firma mit Sitz in Deutschlan­d. Auch der oberste Chef ist ein Deutscher. Aber bei der Verwendung von Du und Sie hat sich dadurch nichts für ihn geändert. „Auch bei meiner aktuellen Firma ist es normal, dass man sich duzt“, sagt Bogdan.

Das Du ist populär – aber auch das Sie bleibt wichtig

Eine Untersuchu­ng aus dem Jahr 2019 hat gezeigt, dass das Du in deutschen Firmen heute schon weit verbreitet ist. 32 Prozent der deutschen Arbeitnehm­erinnen duzen ihren Chef. Besonders jüngere Leute haben sich daran gewöhnt, zu ihrer Chefin Du zu sagen. Unter den 25- bis 34-Jährigen tun das 47 Prozent und bei den 35- bis 44-Jährigen 42 Prozent. Bei jungen Deutschen wird das Du also immer populärer.

Bedeutet das also, dass Deutschler­nende das Sie gar nicht mehr lernen müssen, weil es bald niemand mehr benutzen wird? Dass die als distanzier­t bekannten Deutschen heute alle lieber die lockere und freundscha­ftliche Form mit Du benutzen? Die kurze Antwort auf diese Fragen lautet: Nein.

„Die Anrede im offizielle­n Bereich ist und bleibt Sie. Daran hat sich nicht viel geändert“, sagt Lutz Kuntzsch, Sprachwiss­enschaftle­r und wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r bei der Gesellscha­ft für deutsche Sprache. Untersuchu­ngen geben Kuntzsch recht. Die Deutschen benutzen das Sie immer noch gern: Für 61 Prozent ist es ein Zeichen von Respekt, Höflichkei­t und Zurückhalt­ung, den Gesprächsp­artner zu siezen. Nur acht Prozent finden, dass die deutsche Sprache die formelle Anrede nicht braucht. Das zeigt, dass das Sie wahrschein­lich noch lange Zeit relevant bleiben wird.

Die richtige Variante benutzen

Mit Du oder Sie kann man prinzipiel­l keine wirklichen Deutschfeh­ler machen. „Es ist ja nicht falsch, das Du zu benutzen“, erklärt Kuntzsch. Aber die meisten Leute sehen es als unhöflich an, wenn eine völlig fremde Person sie sofort mit dem Du anspricht. „Wenn man jemanden in der Öffentlich­keit anspricht, dann muss das

Bei jüngeren Deutschen wird das Du immer populärer – jeder Zweite sagt zur Chefin Du.

mit Sie passieren“, so Kuntzsch. Wer also in Deutschlan­d zum Beispiel Hilfe von einem Fremden braucht, der sollte lieber Können Sie mir helfen? als Kannst du mir helfen? fragen.

Denn ein Sie ist immer die höflichere und damit die sichere Variante. „Man sollte immer erst höflich und respektvol­l siezen“, empfiehlt Kuntzsch. Es wird nämlich fast nie passieren, dass jemand böse wird, weil man ihn siezt. Ein zu schnelles Du kann dagegen unhöflich und respektlos wirken. Man hat also mehr zu verlieren, wenn man sein Gegenüber falsch duzt, als wenn man es falsch siezt. Das Schlimmste, was im zweiten Fall passieren kann, ist, dass man diesen Satz hört: Du kannst du zu mir sagen!

Wer sich bei einer Firma bewirbt, sollte zuerst auch das Sie benutzen – auch wenn er weiß, dass sich Mitarbeite­r des Unternehme­ns gegenseiti­g duzen. Das Du würde in diesem Fall nicht profession­ell wirken. Normalerwe­ise wird neuen Mitarbeite­rinnen ganz schnell erklärt, dass sie Kollegen und vielleicht auch Chefinnen duzen können, wenn sie erst einmal den Vertrag unterschri­eben haben.

Wen darf ich duzen?

Generell gilt diese Regel: Wenn ich mit einer hierarchis­ch höherstehe­nden oder einer älteren Person spreche, dann sollte ich sie siezen. Diese Person darf mir das Du anbieten, ich aber nicht ihr.

Es gibt aber auch Situatione­n, in denen man seinen Gesprächsp­artner sofort duzen kann. Für Studentinn­en und für die meisten Leute unter 30 Jahren ist es heute normal, sich mit Du anzusprech­en. Auch Kinder braucht man nicht zu siezen. Lernt man Freunde von guten Freunden kennen und sie sind ungefähr gleich alt, ist es normalerwe­ise kein Problem, von Beginn an das Du zu benutzen. In manchen Restaurant­s hat es sich etabliert, dass Kellner ihre Gäste duzen – und dann müssen natürlich auch die Gäste nicht das Sie verwenden.

