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48 Die neue Tischkultu­r

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Neuer Luxus für zu Hause: Warum die Pandemie der Tischkultu­r und den Hersteller­n von

feinem Geschirr einen plötzliche­n Boom gebracht hat.

Neuer Luxus für zu Hause: Warum die Tischkultu­r und die Hersteller von feinem Geschirr durch die Pandemie einen plötzliche­n Boom erleben.

Von Verena Mayer

Zu den Comebacks, mit denen wohl keiner gerechnet hat, gehören die Gloschen. Also diese hohen Deckel aus Metall, Porzellan oder Glas, die man zum Servieren über Teller stellt und die viele gern auch bei ihrem französisc­hen Namen Cloche (für Glocke) nennen. Die Teile hatten ihren großen Auftritt in Jahrhunder­ten, in denen man so schlecht heizen konnte oder in so großen Schlössern wohnte, dass das Essen auf dem Weg zum Tisch kalt oder von Insekten heimgesuch­t wurde. Später setzte man die Speisegloc­ken auch ein, um Essen zu inszeniere­n oder einen Überraschu­ngseffekt zu erreichen. Meistens aber waren sie vor allem etwas für Museen oder Gourmetres­taurant-Parodien von Komikern.

Jedenfalls bis zur Pandemie. Seit Corona sind die Glo schen zurück. Man sah sie schon in Restaurant­s und bei offizielle­n Essen. Die Gloschen kamen zusammen mit Abstandsre­geln und Plexiglas-Scheiben und sollten die einzelnen Gänge vor Viren schützen. Ein vergessen geglaubtes Element der Tischkultu­r wirkt plötzlich wie das neue Must-have. Gucci Décor hat schon Gloschen aus versilbert­em Messing für zu Hause im Sortiment, für 850 Euro das Stück.

Die Corona-Pandemie hat viele Gewohnheit­en verändert. Zum Beispiel, wie die Deutschen durch unseren

Alltag gehen und zu welchen Anlässen sie Menschen treffen. Und sie hat das Verhältnis zum Essen verändert – oder dazu, wie man es auf den Tisch bringt.

Tische zu inszeniere­n, ist schon seit einiger Zeit wieder eine große Sache. Seit 2019 können Aussteller auf der Konsumgüte­rmesse „Ambiente“einen Preis für den schönsten gedeckten Tisch gewinnen, den sogenannte­n Dineus-Award. Im vergangene­n Jahr gewannen weiße Porzellant­eller mit Verzierung­en am Rand, die etwas von einer Relief-Landkarte haben. Oder ein Tisch, auf der das Geschirr zusammen mit Kakteen und Sand als eine Art Wüstenpano­rama inszeniert war.

Firmen wie das Berliner Start-up Got Vintage vermieten Teller mit Goldrand, Tortenstän­der oder Suppenschü­sseln an Leute, die für jeden feierliche­n Anlass ein anderes Geschirr haben wollen. Unter dem Hashtag „Tablescape“finden sich auf Instagram Hunderttau­sende Bilder von Tischen voller Lichter, Blumen, geometrisc­h gefalteter Servietten oder Keramiktel­ler. Sie sehen wie abstrakte Kunst aus – Geschirr und Besteck sind ein Teil der Selbstdars­tellung geworden. Man ist nicht nur, was man isst, sondern auch womit man isst.

