Aus Kitsch wird Kult
Wer Schwarzwald hört, denkt an traditionelle Produkte und friedliche Idylle. Ein Besuch bei Menschen, die diese Klischees radikal ändern. Von Gunnar Herbst; Fotos: Philipp von Ditfurth
Wer Schwarzwald hört, denkt an traditionelle Produkte und idyllische Landschaften. Ein Besuch bei Menschen, die dieses Klischee radikal ändern – und das nicht erst seit gestern.
Der kleine Weg führt immer tiefer in den Wald, hinab zum Wilden See, vorbei an Bäumen, vielen verschiedenen Bäumen. Gemütlich ist der Wald hier, unaufgeräumt und wild. Fast komplett natürlich. Ab und zu blockiert ein umgestürzter Baum den Weg.
Im Nationalpark Schwarzwald kann die Natur tun, was sie will. Der Mensch tut dort fast nichts. In manchen Teilen schon seit mehr als 100 Jahren. Auch der Borkenkäfer darf in der innersten Nationalparkzone tun, was er will. An manchen Stellen stehen deshalb keine großen Bäume mehr. Dort wächst neues Leben: Büsche, junge Bäume. Im Wirtschaftswald gilt er als Schädling. Aber im Naturwald sieht man ihn als Teil des Ökosystems, der eine neue Phase startet. Veränderung. Nichts bleibt, wie es ist.
Der Schwarzwald ist zu zwei Dritteln wirklich Wald. Schon immer leben die Menschen dort mit ihm, von ihm. Waldarbeiter, Bauern und Sägewerkbesitzer verdanken ihm ihre berufliche Existenz, auch manche Erfindung. So nutzten die Bauern die langen Winter, um zu drechseln, mit Holz zu basteln. Dabei entstand Neues. Vieles davon beeinflusst das Image der Region bis heute.
Schwarzwald? Das sind idyllische Täler, die Hexenloch heißen. Bauernmädchen in Trachten. Kirschwasser nach der Mahlzeit, Kirschtorten zum Kaffee. Altmodische Kurorte mit dem Charme der 70er-Jahre. Auch aus Mythen, Märchen und TV-Serien ist er international bekannt. Es sind starke Klischees, die bei vielen noch immer in den Köpfen sind.
Dabei ist der Schwarzwald schon lange in der Gegenwart angekommen. Kommunen investieren in Wanderwege und Mountainbike-Trails, Hotels in Wellness und neue Gebäude, Restaurants modernisieren Einrichtung und Speisekarte. Seitdem es weniger Kuren gibt, bemüht man sich stärker um Touristen. Und Menschen wie Conny (59) und Ingolf Haas (58), die in Schonach Uhren herstellen, überdenken alte Klischees. Wer vom Nationalpark zu ihnen fährt, kommt an der weltgrößten Kuckucksuhr vorbei. Die gibt es gleich zweimal, als begehbare Häuser, wenige Kilometer voneinander entfernt.
Erfunden wurde die Kuckucksuhr um 1738. Ingolf Haas stellt in vierter Generation Uhren her, in einem Bauernhaus wurde Rombach & Haas 1894 gegründet. Heute arbeiten hier neun Angestellte. Vor 15 Jahren hat das Ehepaar Haas die traditionelle Kuckucksuhr komplett verändert. „Wir wollten sie vom Kitsch
Schon lange ist der Schwarzwald in der Gegenwart angekommen.
befreien“, erzählt der Vorsitzende des Vereins „Die Schwarzwalduhr“. „Viele haben uns belächelt, beleidigt, sogar Gewalt angedroht. Die Kuckucksuhr trifft einen Nerv: Für die meisten ist sie ein Stück Heimat.“Trotzdem stieg der Umsatz bei den neuen Modellen um bis zu 50 Prozent, während sich die traditionelle Uhr immer schlechter verkaufte.
Im Laden hängen die bunten Kästen, mit denen alles begann. Auf anderen Modellen ist ein Hirschkopf, sogar aus Art-déco- und Bauhaus-Uhren springt ein Vögelchen. Beim Bestseller kann man durch eine Glasscheibe das Innere sehen. „Wir wollen Lebensfreude herstellen“, sagt Ingolf Haas.
Prinz William und Herzogin Kate besitzen ein Modell von Rombach & Haas. Der Nationalfußballtrainer Jogi Löw hat sich ein Exemplar in SchwarzRot-Gold machen lassen. Angela Merkel schenkte Wladimir Putin eine Uhr, mit einem Bundesadler darauf.
Auch Schilderuhren, von Conny Haas handbemalt, gehören zum Sortiment, dazu traditionelle Kuckucksuhren, mal dunkel, mal bunt, alles ist möglich. „Wir haben uns eine große Freiheit geschaffen, die wir sehr lieben“, sagt Ingolf Haas. Bald wird Tochter Selina den Betrieb übernehmen, um die junge Tradition moderner Kuckucksuhren fortzuführen.
