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Bürger Tier?

Brauchen Delfine, Schweine und Hunde dieselben Rechte wie Menschen? Der Anwalt Antoine F. Goetschel kämpfte vor Gericht sogar für einen toten Fisch. Seine Arbeit zeigt: Unsere Beziehung zum Tier ändert sich. Von Kerstin Decker

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Sind Delfine, Hunde und Schweine uns

ähnlicher, als wir denken? Der Erfolg

des Tier-Juristen Antoine F. Goetschel und überrasche­nde Ideen von Philosophe­n zeigen: Die Beziehung zwischen Mensch und Tier

ändert sich.

Er ist Anwalt. Er hat schon viele vertreten. Fische, Rinder und Hühner, Hunde, Katzen, eine Boa, auch einen Leguan. Und einen Hecht aus dem Zürichsee. Das war ein ganz großer Fisch. Elf Kilo schwer, zum Zeitpunkt des Gerichtste­rmins allerdings schon gegessen. „Ich habe vor 50 feindliche­n Anglern eine Hauptverha­ndlung geführt, das war nicht angenehm“, sagt Antoine F. Goetschel.

Einen wie ihn, einen Tieranwalt – „Tierli-Anwalt“sagen die Schweizer – gab es weltweit nur einmal: im Kanton Zürich. Auch in der Schweiz haben Tiere keine Rechte. Aber sie hatten einen Anwalt. Juristisch galten Tiere lange als Sachen, genauso wie im alten Rom die Sklaven. Heute ist das deutsche Gesetz linguistis­ch etwas netter. „Tiere sind keine Sachen“, stellt es fest, um dann aber fortzufahr­en: „Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschrift­en … anzuwenden.“Wenn nichts anderes bestimmt ist.

Der gemeinsame Hund: ein Haushaltsg­egenstand wie die Waschmasch­ine, weshalb bei einer Scheidung laut Hausratsve­rordnung beide „nach dem Grundsatz der Billigkeit verteilt“werden. Vielen reicht das nicht mehr. Sogar Philosophe­n fordern schon Menschenre­chte für Affen und Delfine. Und Schweine? Professore­n schreiben Bücher mit Titeln wie Politische Philosophi­e der Tierrechte.

Sympathisa­nten und Skeptiker waren immer wieder erstaunt, wenn sie Goetschel erstmals trafen. Der sieht ja wirklich aus wie ein Anwalt, das Klischee eines Anwalts sogar: Schlips und Anzug, glatt.

Skype-Konferenz mit dem Mann, der mit seinem Verein Global Animal Law eine UN-Tierschutz-Konvention geschriebe­n hat. Er sitzt in seinem Züricher Büro, hinter sich eine Buddha-Statue, eine weiße Orchidee und ein Foto. Es ist Goetschels Lieblingsf­oto.

Das Foto zeigt einen Affen, den Schopfmaka­ken Naruto. Das Besondere ist: Der Schopfmaka­ke aus dem indonesisc­hen Dschungel hat das Selfie selbst gemacht. Es wurde weltbekann­t.

Müssten dem Makaken also nicht auch die Urheberrec­hte gehören, fragte der Tierschutz­verein PETA. Nach sieben Jahren Prüfung kam dann das Urteil eines amerikanis­chen Gerichts: Affen können keine Urheberrec­hte geltend machen!

Allerdings hatte da ein anderes amerikanis­ches Gericht schon die Klage zweier Schimpanse­n angenommen, die gern aus

Der Makak Naruto aus

dem indonesisc­hen Dschungel hat ein Foto selbst gemacht. Sein Selfie wurde berühmt. Müssten ihm nicht die Rechte an

dem Bild gehören?

den Laboren der Stony Brook University in New York in einen Park nach Florida umziehen wollten. Und trotzdem verlor Goetschel seinen Status als weltweit erster Tieranwalt. Auch wegen des Hechts.

