Wer in Büchern und Kulturteilen von Zeitungen nach Debatten sucht, ignoriert der nicht die wirkliche verbale Eskalation draußen auf der Straße?
Region eine Farbe – Gelb, Orange oder Rot (ein bisschen wie manche Corona-Ampeln). Wie das BMVg, das bis jetzt einen sechsstelligen Betrag in das Projekt investiert hat, diese Informationen nutzt, will es noch nicht entscheiden: Die Literaturanalyse nennt das Ministerium ein Element von vielen bei der Arbeit an Strategien.
Bleibt die Frage, wie die Definitionen der Erschütterungen aussehen. Welche Narrative sieht das Tübinger Team als potenzielle Gefahr für den Frieden? „Grundsätzlich alle Erzählungen, die die Unterschiede zwischen Gruppen betonen“, sagt Holz.
Ein Problem ist zum Beispiel eine starke Opferperspektive, weil sie „oft einseitig und emotional“ist. Während die Literaturwissenschaftler in Ex-Jugoslawien oder Algerien eine sehr reflektierte und inklusive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte erkennen können, sehen sie das in Nigeria kritisch.
Seit 2015 ist zum Beispiel Things Fall Apart von Chinua Achebe in Südostnigeria wieder populär. Der 1958 geschriebene Roman gilt als eines der wichtigsten Beispiele postkolonialer Literatur. Das Werk erzählt die Geschichte eines Igbo-Dorfes, dessen stabile patriarchale Gesellschaft durch christliche Missionare große Probleme bekommt. Die Igbo waren es, die eine Dekade später versuchten, sich vom künstlichen Vielvölkerstaat Nigeria zu trennen. Das war der Anfang des Biafra-Kriegs.
„Things Fall Apart ist an sich kein problematisches Werk, ganz im Gegenteil“, sagt Holz. Kritisch wird es durch die Rezipientenseite, durch radikale Plattformen wie Radio Biafra: „Es wird eingebettet in das Narrativ einer eigenen Igbo-Identität.“Die muss verteidigt werden, finden Plattformen wie dieses Radio.
Oktober 2020. Wertheimer am Telefon. Inzwischen hat die Corona-Krise Cassandra stark gebremst. Geplant waren Treffen in Spanien mit Schriftstellern, um gemeinsam Literaturlisten zusammenzustellen. Aber sie konnten nicht stattfinden.
Auch die Finanzierung des Ministeriums ist unsicher. Das Projekt wurde erst einmal nur bis zum Ende des Jahres verlängert. Durch die Krise hat Wertheimer vor allem eines verstanden: Das Kassandra-Phänomen ist virulent. Kassandra sagte die Zukunft voraus, wurde dabei aber von niemandem gehört. So erzählt es der Mythos. Genauso war es auch mit dem Virus: Viele haben die Warnungen von Wissenschaftlern einfach ignoriert.
Los ging es mit den Warnungen des Arztes Li Wenliang. Der musste unterschreiben, dass es keinen Grund gibt, vor etwas zu warnen. Der Rest der Geschichte ist bekannt: mehr als eine Million Tote auf der einen Seite – einer davon Li Wenliang. Auf der anderen Seite radikale Verharmloser. „So wie sich die diskursive Lage in Deutschland in den letzten Monaten verändert hat“, sagt Wertheimer, „wäre es auf unserer Konflikt-Karte inzwischen selbst mindestens gelb.“
Sicherlich, man hätte manch einen Virologen, Ärzte, Statistikexperten früher ernst nehmen können. Wie
aber kann die Literaturwissenschaft in der Krise helfen? Nicht Schriftsteller scheinen die Storyteller der Pandemie zu sein, sondern Demagogen wie der Koch und Bestsellerautor Attila Hildmann. Sie kombinieren Klischees und falsche Informationen mit dem Virus.
Corona verharmlosen sie dabei genauso wie den Klimawandel oder die Flüchtlingskrise. Die Literatur, die diese Ignoranz brechen kann, weil sie multiperspektivisch, empathisch sein kann: Ist sie nicht zu langsam, um in spontanen Krisen wie dieser aktiv an den großen Narrationen mitzuwirken? Soll heißen: Wer in Büchern oder auf den Kulturseiten von Zeitungen nach Debatten sucht, ignoriert der nicht die wirkliche verbale Eskalation draußen auf der Straße?
„Die Literatur ist zwar wie eine Schnecke“, antwortet Wertheimer am Telefon. „Allerdings eine Schnecke, deren Fühler weit nach vorne reichen. Sie reichen in die Zukunft.“Er kennt eine breite Literatur, die vor Jahren „strukturell auf Realitäten hingewiesen“hat. Zum Beispiel Juli Zehs Roman Corpus Delicti über eine Gesundheitsdiktatur. Viele Romane bekamen Dekaden, nachdem sie publiziert wurden, plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Sie wurden im neuen zeithistorischen Kontext neu interpretiert. Mythen, aus denen plötzlich neue Konflikte werden. Das alles soll Cassandra messen.
„Natürlich behaupten wir nicht, den alles überragenden Zugang zu menschlichen Konflikten zu haben“, sagt Wertheimer am Ende des Telefongesprächs. Aber die Wissenschaftler wollen, dass die Literatur wenigstens „überhaupt einmal gehört und ernst genommen wird.“
Durch die Krisen – Corona genauso wie das Klimaproblem – hat die Politik gemerkt, wie wichtig Prognosen sind, glaubt der Professor. Und dass sie reagieren muss, bevor sich die Situation kaum mehr kontrollieren lässt. „Leider setzt die Politik jetzt fast ausschließlich auf Big Data und KI.“
Für Kulturwissenschaften hätten die Ministerien oft keine Budgets mehr frei – sie konzentrieren sich auf das, was sie „systemrelevant“finden. Eigentlich müssten sich beide Seiten ergänzen, findet Wertheimer: „Wir gehen dorthin, wo automatisierte Textanalysen nicht hingelangen können.“Er meint die Sektoren von Assoziationen und Ambivalenzen. Verstehen Politiker das nicht mehr? Der Professor findet das gefährlich. „Dann droht uns eine Steuerungs-Technokratie“, sagt er.
Infektionsketten werden zu Informationsketten, dann zu Maßnahmenketten: Die Pandemie hat einen globalen Mechanismus ausgelöst, der absolut und komplett automatisiert zu sein scheint.
Und das Buch, dieses Produkt, das so schön langsam ist? Es wirkt wie ein Anachronismus unserer Zeit. Wir sollten nicht zu wenig von ihm erwarten. Denn in einem dieser Zukunftsromane glauben wir das schon einmal gelesen zu haben. Die Frage ist nicht, ob Literatur die Zukunft vorhersagen kann. Sondern, ob ihre Vorhersagen – anders als die der Kassandra – gehört werden.