Die Kunst der guten Form
Das Bernauer Hochtal, rund 50 Kilometer südlich. Hier ist der Schwarzwald weiter als im Norden, mehr grüne Wiesen, weniger Wald. Um 1850 lebten etwa 200 Waldbauern in Bernau. Sie produzierten Gebrauchsgegenstände wie Kochlöffel oder Schneidebretter. In einem 200 Jahre alten Haus hat Alexander Ortlieb Holzwerkstatt und Laden. Gerade drechselt er eine Pfeffermühle. Er braucht dafür 27 Arbeitsschritte.
Ortlieb ist Drechsler in erster Generation. Als er sich in den 80er-Jahren selbstständig machte, hatte er es schwer, seine Schalen in den Handel zu bringen. Wer am Telefon „Schwarzwald“hörte, lehnte dankend ab. Das Kopfkino zeigte verschnörkelte Formen. „Dabei wollte ich es schon damals anders machen: moderner, schlichter, zurückhaltender, wertiger“, erzählt der 61-Jährige.
In Ortliebs Laden stehen Schalen, Vasen, Hocker aus Holz. Die Kunst der guten Form in bester Bauhaus-Tradition. Wobei Ortlieb das Wort Kunst nicht gern hört. „Ich sehe mich als Handwerker, der schöne Gebrauchsgegenstände macht, mit hohem Anspruch an die Qualität“, sagt er. Seine Produkte haben Preise bekommen, sogar im Museumsladen vom Museum of Modern Art in New York wurden sie schon verkauft.
Das meiste Holz kommt aus dem Schwarzwald. „Ich mag, dass es warm und lebendig ist“, sagt Ortlieb. „Wenn man eine Schale dreht, weiß man nie, was rauskommt – ein Ast, eine Verwachsung, eine besonders schöne Maserung.“Made in Black Forest ist zu einem Zeichen für Qualität geworden. Firmen verkaufen Kirschkuchen in Dosen, kleben schicke Labels auf Weinflaschen oder interpretieren Trachten neu, oft ein bisschen ironisch. Wie das aussieht, ist im Atelierladen von Kim Schimpfle in Freiburg zu sehen.
Schwarzwald Couture heißt ihr Label, das sie 2010 gründete. Ihre erste Modenschau zeigte sie 1996. „Damals habe ich an Trachten noch gar nicht gedacht. Aber die Form war ähnlich: unten weit, oben schmal.“Und ganz besonders mochte sie bereits den Künstler Stefan Strumbel. Der dekonstruierte Heimatsymbole, indem er etwa Frauen mit Gewehr, Palästinensertuch und Bollenhut druckte.
Ihr erstes Schwarzwaldkostüm nähte Schimpfle auf Wunsch einer Kundin. Seitdem hat die 45-Jährige ihre Nische gefunden. Der Schwarzwald ist in allem zu sehen: Schimpfle lässt Motive von alten Postkarten in Stoffe weben. Hirsche,
Made in Black
Forest ist inzwischen ein modernes Zeichen für
Qualität.
Bäume, Kirschen schmücken ihre Dirndl, auch das Schwarzwaldmädel aus dem legendären Film von 1950, der international unter dem Titel The Black Forest Girl bekannt wurde. Sie macht Jacken, Mäntel, T-Shirts, Taschen – und Corona-Masken, mit Kuckucksuhr darauf. Auch Herren finden etwas bei ihr. Für sie näht die Modedesignerin Westen, auf Wunsch aus demselben Stoff wie das Dirndl der Frau.
Zukunft durch Gin
Auch die Boar Distillery in Bad PeterstalGriesbach hat eine Tradition modernisiert. Rund 1000 Brennereien gibt es im Renchtal, die meisten stellen Obstbrände her, wie Familie Kessler – bis die sechste Generation 2013 beschloss, Gin zu brennen: Markus Kessler (34), Torsten Boschert (39), Hannes Schmidt (44). Die drei kennen sich aus dem Musikverein. „Nach einer Probe haben wir überlegt, wie sich die Brennerei weiterentwickeln muss, damit sie überlebt“, erzählt Schmidt.
Obwohl nicht jeder in der Familie Kessler an den Erfolg glaubte, versuchten die drei Gründer es. „Über anderthalb Jahre haben wir jede Woche gebrannt, probiert, verworfen, verfeinert“, sagt Schmidt. Anfang 2016 kam dann der Premium Dry Gin auf den Markt.
Heute brennt Boar fünf Gin-Sorten, 19 sogenannte Botanicals werden dafür verwendet: getrocknete Zutaten von Lavendel, Thymian bis Rosenblüten und Schwarzwälder Trüffel. Der Region fühlt sich die Firma verbunden, das Logo zeigt Hirsch und Kuckucksuhr.
Seit 2016 hat Boar die Produktion mehr als verzehnfacht – auch dank mehr als 50 Preisen, etwa bei den World Spirits Awards. Und Boar will weiterwachsen. Familie Kessler lässt die Gründer machen. Schon lange ohne jeden Zweifel.