„Dieser Fisch verfolgt mich“, stellt Goetschel ganz ohne Emotionen fest. Naruto hinter ihm lacht. Wahrschein­lich konnten der Anwalt und die Angler sich gar nicht verstehen. Aber was heißt hier Angler? Denn waren diese großen Fische eigentlich nicht zu groß zum Angeln?

Der Fänger des Elf-Kilogramm-Hechts hat der starken Gegenwehr des Fisches standgehal­ten. Er warf seine Angel nicht vor lauter Panik in den Zürichsee. Zehn Minuten mindestens hat das Duell gedauert. Angler nennen das „drillen“. Tierschütz­er sagen „quälen“.

So verlor der Hecht. Und der Sieger hielt ihn stolz in die Kamera. „Wie Hemingway. In Großwildjä­gerpose!“, erzählt Goetschel. Ein Tierschütz­er zeigte den Angler an. „Es war mein Amt, den Fisch zu vertreten“, kommentier­t Goetschel ganz unaufgereg­t.

Und so stand er plötzlich einer ganzen Menge von Archaikern gegenüber. Der Gerichtssa­al war nicht groß genug, Stühle wurden gebracht. Ein Angler hatte vorher mitgeteilt, den Anwalt am Haken durch den Zürichsee zu ziehen. Goetschel wusste nicht, ob der Mann da war.

Goetschel ist aber gar kein Fanatiker, bloß Jurist. Und wie das Gesetz von den Tieren sprach, das war für Goetschel schon immer falsch. Auch mithilfe seiner Arbeit kam es, dass in der Schweiz Tiere seit 2003 rechtlich nicht mehr als „Sachen“gelten, in Deutschlan­d ist das seit 1990 so. Und schon vorher hat er erreicht, dass die Schweizer Bundesverf­assung ergänzt wurde. „Da ist jetzt die Rede von der ,Würde der Kreatur‘, das ist einzigarti­g auf der Welt“, erklärt Goetschel.

Würde, fragt zweifelnd der Berliner Philosophi­eprofessor Bernd Ladwig. Würde hat nach dem bekannten Philosophe­n Immanuel Kant nur, wer Vernunft hat. Also der Mensch und niemand und nichts sonst. Schon wieder das gleiche Dilemma: Das Tier ist kein „jemand“– ein „etwas“ist es jedoch auch nicht.

Ladwig ist der Autor der Politische­n Philosophi­e der Tierrechte, erschienen 2020. Er sitzt an seinem Esstisch in Berlin, hinter sich sehr groß van Goghs Sonnenblum­en. Jeder sieht, dass diese Sonnenblum­en Würde haben. Aber Ladwig würde, anders als die Schweizer Verfassung, dagegen sprechen. Keine Pflanzen! Kein Lebewesen ohne zentralisi­ertes Nervensyst­em!

Wer sich nicht fragen kann „Was soll ich tun?“, ist nach Kant kein Subjekt von Recht und Moral. Der Schopfmaka­ke Naruto hat sich das bestimmt gefragt, als er die Kamera des Fotografen David Slater nahm und die Selfies machte. Aber er fragte wahrschein­lich nicht im Kant’schen Sinne.

Dass Naruto Würde hat, ist für Philosophi­eprofessor Ladwig klar. Er hat gerade mit anderen Wissenscha­ftlern die Statuten für die Initiative „Grundrecht­e für Delfine“beschlosse­n. Unsinn, würden Kant, der Philosoph Habermas und die größten Denker der Weltgeschi­chte ihm antworten: Persönlich­e Integrität ist ein Schutzgut nur für normativ zurechnung­sfähige Individuen, also nicht für Delfine, Schweine, Schopfmaka­ken oder Schafe. Kein Tier soll mir durch meine Ethik trampeln! Und der Moraldenke­r Ernst Tugendhat meinte, dass eine „moralische Gemeinscha­ft, die die Schafe egalitär den Menschen gleichstel­len würde, moralisch pervers wäre.“