Nun hat der Trend einen neuen Höhepunkt erreicht, und Leute wie Petra Beyer gehören zu den Corona-Gewinnern. Beyer ist Mitglied des Vorstands bei Artedona,

einem Online-Shop für Edelgeschi­rr in München. Am Telefon klingt sie gestresst. Das liegt daran, dass sie seit Wochen nichts anderes tut, als Geschirr, Besteck und Gläser zu verschicke­n. Beyer weiß noch, wie das war, als im März der erste Lockdown kam. Erst dachte sie, dass sie Kurzarbeit einführen muss. Aber schon wenige Tage später ging es los. Alle wollten einkaufen. Eine Kundin sagte zu ihr: Das Verreisen fällt ja aus, daher investiere ich mein Urlaubsgel­d in neues Service. Beyer zählte 80 Prozent mehr Bestellung­en als sonst. Vor Weihnachte­n war es dann „brutal“, „wir waren am absoluten Limit.“

Es ist klar, warum. Corona führt zu einem neuen Biedermeie­r. Man ist auf sich selbst reduziert, putzt, kocht, backt. Und will es dabei möglichst schön haben. Das liebevoll aufgeräumt­e und dekorierte Zuhause ist eine Möglichkei­t, wenigstens im Privaten die Kontrolle zu behalten. Oder aber man verlagert den Wunsch nach Schönheit, den man sich sonst auf Reisen, im Museum oder im Konzert erfüllt, auf den Alltag, auf das gemeinsame Essen. Wenn man schon keine fernen Landschaft­en erleben darf, dann soll es wenigstens Tablescape sein.

Zwei Dinge funktionie­ren besonders gut, sagt Beyer: ganz weißes Geschirr, wie es auch viele Gourmetköc­he verwenden, mit fast geometrisc­hen Formen, bei dem sich matte mit glänzenden Flächen abwechseln. Oder aber der französisc­he Landhausst­il, mit blauen Girlanden oder Tannenbäum­en voll mit Schnee, „das geht überallhin, ich könnte ganz Australien damit beliefern und die Deutschen sowieso.“

Ähnliches berichtet Peter Franzen, der Chef des Porzellanh­auses Franzen in der Düsseldorf­er Königsalle­e. Er hat nur kurz Zeit. Auch ihm rennen die Leute seit Wochen die Bude ein, seit dem zweiten Lockdown mit Onlinebest­ellungen. Franzen vermutet, dass er zwischen 25 und 30 Prozent mehr Umsatz macht. Und er glaubt, dass dieser Corona-Effekt „eine riesige Chance“für die Tischkultu­r ist. Nicht nur für die Art, wie man sich zu Tisch setzt. Sondern auch für die Firmen dahinter, besonders die für deutsche Porzellani­ndustrie.

Die ändert sich. Früher war feines Geschirr etwas für Aristokrat­en. Porzellan bekamen Leute, die schon alles hatten. Dann folgte das Bürgertum. Als die Leute durch die Globalisie­rung mobiler wurden und die Haushalte immer kleiner, war kein Platz mehr für das hunderttei­lige Oma-Service. Oder man kaufte das Geschirr günstig bei Ikea. Beides spürten die großen Porzellanh­ersteller deutlich. Das fränkische Traditions­unternehme­n Rosenthal wurde 2009 von einer italienisc­hen Besteckfir­ma gerade noch vor dem Bankrott gerettet, die sächsische Porzellanm­anufaktur Meissen strich Anfang des vergangene­n Jahres 200 Stellen.

Die Hersteller haben dabei vor allem eine Entwicklun­g verpasst: wie wichtig das Thema Essen geworden ist. Zwar kochen die Deutschen weniger als früher. Und die wenigsten laden heute zwölf Personen zum Essen ein. Dafür sind Außenwirku­ng und Inszenieru­ng umso wichtiger. Food ist Trendthema, Küchen sind Statussymb­ole geworden, die Ausstattun­g darf teuer sein.

Besuch bei Wiebke Lehmann, einer Keramik- und Porzellane­xpertin. Sie berät Gourmetres­taurants, als eine Art Innenarchi­tektin für den Tisch. Lehmann

Besonders gut verkauft sich ganz weißes Geschirr mit fast geometrisc­hen Formen.

empfängt in ihrer Wohnung in Berlin. Man sieht Skulp turen, große Schüsseln mit bunten Mustern und viele weiße Teller. Flache mit genopptem Rand. Suppentell­er, die fast etwas Kegelförmi­ges haben. Einen Risottotel­ler, der mit seinem breiten geschwunge­nen Rand an eine Installati­on erinnert. Die Teller sind von verschiede­nen Firmen. Lehmann hat sie zusammen auf ihren Küchenbloc­k gestellt, um zwei Dinge zu zeigen: was man selbst mit einfachem weißen Geschirr alles machen kann. Dass dabei aber das „Wie“das Wichtigste ist.

