Vor 50 Jahren: 374 Frauen gegen ein großes Tabu
„Wir haben abgetrieben!“steht vor 50 Jahren auf dem Cover der Zeitschrift Stern. Es ist der Anfang einer neuen Debatte: Darf eine Schwangere ihr ungeborenes Baby wegmachen lassen?
Als die Deutschen am 6. Juni 1971 aufwachen, ist ihr Land im Schock. Es ist Samstag, und diesmal gibt es den Stern schon am Wochenende. Normalerweise kommt die Zeitschrift, die Millionen Deutsche lesen, donnerstags an die Kioske. Aber jetzt liegt sie schon am Samstag dort. „Wir haben abgetrieben!“steht auf dem Cover über den Fotos und Namen von 30 Frauen.
Im Heft steht ein Manifest für die Liberalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen: „Ich habe abgetrieben und fordere das Recht für jede Frau dazu!“Der Text ist unterschrieben von 374 Frauen. Sie nennen ihren kompletten Namen, ihr Alter und ihren Wohnort. Manche sind berühmt, zum Beispiel die Schauspielerinnen Romy Schneider und Senta Berger.
Die Frauen wissen, dass sie sehr viel riskieren – ihren Ruf und juristische Konsequenzen. Der im Land sehr bekannte Paragraf 218 verbietet es, ein Kind abzutreiben. Wer es tut, riskiert eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren; das gilt auch für Ärzte, die Abtreibungen machen.
Abtreibung ist in Deutschland seit 1871 illegal. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es immer wieder Debatten um eine mögliche Liberalisierung. 1926 wird der Paragraf 218 reformiert, aber die
Strafe wird nur etwas abgemildert; Abtreibung bleibt verboten mit Freiheitsstrafe.
Nachdem die Nationalsozialisten 1933 an die Regierung kommen, werden die Strafen wieder härter. Außerdem verbieten sie auch Information und Werbung über Abtreibungen. Sie instrumentalisieren das Thema für ihre rassistische und inhumane Bevölkerungspolitik, bei der sie zwischen wertvollem und „unwertem“Leben unterscheiden. Gesunden deutschen Frauen wird die Abtreibung verboten. Sie werden vom Staat aber auch unterstützt, wenn sie in Not sind. Frauen mit Krankheiten und als „rassisch unrein“stigmatisierte Frauen aber werden oft zur Abtreibung gezwungen. Zehntausende Frauen werden zwangssterilisiert.
Nach dem Ende des Kriegs 1945 orientiert sich die neue Politik an einem Prinzip: nie wieder! Nie wieder soll der Staat darüber entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss. Für die Autoren und Autorinnen des Grundgesetzes stehen die Würde des Menschen und der Schutz des Lebens an erster Stelle. Diese Prinzipien gelten in der Bundesrepublik auch für das ungeborene Leben. In der Konsequenz bleibt Abtreibung eine Straftat.
Aber Ende der 60er-Jahre gibt es eine neue Debatte um den Paragrafen 218. Erste Stimmen fordern eine Liberalisierung. Zu dieser Zeit wird die Zahl der illegalen Abtreibungen in der Bundesrepublik auf eine halbe Million pro Jahr geschätzt. Das Thema ist ein absolutes Tabu – Frauen, die ungewollt schwanger werden, sind meistens ganz allein. Wer genug Geld hat, fährt für die Abtreibung in die liberale Schweiz. Die anderen finden nur bei illegal arbeitenden Ärzten oder sogenannten Engelmacherinnen Hilfe. Das Risiko von Komplikationen ist dabei groß.
Am 11. April 1971 publiziert die französische Zeitschrift Nouvel Observateur ein Manifest von 343 Französinnen, die abgetrieben haben. Die Journalistin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer lebt zu dieser Zeit in Paris. Ein Kollege vom Nouvel Observateur bringt sie auf die Idee, eine ähnliche Aktion in der Bundesrepublik zu organisieren. Schwarzer schlägt einem Stern-Redakteur die Idee vor – der sofort einverstanden ist. In wenigen Wochen schafft es die Feministin, 373 Unterschriften zu sammeln, auch sie selbst unterschreibt. Viele Frauen ärgern sich sehr über das Tabu.
Das Manifest im Stern ändert vieles. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik organisiert sich politisch – und die Debatte um die Reform des Paragrafen 218 kommt wieder auf die politische Agenda. 1974 werden nach langen Debatten Abtreibungen bis zur zwölften Woche erlaubt; das Bundesverfassungsgericht stoppt das Gesetz aber wieder.
1976 beschließt das Parlament deshalb eine neue Version des Paragrafen 218: Abtreibungen sind nur bei bestimmten Indikationen erlaubt, zum Beispiel aus medizinischen Gründen oder nach einer Vergewaltigung. Anders in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR): Dort werden Abtreibungen in den ersten drei Monaten schon ab 1972 erlaubt.
Nach dem Ende der DDR muss das Gesetz 1990 neu geregelt werden. Wieder gibt es lange Debatten, wieder stoppt das Bundesverfassungsgericht das Gesetz. Seit 1996 gilt eine Kombination aus Fristenund Indikationenlösung: Abtreibung bleibt zwar illegal. Sie wird aber während der ersten zwölf Wochen nicht bestraft, und die Schwangere muss vor dem Abbruch zu einem Beratungsgespräch. Nach einer Vergewaltigung oder aus medizinischen Gründen bleibt Abtreibung erlaubt.
Seit 2017 gibt es eine neue Debatte. Ärzte dürfen zu dieser Zeit nicht einmal auf ihren Webseiten darüber informieren, dass sie Abtreibungen machen. Im Jahr 2019 wird das Gesetz dazu reformiert. Zwei Ärztinnen, die deshalb noch bestraft wurden, sind Anfang 2021 vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Jetzt muss es wieder über ein Abtreibungsthema entscheiden.
Nach 1945 soll nie wieder der Staat entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss.