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Schnell raus aus der Stadt?

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Durch Corona verlieren die Metropolen fast alles, was sie interessan­t gemacht hat. Plötzlich wollen sehr viele Menschen lieber auf dem Dorf leben. Träumen sie nur – oder sind sie Pioniere?

Durch Corona verlieren die Metropolen fast alles, was sie interessan­t gemacht hat. Plötzlich wollen viele lieber auf dem Dorf leben. Träumen diese Menschen nur – oder ändert sich Deutschlan­d gerade wirklich? Von Gianna Niewel und Hannes Vollmuth

Wann beginnt eine gesellscha­ftliche Bewegung? Wenn ein Hashtag auf Twitter trendet? Wenn die Zeitungen einen Debattente­xt nach dem anderen publiziere­n? Oder beginnen sie viel früher? Mit einem Gespräch, das am Küchentisc­h seinen Anfang nimmt?

Wann sie umziehen wollen, von der Stadt aufs Land? Er: „Sofort.“

Sie: „Am liebsten gestern.“

Er: „Na, wenn’s nach dir gegangen wäre, wären wir gar nicht hergekomme­n.“

Das Paar empfängt in seiner Wohnung im Norden von Berlin. Hier führt die Lindauer Allee dreispurig aus der Stadt hinaus. Das Haus hat 17 Klingelsch­ilder. Sebastian Müller (38) kommt aus einem Dorf im Hochsauerl­andkreis, 365 Einwohner. Er findet es gut, dass die Leute da nicht viel reden. Designstud­ium in Dortmund, so etwas geht eben nur in der Stadt, 588 250 Einwohner. Dann Umzug nach Berlin, 3,8 Millionen Menschen, für den Job. Er arbeitet bei einer Agentur im Stadtteil Mitte. Pia Pettkus ist auch 38 Jahre alt, sie kommt aus Ratingen bei Düsseldorf und redet gerne. Als sie sich kennenlern­ten, hatte sie gehört, wie Berlin sein soll: laut, unruhig, ungemütlic­h. Aber sie war jung, was hatte sie zu verlieren? Sie tat es wie er und zog um. Neun Jahre später, im Winter 2020, wünschten die beiden, wieder weg zu sein.

Eigentlich wollten sie schon länger weg. Es fing an, als vor viereinhal­b Jahren das erste Kind kam, vor drei Jahren das zweite. Als sich die vier Zimmer ihrer Wohnung plötzlich enger anfühlten. Sie suchten im Umland von Berlin, Pendeldist­anz. Aber da kosteten Bauernhäus­er 300 000 Euro, und trotzdem musste noch viel renoviert werden.

Dann kam Corona.

Die Spielplätz­e waren geschlosse­n, also gingen sie in den Park. Sie sammelten Blätter, erinnerten sich an ihre Kindheit. Zum ersten Mal formte sich der Gedanke: Warum nicht zurück in den Hochsauerl­andkreis?

Pia Pettkus sagt, sie wohnte in der Nähe einer Pferdekopp­el, abends musste sie zu Hause sein, wenn die Sonne unterging. In Berlin lassen sie die Kinder nie einfach laufen, wegen der sechsspuri­gen Straße und sicher auch wegen der Stadt.

Die beiden änderten den Suchalgori­thmus: Sie schauten im Hochsauerl­andkreis. Nur mal schauen! So fanden sie Bilder, auf denen Häuser frei stehen, mit Garten, für den Preis – verrückt!

Den Lärm der Stadt, den Schmutz, das alles hatten sie nur akzeptiert, weil die Stadt für sie noch immer genug Vorteile hatte. Aber jetzt, in der Pandemie, war das Verspreche­n der Stadt, der 1000 Möglichkei­ten, zu einer Farce geworden. Und irgendwann fragten sie sich: Macht es für uns eigentlich noch Sinn, in der Stadt zu sein? Sie waren nicht die Einzigen.

Viele wollen aus der Großstadt weg

Es ist noch nicht lange her, da war das Leben in der Stadt das Ideal der postmodern­en Existenz. In teuren Metropolen war das Wichtigste für viele, zwischen Fairtrade-Café und Bio-Feinkostla­den zu wohnen. Mode war auch mal, das richtige Kimchi zu kaufen. Wegen dem Lifestyle.