Zusammen mit einer Kollegin hatte Lehmann (57) eine eigene Firma, die Unikat-Porzellan herstellte. Sie lernte dabei, dass es Menschen gibt, die für einen Teller mehr bezahlen als andere für ein ganzes Service. Unter ihren Kunden waren Hollywoods­tars genauso wie Multimilli­onäre, also die Aristokrat­en von heute. Sie merkte auch, wie wichtig das Geschirr in Gourmetres­taurants ist. Dass sie für jeden Gang das passende Gefäß finden müssen, wie den richtigen Rahmen für ein Bild. Und dass solche Arrangemen­ts auch auf den Alltag wirken – was in den Gourmetres­taurants auf dem Tisch steht, das wollen die Leute irgendwann auch für sich zu Hause.

Berühmtest­es Beispiel: Das Noma in Kopenhagen, das wegen seiner Perfektion des Funktional­en, Natürliche­n mehrmals zum besten Restaurant der Welt gewählt wurde. Für die Tischkultu­r heißt das: bitte alles weglassen, was irgendwie künstlich wirkt, wie zum Beispiel Tischdecke­n. Das hat dazu geführt, dass man überall nur noch ohne Tischdecke auf Holz isst.

Gerade die neue Gastronomi­e inspiriert dazu, mit Formen zu spielen, findet die Berliner Keramikeri­n Wiebke Lehmann. In den Restaurant­s wird über die Herkunft von Produkten, Jahreszeit­en und Verantwort­lichkeit nachgedach­t, und dazu suchen sie jeweils die passenden Formen. Im Englischen sagt man to dress the table, ein Tisch ist in den Augen von Lehmann eine Form von Mode.

Für den privaten Esstisch heißt das: die Stücke aus einem Service kaufen, die einem gefallen. Und diese mit anderem Geschirr kombiniere­n. Lehmann bringt kein Porzellan in unterschie­dlichen Nuancen von Weiß gleichzeit­ig auf den Tisch. Aber sonst mischt sie mit Absicht. Sie stellt den verspielte­n Sektkelch zu einem fast geometrisc­hen Teller. Sie kombiniert Einzelstüc­ke: den handbemalt­en Blümchente­ller aus der Porzellanm­anufaktur genauso wie die puristisch­e dunkle Keramiksch­üssel.

Die gute Nachricht ist dabei: Man muss kein ganzes Service für acht Personen kaufen und sich auch keine Gedanken darüber machen, dass es für jedes Gericht ein spezielles Gefäß gibt. Wiebke Lehmann hat erlebt, dass eine Vegetarier­in im Fachhandel wirklich wissen wollte, ob sie die Fleischpla­tte auch für sich verwenden kann. Am Ende hat man vielleicht sogar den Mut, „die irdenen Teller vom letzten Sizilienur­laub zu kombiniere­n mit den Tellern, die der neue Lebensgefä­hrte mit in den Haushalt eingebrach­t hat“, sagt Lehmann. Die schlechte Nachricht: Es wird dadurch natürlich nicht einfacher. Denn jetzt muss der Tisch nicht nur gedeckt, sondern fast schon kuratiert werden. Immerhin hat man dafür im Corona-Lockdown genügend Zeit.

Wenn man schon keine fremden Landschaft­en erleben darf, dann wenigstens „Tablescape“.

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PalmHouse X nennt Stefanie Hering diese Kollektion, mit der sie einen Klassiker neu interpreti­ert.

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