Zieh dich aus!
Wie duscht man richtig? Mit Tutorials kann man heute alles lernen. Aber muss man auch wirklich alles können?
Mit Tutorials kann man heute alles lernen. Aber muss man
auch alles können? Von Philipp Daum
Es gibt eine Urban Legend: „Mein Opa hat mir heute erzählt: Immer, wenn Oma sauer auf ihn ist, dreht er den Deckel vom Marmeladenglas fest. So muss sie wieder mit ihm reden. Genau DAS möchte ich auch mal.“Eine schöne, emotionale, wohl erfundene Geschichte.
Ich will gar nicht über Alltagssexismus schreiben oder die Machtverhältnisse einer Ehe in Deutschland nach dem Krieg. Ich will nur festhalten: Die emotionale Erpressung mit einem Marmeladenglas funktioniert nicht mehr.
Denn als die Geschichte neulich auf Twitter erzählt wurde, kam die Antwort: „An alle, die denken, dass man als Frau einen Mann zum Öffnen irgendwelcher Gläser braucht: mit einem dünnen Löffelstiel zwischen Glas und Deckel gehen und leicht hebeln, damit Luft entweicht.“
Wenn Omas von heute vor einem verschlossenen Marmeladenglas stehen, können sie googeln. Sie fragen nicht mehr ihre Männer. Sie fragen Tutorials. Solche Gebrauchsanweisungen in wenigen Schritten können einem alles beibringen: Nützliches (Wie man eine Waschmaschine anschließt). Nutzloses (Wie man eine Sektflasche mit einem Schwert öffnet). Lebenserleichterndes (Wie man eine Ehe rettet). Sogar Lebensrettendes (Wie man den Sturz aus einem Flugzeug überlebt).
Wir leben in einer How-to-Epoche. Das Gute ist: Man kann alles lernen. Das Blöde ist: Es gibt jetzt keine Ausrede mehr, etwas nicht selbst zu machen. Was also muss man alles können?
Es gibt einen Ort, der eine Antwort bereithalten könnte. Dieser Ort heißt Wikihow. Wenn Wikipedia eine Enzyklopädie des Wissens ist, ist Wikihow eine Enzyklopädie des Könnens. Mehr als 200 000 Anleitungen in 18 Sprachen mit dem einen Ziel: „Teaching anyone in the world how to do anything.“
Anything. Anyone! Die Möglichkeiten der Welt liegen vor mir, in Form von Tutorials. Ich bin bereit. Ich werde die Fertigkeiten lernen, die man heute so lernt. Wikihow hat mir eine Tabelle mit den 100 beliebtesten Tutorials geschickt. Meine Kolleginnen und Kollegen haben zehn davon ausgesucht. Ich werde zum Beispiel lernen, wie man eine Dose ohne Dosenöffner öffnet. Flirtet. Einen Spagat in einer Woche macht.
Ich beginne also zu lernen. Werden mich Tutorials zu einem kompletteren Menschen machen?
Ich beginne mit dem verrücktesten Projekt: ein Spagat in einer Woche. Ideal für unsere Zeit. Instagrammable, kann nicht jeder, dauert nur eine Woche. Eine gute Challenge in Zeiten, in denen andere Paläo-Diät machen.
Aber zuerst die Anamnese! Von oben blicke ich in einen Abgrund: 70 Zentimeter zwischen dem Boden und, ähem, der Stelle zwischen meinen Beinen. Noch nie waren 70 Zentimeter so viel.
Das Tutorial ist, Wikihow-typisch, als Liste geschrieben. 15 Schritte werden in den nächsten Tagen mein Leben strukturieren: 1. Zweimal täglich eine Viertelstunde lang dehnen. 2. Vorher unbedingt aufwärmen! 3. Vorbereitungsdehnungen: die V-Dehnung (uff). Die Schmetterlingsdehnung (aua). „Berühre deine Zehen“(haha). In Minivideos macht alle Übungen ein gelenkiger Mann vor, der aussieht wie Johnny Depp, lange bevor der Drogen entdeckte.
Ein Freund, der seit Jahren Yoga macht, gibt mir einen Tipp: Beim Dehnen soll ich dorthin gehen, wo es orange aufleuchtet. Niemals in die rote Zone.
Vielleicht hat dieser Tipp mein Leben gerettet. Denn es ist ziemlich gefährlich, einen übermotivierten, unbeweglichen 31-Jährigen auf Spagat-Tutorials loszulassen. Ist es normal, dass sich nach zwei Tagen die Hinterseiten meiner Knie ziemlich kaputt anfühlen?
Wenn Omas von
heute ein Marmeladenglas nicht öffnen können, hilft ihnen Google.
Ja, bei vielem bin ich schnell frustriert. Ich hatte mir das leichter vorgestellt.
Schauen manche Menschen Tutorials vielleicht nur an, ohne sie auszuprobieren? Wie sonst erklärt sich die Popularität von „Wie man einen Sixpack bekommt“oder „Wie man einen Marathon läuft“?
