Zentral ist nicht das (manchmal nicht ganz explizite) Buch, sondern sein Thema. Und die Art, wie die Öffentlichkeit es sieht.
Februar 2020. Drei Jahre, nachdem Wertheimer das erste Mal nach Berlin ins Bundesverteidigungsministerium eingeladen wurde, sitzt er dort wieder an einem Tisch. Grauer Boden, auf dem Monitor ist das Bundeswehrlogo zu sehen. Wertheimer trägt Pullover, Jackett und randlose Brille. Als er über sein Projekt erzählt, ist die Corona-Pandemie schon in Europa angekommen. Ihm gegenüber: Frank Richter, Referatsleiter für Strategieentwicklung und großer Leser der Schriftsteller Ernst Jünger und Stefan Zweig, wie er erzählt. Außerdem dabei: Felicitas Weileder von der Presseabteilung. Sie soll darauf achten, dass niemand etwas Falsches sagt. (Als Richter von seiner Jünger-Liebe erzählt, schaut er kurz zu Weileder herüber.)
„Gute Schriftsteller erkennen Strukturen des Denkens und überzeichnen sie bis zur Kenntlichkeit. Sie können einen katalysierenden Moment einleiten“, sagt Wertheimer. Goethe konnte das, sagt der Professor. In den Leiden des jungen Werthers zum Beispiel: „Da schreibt ein 23-Jähriger eine höchst private Geschichte – und Zehntausende erkennen sich in diesen Leiden wieder, begehen Selbstmord.“Wenn das kein Grund ist, Literatur sicherheitspolitisch ernst zu nehmen.
Die Idee hat am Anfang an seiner Universität in Tübingen bei Stuttgart nicht allen gefallen. Die Universität gilt traditionell als links, sagt Wertheimer. Gegen die Kritik half, dass Cassandra ja nicht speziell militärisch ist. Am Ende findet er: „Wenn es ein Medium gibt, das
Krieg und Terror ungeschminkt beschreibt, dann ist es die Literatur. Sie simuliert die Realität bis zur Schmerzgrenze. Und auch die Bundeswehr interessiert sich vor allem für diese Realität. Deshalb sind wir, von der Interessenlage her, eigentlich gar nicht so verschieden.“
In Tübingen machte man sich also an die Arbeit. Tausende Bücher aus den früheren und aktuellen Krisenländern Nigeria, Algerien, Kosovo und Serbien analysierte Wertheimer mit seinem Team, Isabelle Holz und Florian Rogge.
Am Anfang dachte man darüber nach, den Prozess zu automatisieren, erzählt Isabelle Holz am Telefon. In E-Books kann man nach Wortkombinationen suchen, denen bestimmte Emotionen zugeordnet werden. Schwierig wird es aber bei ironischer oder metaphorischer Sprache. Außerdem gibt es die wenigsten Romane aus diesen Ländern als E-Book.
Man entschied sich deshalb, die Bücher nur „anzulesen“. Wichtiger war die Rezipientenseite – also die Bewertung der Werke durch die Öffentlichkeit. Das können zum Beispiel Rezensionen in Tageszeitungen und im Internet sein. Das heißt: Zentral ist nicht das (manchmal nicht ganz explizite) Buch, sondern sein Thema. Und die Art, wie es von der Öffentlichkeit bewertet und in existierende Narrative eingebunden wird.
Die Resultate werden auf einfache Symbole reduziert: Abhängig davon, wie viele narrative Erschütterungen der Cassandra-Seismograf misst, bekommt die