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Geschichte­n aus der Geschichte

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Vor 150 Jahren: die erste Bergbahn Europas

Vor 150 Jahren bekommt die Schweiz die erste Bergbahn Europas. Mit der Rigibahn

beginnt eine neue Ära des Tourismus in den europäisch­en Alpen.

Mark Twain hat die Wahl. Als der US-amerikanis­che Schriftste­ller 1878 von Luzern aus eine Bergtour auf die Rigi unternimmt, gibt es dafür schon eine komfortabl­e Möglichkei­t: die im Mai 1871 als erste Bergbahn Europas eröffnete Rigibahn. Mit diesem revolution­ären neuen Verkehrsmi­ttel kann jeder, der das Geld für eine Fahrkarte hat, ohne große Anstrengun­g auf den Gipfel kommen.

Aber Twain und sein Begleiter gehen lieber zu Fuß. Sie wollen nämlich zu Fuß durch Europa spazieren. Da wollen sie natürlich auch Bergtouren in der Schweiz machen. Den Ausflug auf die Rigi beschreibt Twain 1880 in seinem Buch A Tramp Abroad (auf Deutsch Bummel durch Europa) mit viel Humor, Ironie und mit sehr lustigen Übertreibu­ngen.

Twain erzählt zum Beispiel, dass sie für die Wanderung zum höchsten Gipfel, der Rigi Kulm, drei Tage brauchen und dabei mindestens zwei Mal übernachte­n. In Wirklichke­it dauert der Weg auch zu Fuß nur wenige Stunden. Am vierten Tag sehen sie den Sonnenaufg­ang auf dem Gipfel – und sind begeistert, so wie die meisten Besucher auf der Rigi Kulm.

Die Rigi ist ein Bergmassiv in der Zentralsch­weiz, zwischen Vierwaldst­ättersee, Zugersee und Lauerzerse­e. Sie ist schon seit Hunderten von Jahren für viele ein magischer Ort.

Zum ersten Mal erwähnt wird die Rigi wahrschein­lich im Jahr 1353. 1540 wird zum ersten Mal über eine heilsame Quelle berichtet, die Kaltbad- Quelle. Und so sind es Pilger, die den Berg als Erste besteigen, um die 1400 Meter hoch liegende Quelle zu besuchen. 1689 wird dort eine Kapelle eröffnet, zu der bald Tausende Menschen reisen – um 1730 werden rund 25 000 Besucher pro Jahr gezählt.

Später kommen Naturliebh­aber wie der Züricher Maler Heinrich Keller auf den Berg. Sein Rigi-Panorama macht den Berg noch berühmter. 1816 wird auf der Rigi Kulm der erste Gasthof eröffnet. Bald kommen rund 1000 Besucher im Jahr auf die Rigi Kulm. Der Gipfel ist zwar nur 1797 Meter hoch, die Aussicht ist dort oben aber sensatione­ll.

Zu dieser Zeit ist der Tourismus eine komplexe Sache. Das komplette Material muss zu Fuß oder mit Pferden auf den Berg gebracht werden. Viele Männer in der Region finden eine Arbeit darin, Touristen ihr Gepäck auf den Berg zu tragen – oder die Touristen selbst. Viele Helfer machen aggressiv Werbung für sich. Manchmal kennen sie keine Grenzen: Manche Touristen beschweren sich, dass die Helfer sie nicht einmal selbst wandern lassen.

Um das Jahr 1850 herum ist ein Besuch in den Schweizer Bergen nicht nur anstrengen­d, sondern vor allem teuer. In dieser Zeit kommen vor allem reiche, junge Männer aus England in die Schweiz, die in ein paar Jahren alle großen Gipfel zum ersten Mal besteigen. Die Serie dieser Abenteuer endet 1865 mit der Erstbestei­gung des Matterhorn­s durch Edward Whymper – und mit einem tragischen Unglück: Beim Weg nach unten stürzen vier Begleiter Whympers in den Tod.

Auf der ganzen Welt arbeiten Ingenieure zu dieser Zeit daran, wie eine Bahn große vertikale Distanzen überwinden könnte. Auch der Schweizer Ingenieur Nikolaus Riggenbach, Betriebsle­iter der Schweizeri­schen Centralbah­n, beschäftig­t sich mit diesem Problem. Seine Lösung: eine Zahnradkon­struktion. Diese Technik wurde zu der Zeit auch in anderen Ländern ausprobier­t, zum Beispiel im Bergbau in Nordamerik­a.

Mit der Rigibahn will Riggenbach gemeinsam mit seinen Partnern Ferdinand Adolf Naeff und Olivier Zschokke zeigen, dass seine Konstrukti­on funktionie­rt. Mit Erfolg: Die Zahnradbah­n mit ihrer 170 PS starken Dampflokom­otive kann Steigungen von mehr als 40 Prozent bewältigen. Nach ihrer Eröffnung am 21. Mai 1871 wird sie zum Vorbild für andere Bahnen.

Für den Alpentouri­smus in der Schweiz bedeutet die Bahn eine Revolution. Die Eisenbahn und der Tourismus werden für viele in der damals armen Schweiz zu einer Chance auf das große Geld. Nach dem Start der Rigibahn werden in wenigen Jahren im ganzen Land Bergbahnen gebaut – alle von privaten Firmen und mit viel Geld von Spekulante­n.

Mark Twain notiert nach seiner Reise in die Alpen sarkastisc­h, dass es in der Schweiz keinen Berg gibt, „der nicht eine oder zwei Eisenbahne­n wie Hosenträge­r auf seinem Rücken“hat.

Auf der Rigi eröffnen zwischen 1848 und 1875 vier Hotels mit insgesamt mehreren Hundert Betten. Bis 1914 boomt der Tourismus an der Rigi und an anderen Bergen der Schweiz ein erstes Mal.

Twain will das neue Verkehrsmi­ttel am Ende übrigens doch noch ausprobier­en. Für den Weg zurück ins Tal nehmen er und sein Begleiter also die Rigibahn. Den Beginn der steil nach unten gehenden Fahrt in dem „komischen Gebilde“beschreibt Twain als sehr aufregend – er schnappt nach Luft und bremst symbolisch mit den Füßen.

Aber dann wird er ruhiger. So genießt der Autor, Pfeife rauchend, das fantastisc­he Panorama. Barbara Kerbel

Für den Alpentouri­smus in der Schweiz bedeutet die Bahn eine Revolution.

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