Ich telefoniere mit Jack Herrick (50), dem Gründer von Wikihow. Herrick, ein Kalifornier, lebte in den 90er-Jahren in seinem Pick-up und reiste durch die USA. Immer dabei: eine Plastikkiste mit Sachbüchern – seine „knowledge box“. Er brachte sich alles Mögliche bei. Und er dachte: Sollte das nicht jeder können?
Im Jahr 2005 ging Wikihow online. „Unser Ziel ist eine weltweite kostenlose Bildung für alle“, sagt Herrick. Und die Menschen sind dankbar. Es sind schon Babys mithilfe von Wikihow auf die Welt gekommen. Von mindestens vier behauptet Herrick zu wissen.
Was muss man heute können, Mister Herrick? „Ich weiß es nicht.“Aber Bildung, sagt er, bedeutet heute etwas anderes als in seiner Generation. „Früher war es so: In deiner Jugend wirst du zur Bibliothek, und wenn du älter bist, leihst du Bücher bei dir aus.“Die Zukunft der Bildung funktioniert wie eine globalisierte Lieferkette. Nach dem Just-intime-Prinzip. Menschen lernen, sobald sie lernen wollen.
Herrick blickt sehr optimistisch in die Zukunft. „Heutige Jugendliche wissen mehr als die Generationen vor ihnen. Sie können mehr. Sie sind talentierter.“
Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit, wie die kalifornische Sonne. Ich erledige ein paar kleinere Tutorials: Wie man Katzen streichelt (man lässt sie kommen). Wie man Dosen ohne Dosenöffner aufmacht (mit einem spitzen Löffel, Messer oder Stein).
Und dann entdecke ich das hier: Wie man duscht. Eine Anleitung in vier Teilen. Zum Beispiel mit diesem Hinweis: Nein,
Finger eignen sich nicht zum Messen der Wassertemperatur: „Ihr Handgelenk ist ein genaueres Messgerät.“Der Artikel hat zwei Millionen Abrufe.
Ist das alles ein gigantisches Missverständnis? Wir wollen Spagate machen und Sixpacks bekommen, können aber nicht einmal duschen?
In Köln treffe ich Stephan Grünewald. Grünewald, ein freundlicher Mann, ist Psychologe und Marktforscher. Er hat in Tausenden Tiefeninterviews den Zustand der deutschen Gesellschaft analysiert.
Herr Grünewald, warum schauen Menschen online nach, wie man duscht?
Grünewald denkt kurz nach und sagt dann: „In meiner Jugend war der Alltag ritualisiert. Es gab gemeinsame Mahlzeiten, am Samstag war Badetag. Aber heute ist die gemeinsame Mahlzeit die Ausnahme.“Die gemeinsamen Lebenszeiten von Kindern, Eltern und Großeltern würden weniger. „Es verschwinden die Räume, in denen man Alltagswissen vermitteln kann. Ich bezweifle, dass Eltern eine Anleitung geben, wie man richtig zu duschen hat.“
Grünewalds Diagnose bedeutet: Verlust der Alltagskompetenz. Das fing schon vor Jahren an, als Sendungen wie Die Super Nanny überforderten Eltern ihre Kinder erklärten. Smartphones aber haben das noch schlimmer gemacht. Sie erledigen vieles von dem, was man früher können musste: sich in einer fremden Stadt zurechtfinden. Bruchrechnen. Partnersuche. Grünewald sagt: „Wir hoffen, alles auf Knopfdruck zu können. Und sind dann tief beschämt, wenn wir merken: Wir können nicht rechnen, nicht tapezieren und nicht kochen.“
Und wer hilft, wenn man sich schämt? Jemand, der nicht verurteilt und keine blöden Fragen stellt. Ein netter Influencer, jemand wie du und ich – oder eine freundliche Website wie Wikihow.
Tutorials sind
die neuen Eltern. Sie geben Backanleitungen – und im Alltag Orientierung.
Tutorials, so verstehe ich das, sind die neuen Eltern. Sie geben einem zwei Dinge. Anleitungen für Apfelkuchen, ja. Aber auch Orientierung im Alltag. Wie oft soll ich duschen? Soll ich meine Kleidung zusammenlegen wie die japanische Bestsellerautorin Marie Kondō oder wie meine Mutter? Diese Gesellschaft ist unsicher. Sie hat Fragen, auf die früher niemand gekommen wäre. Meine Liste der beliebten Tutorials enthält auch: cool sein. Flirten.
Cool sein, lese ich, ist eine Sache der Einstellung. Man kann Jogginghosen tragen und trotzdem cool sein. Also ziehe ich die älteste Jogginghose aus meinem Schrank an und versuche, auch alles andere richtig zu machen: suche Augenkontakt. Sitze gerade. Gehe langsam. Atme tief. Und: Entspanne dich. Mach dir keine Sorgen, was andere über dich denken.