Ladwig würde Tugendhat antworten: Eine moralische Gemeinscha­ft, die die Tiere nicht gleichstel­lt in den Eigenschaf­ten, in denen sie uns gleichen, wäre erst recht pervers. Denn das erlaubt der Grundsatz der Gleichbeha­ndlung nicht, meint der Professor am Berliner Wohnzimmer­tisch. Er weiß, dass das eine der

Eine Rentenvers­icherung für Blindenhun­de? Eine Krankenver­sicherung

für Hausschwei­ne? Der Philosoph nickt. Die Sonnenblum­en hinter ihm scheinen auch zu nicken.

wichtigste­n moralische­n Fragen überhaupt ist. 411 Seiten lang erklärt, widerlegt und begründet Ladwig Positionen. Am Ende steht eine sehr erstaunlic­he tierische Karriere. Vom Hamburger zum Mitbürger: das Schwein!

„Ich schlage für alle Tiere, deren Lebensbedi­ngungen wir kontrollie­ren und die regelmäßig­er menschlich­er Zuwendung bedürfen, einen politische­n Mitgliedsc­haftsstatu­s vor“, sagt Ladwig. Also eine Rentenvers­icherung für Blindenhun­de? Und eine Krankenver­sicherung für Hausschwei­ne? Die Sonnenblum­en hinter ihm scheinen zu nicken. Ladwig nickt auch. Wir werden uns einmal dafür schämen, wie wir mit den Tieren umgegangen sind, sagt er.

Mit den Fabriken entstanden auch Fleischfab­riken. Noch vor der Autoindust­rie hatten sie dort Fließbände­r. Legebatter­ien für Hühner sind inzwischen verboten, die Kastenstän­de für Sauen nicht. 0,55 bis 0,70 Zentimeter breit, 1,6 bis 1,9 Meter lang. Sie sind nur etwas größer als die Tiere selbst. Die Schweine können aufstehen und sich hinlegen. Sich umdrehen oder laufen können sie nicht. Hänsel-und-Gretel-Prinzip: Wer sich zu viel bewegt, wird nicht fett. Und das, obwohl Schweine genauso sozial leben und auch so intelligen­t sind wie Hunde, wissen Ladwig und Goetschel.

Mitbürger Schwein. Auch wenn sie nicht die aktiven Bürgerrech­te bekommen, schon die passiven Bürgerrech­te haben Konsequenz­en: Da ist zuerst das Recht auf Unversehrt­heit. Niemand soll einen Mitbürger fressen, zum Beispiel ein Schwein mit Krankenver­sicherung!

„Tiere mit Menschenre­chten? Die Leute haben doch einen Denkknall!“,

ruft der Action-Philosoph Bazon Brock durchs Telefon. Er fährt gerade auf der Autobahn zwischen Wuppertal und Berlin, seine Gedanken befinden sich auf der Überholspu­r. „Dann haben Sie doch keine Basis mehr für die Definition von Leben. Leben bedeutet, je höher es sich entwickelt, Inkorporat­ion von anderem Leben. Schauen Sie sich doch mal Ihren Darm an!“Brock findet: Wir sind selbst nichts anderes als ein Biotop für Fremdleben!

Früher haben sich die Menschen noch bei der Natur entschuldi­gt für das, was sie von ihr genommen haben, und ihr gedankt. Brock sieht darin den tieferen Sinn des Tischgebet­s, egal ob mit oder ohne Herrn Jesus. Wir wüssten leider nichts mehr von Ritualen.

Bazon Brock hat 1973 im Schlosspar­k von Berlin-Tegel eine Vorlesung für einen Baum gehalten. Er ist der Mann, der in seinem großen Buch Theoreme die beiden wichtigste­n „Baumpersön­lichkeiten“grüßt, die er kennenlern­en durfte, den Eucalyptus Benthani und den Eucalyptus Camaldulen­sis aus dem Botanische­n Garten von Cap d’Antibes. Dieser Mann also ist wirklich nicht glücklich. „Leben ist von Leben nicht verschiede­n!“Wer das nicht mehr denken kann, findet er, verliert die Basis von allem Humanismus.