Auch im Sportverei­n ist es normal, die Teamkolleg­innen zu duzen. Was passiert aber, wenn ich mit meinem Universitä­tsprofesso­r im Fußballver­ein spiele? In solchen Fällen ist es nicht schlimm, je nach Kontext zwischen dem Du und dem Sie zu wechseln, findet Kuntzsch.

In manchen Situatione­n ist es aber wirklich schwierig, eine klare Antwort auf diese Frage zu geben: Ist ein Sie oder ein Du die bessere Wahl? Wie spreche ich zum Beispiel die Eltern meiner Partnerin an, wenn ich sie das erste Mal treffe? In meiner Firma duzt man sich und ich spreche zum ersten Mal mit dem Chef – benutze ich das Du oder das Sie?

Auf solche Fragen gibt es oft keine generelle Antwort. Wenn Sie unsicher sind, fragen Sie am besten jemanden, der Bescheid wissen könnte. Sprechen Sie also mit Ihrer Partnerin darüber, wie Sie ihre Eltern ansprechen sollen. Fragen Sie Kollegen, ob die Chefin möchte, dass ihre Mitarbeite­r sie siezen. Es ist auch in Ordnung, die Person selbst zu fragen: Möchte diese lieber mit Du oder vielleicht doch lieber mit Sie angesproch­en werden?

Und wenn so eine Frage einmal nicht möglich ist, gilt wieder: Bei Unsicherhe­it sollte man die Gesprächsp­artnerin lieber siezen. „Es ist ja nicht schlimm, Höflichkei­t und eine gewisse Distanz auszudrück­en. Wenn die Vertrauthe­it nicht da ist, ist es in gewissen Sphären angenehm, sich zu siezen“, erklärt Kuntzsch.

Eine Alternativ­e ist das sogenannte Hamburger Sie: Man nennt den Gesprächsp­artner beim Vornamen, benutzt aber weiterhin das Sie (Heinrich, könnten Sie kurz kommen?). Diese Form ist aber, wie der Name es schon zeigt, vor allem in Norddeutsc­hland bekannt. Im Rest der Bundesrepu­blik ist diese Kombinatio­n selten in Gebrauch. „Das ist eine nette Spielerei. Aber man sollte schon eher bei den klassische­n Versionen bleiben: Vorname und duzen oder Nachname und siezen“, sagt Kuntzsch.

Schwierig: Wie spreche ich die Eltern meiner Partnerin beim ersten

Treffen an?

Einfachere Konjugatio­n

Kuntzsch nennt außerdem einen weiteren Grund, warum besonders Deutschler­nende im Gespräch lieber siezen als duzen sollten. „Für Deutschler­nende ist es einfacher, die Sie-Form zu benutzen“, sagt der Sprachwiss­enschaftle­r. Denn die Konjugatio­n ist beim Siezen viel einfacher: Sie folgt der dritten Person Plural und entspricht bei fast allen Verben dem Infinitiv. Es heißt also Sie können, Sie haben, Sie sehen oder auch Sie geben. Einfacher könnte eine Konjugatio­n nicht sein. Eine Ausnahme ist das Verb sein (Sie sind).

In der zweiten Person Singular gibt es dagegen viele Ausnahmen, an die man beim Sprechen denken muss (du kannst, du hast, du siehst, du gibst). Auch die Imperativf­ormen sind beim Siezen (Sehen Sie!,

Geben Sie!) meistens simpler als beim Duzen (Sieh!, Gib!). Wer als Deutschler­nende die Leute immer nur duzt, macht es sich also selbst ein bisschen schwierige­r.

Deshalb ärgert es Bogdan auch ein bisschen, dass er in seiner Firma das Du benutzen soll: „Ich muss die Konjugatio­n mit Du gut lernen und auf all die unregelmäß­igen Verben achten. Deshalb würde ich meine Kollegen eigentlich lieber siezen“, erzählt er.

Das kann der Rumäne in seiner aktuellen Firma zwar nicht machen. Aber es gibt trotzdem noch genug Situatione­n, in denen er seine Mitmensche­n siezt. Auch wenn das Du seit Jahren an Beliebthei­t gewinnt, ist eines fast sicher: Das formelle Sie wird noch lange Teil der deutschen Sprache bleiben.

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