Ein Kollege fragt mich, ob ich „Funktionskleidung“trage, was ich ignoriere. Ich mache Witze, ich schaue in Augen, und Augen schauen zurück.
Kurz vor Feierabend schreibe ich einem eingeweihten Kollegen:
„Findest du mich schon cooler als gestern?“
„Nein. Tatsächlich nein. Deine Regenhose ist nicht cool.“
„Deine Meinung interessiert mich nicht.“„Ah. Er lernt schnell.“
Ein paar Tage später flirte ich mit einer ungefähr 50 Jahre alten Sachbearbeiterin mit roten Haaren und lackierten Fingernägeln im Bürgeramt. Dort bin ich, um eine Wohnung anzumelden. Ich folge dem Tipp: „Halte deine Interaktionen kurz und süß.“Ich sage: „Sehr schön haben Sie es hier!“(Komplimente machen) Das Tutorial rät mir, sie unauffällig am Arm zu berühren, aber das ist vielleicht ein bisschen zu viel. Auch so funktioniert alles super: Wir lachen viel und verabschieden uns aufs Herzlichste.
Manche dieser Tipps fühlen sich wie billige Tricks an. Aber sie wirken. Und doch haben sie etwas Trauriges. Jungs,
die wissen wollen, wie man cool ist. Wer Tutorials liest, ist allein.
An einem kalten Januartag knie ich mit einer Bohrmaschine in der Hand neben meinem Vater. Der Plan für heute: die Anzeige der Kältepumpe in der Wand zu befestigen. Mein Vater ist ein sehr ambitionierter Hobbyhandwerker und kann aus so etwas eine Wissenschaft machen. Ich lerne heute viele neue Wörter, so zum Beispiel das Schraubenprofil Torx.
Mit zwölf Jahren bekam mein Vater seinen ersten Akkubohrer. Seiner ersten Freundin installierte er einen Kachelofen, meiner Mutter schreinerte er ein Bett, und wenn das Haus aus dem 18. Jahrhundert fertig ist, wird meine Schwester dort einziehen. Mein Vater hat noch nie ein Handwerkstutorial gelesen. Handwerk ist für ihn mehr als eine Fertigkeit. Beziehungsarbeit. Ein Bauen an sich selbst. Und eine Art, sein Leben zu erzählen.
Was muss man heute können, Papa?
„Möglichst viel. Viel zu können und sich viel zuzutrauen macht dich frei und unabhängig. Als Mann musst du mit dei- nen Händen umgehen können.“
Meine Eltern haben sich getrennt, als ich drei war. Ich habe meinen Vater nie gefragt, ob er mir Handwerksdinge beibringt. Für mich war früh klar: Ich kann nicht mit meinen Händen umgehen. Nicht mit Werkzeug, nicht mit Stiften.
In Tutorials nähert man sich einer Tätigkeit allein, als freier Mensch und nicht als pubertierender Junge unter Jungs, die den Unterricht blöd finden. Und das ist der Unterschied zu der Art, wie mein Vater lernte. Männer seiner Generation wurden gute Handwerker. Es war mehr als eine Fertigkeit, es war ihre Rolle. Auch deswegen, weil sie sich den Kopf nicht mit anderen Dingen wie Kochen oder Kindererziehung vollmachten. Ich kann vieles schlechter als er. Aber ich bin freier.
Was muss man heute können? Alles. Nichts. Wie man die Bestandteile seines Müslis anbaut (was drei Jahre dauert). Wie man duscht. Man kann auch problemlos sein Leben zubringen, ohne etwas zu können, denn niemand erwartet mehr etwas von einem. In den vergangenen Wochen habe ich mich bis an die Schmerzgrenze gedehnt, ich habe Gesichter, Inseln und Bäume gezeichnet und Katzen gestreichelt. Aber wozu?
Ich habe natürlich keinen Spagat geschafft. Aber seit den Dehnungen spüre ich meinen linken Sitzbeinknochen beim Radfahren wieder. Und mir ist klar geworden, wie sehr Rollen bestimmen, was wir lernen. Bist du Katzen- oder Hundemensch? Team Sport oder Team Kunst? Hast du zwei linke Hände oder nicht? Und das, obwohl die meisten Fertigkeiten viel mehr mit Übung zu tun haben als mit Talent.
Drei Tricks habe ich noch: Wenn Sie mit Kindern verstecken spielen, suchen Sie sich ein hoch gelegenes Versteck. Denn suchende Augen blicken immer nach unten. Wenn Sie neben einem Nieser sitzen und sein Niesen unterdrücken wollen, rufen Sie ihm schnell etwas Absurdes zu. Dann kommt sein Gehirn möglicherweise auf eine andere Idee. Und wenn Sie Ihrem Arbeitgeber eine Krankheit vortäuschen wollen, schreien Sie vor dem Telefonat zehn Sekunden in Ihr Kissen. Dann klingen Sie heiser.
Jungs, die wissen wollen, wie man cool ist: Wer Tutorials liest, ist allein.