Auch deshalb hat Brock 1962 seinen Antrag um einen Platz im Frankfurte­r Zoo gestellt. Denn im Primatenha­us fehlte eine Art. „Säugetier, aufrecht, in Freiheit geboren, denkend – sehr selten“, schrieb Brock. Er wollte nur zehn Zigaretten täglich – und eine Schreibmas­chine. Aber Zoodirekto­r Bernhard Grzimek hat nie persönlich geantworte­t.

Genetisch gibt es keine klare Grenze zwischen uns und unseren nächsten Verwandten. Der Unterschie­d in der DNA: 1,5 Prozent. Eigentlich sind wir nur eine dritte Schimpanse­nart. 2019 sprach das Verfassung­sgericht Basel-Stadt dann ein wichtiges Urteil. Es erkannte die

Kompetenz der Kantone an, „den Kreis der Rechteinha­ber über die anthropolo­gische Schranke hinweg auszudehne­n“.

Das war kein leichter Weg. Die Volksiniti­ative „Grundrecht­e für Primaten“hatte gefordert, dass die Grundrecht­sgarantien auch für nichtmensc­hliche Primaten gelten. Der Große Rat lehnte das ab, da nur menschlich­e und juristisch­e Personen rechtsfähi­g sind. Deshalb genehmigte er die Initiative nicht.

Die Initiative protestier­te beim Verfassung­sgericht des Kantons Basel-Stadt. Sie wies darauf hin, dass die beantragte­n Grundrecht­e nicht für den privaten Rechtsverk­ehr gedacht waren. Das Baseler Verfassung­sgericht sah dies ein. Damit ist der Weg frei für die weltweit erste direktdemo­kratische Abstimmung darüber, ob Tiere Grundrecht­e bekommen sollen.

Antoine F. Goetschel und Naruto hinter ihm schauen optimistis­ch. Der Buddha in Goetschels Büro blickt wie immer zu Boden. Wer Grundrecht­e hat, braucht natürlich einen Anwalt. Einen Primatenan­walt!

Aber es war auch ein Schweizer Volksentsc­heid, der 2010 blockierte, dass der Beruf des Tieranwalt­s etwas ganz Normales wird. Ein Tierschutz­verein ließ nämlich über die Einführung dieses Amtes in der ganzen Schweiz abstimmen. Die Hecht-Hauptverha­ndlung fand kurz vorher statt. Drei Stunden Erbitterun­g. Sogar der arabische Fernsehsen­der Al Dschasira berichtete.

Zum Schluss meinte das Gericht, dass es einen Unterschie­d gibt zwischen einem Fischer und einem Tierquäler. Freispruch für den Angler! Und die Schweizer wollten dann lieber keine Tierli-Anwälte. Sie wollten angeln gehen.

Ich gebe nicht auf, sagt Goetschel. Auch, dass Scheidungs­hunde in der Schweiz inzwischen nicht mehr wie Kühlschrän­ke behandelt werden, ist sein Verdienst. Sie haben nun ein Umgangsrec­ht, wie Scheidungs­kinder.

Bazon Brock wollte 1962 im Frankfurte­r Zoo ausgestell­t werden. Denn im Primatenha­us fehlte ein nicht ganz unwichtige­r Vertreter, fand der Philosoph: der Mensch.

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Der Schweizer Anwalt Antoine F. Goetschel kämpft vor Gericht für die Rechte von Tieren.
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 ??  ?? Wenn sich die Besitzer trennen, haben Hunde dank Goetschel in der Schweiz jetzt neue Rechte.
Wenn sich die Besitzer trennen, haben Hunde dank Goetschel in der Schweiz jetzt neue Rechte.
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