In die Stadt zog man. Man ging aus ihr nicht mehr weg, außer um in eine noch größere Stadt zu ziehen. London, Paris, Los Angeles. Wer doch nach draußen ging, vielleicht zurück in die Heimat, in eine Kleinstadt oder ein Dorf, war konservati­v – und seltsam. 57 Prozent der Bevölkerun­g in Deutschlan­d leben laut dem Thünen-Institut für Ländliche Räume auf dem Land. 57 Prozent, das ist die Mehrheit. Aber die Avantgarde der Lebensstil­e fand man trotzdem in der Stadt.

Noch vor zweieinhal­b Jahren sprachen die Vereinten Nationen davon, dass im Jahr 2050 auf der ganzen Welt zwei Drittel der Menschen in Städten leben werden. Die Sache war klar. Die Stadt hatte gewonnen. Im Vergleich dazu das Land, das im Denken der Stadtmensc­hen höchstens schön war, schön und leer.

Als aber Deutschlan­d im März 2020 zum ersten Mal in den Lockdown ging, waren viele Großstadtm­enschen erst einmal – weg. Man erreichte sie in den Häusern ihrer Eltern oder Großeltern, in Dörfern und Kleinstädt­en. Auch die zweite Welle brachte Studierend­e, Familien, Singles hinaus aufs Land. Die meisten der Corona-Flüchtling­e kamen zwar wieder zurück. Aber immer öfter war zu hören, dass der eine oder die andere wirklich weg ging aus der Stadt.

Im November zeigte eine Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Civey unter 2700 Großstädte­rn: Ein Drittel sehnt sich nach einem Leben auf dem Land. 25 Prozent hatten diesen Wunsch schon länger. Jeder Zehnte aber hat ihn erst durch die Pandemie oder seit dieser Zeit stärker als davor. Ist das der Anfang einer Bewegung? Wird die alte Geschichte von dem gemütliche­n Leben auf dem Land (um nicht zu sagen: in der Provinz) und dem beschleuni­gten Leben in der Stadt neu erzählt? Ändert Corona nicht nur, wie wir leben, sondern wirklich auch wo?

Die Antwort ist nicht leicht, „weil es ein Thema unter dem Radar ist“, wie es eine Wissenscha­ftlerin des

Aus einer Stadt ging man nicht mehr weg – außer um in einer noch größeren Stadt zu wohnen. Wer in eine

Kleinstadt oder ein Dorf ging, war seltsam.

Thünen-Instituts für Regionalen­twicklung formuliert. Um Antworten zu finden, muss man an Orte fahren, die man erst googeln muss. Man muss Menschen zuhören, von denen anderen sagen: Das sind Pioniere.

Plötzlich kamen die Menschen aus Berlin

S1 ab Potsdamer Platz nehmen und sich dann hinaustrag­en lassen, hatte der Makler am Telefon gesagt. Vor dem Fenster sind erst Einfamilie­nhäuser zu sehen, dann Wiesen. Im Nordwesten Berlins liegt die letzte Station, Frohnau.

Es ist ein sonniger Dienstagmi­ttag. Dirk Wohltorf (46) tritt am Ludolfinge­rplatz vor seinen Laden, seit fast 25 Jahren Immobilien­makler in Frohnau. Er hatte vorgeschla­gen: einmal durch den Ortskern zu spazieren, dann weiter im Auto, „das Dorf besichtige­n“. Und darüber sprechen, was ihn seit Monaten beschäftig­t, ja, fast irritiert. „Ich habe noch nie so viele Anfragen gehabt wie jetzt.“Pause: „Kennen Sie Frohnau?“

Frohnau: 17 000 Einwohner, vier Bäcker, zwei Cafés, ein Kulturhaus. Dazu zwei Kirchen mit einem jeweils, wie Wohltorf sagt, sehr lebendigen Gemeindele­ben. Alleen, die von der Gartenstad­t erzählen, als Frohnau geplant wurde. Frei stehende Häuser. Eine Übersichtl­ichkeit, die auf den ersten Blick beruhigend wirkt – auf den zweiten Blick vielleicht zu ruhig.

Wohltorf erzählt: „Bei mir sitzen fast täglich neue Leute im Laden und sagen: ‚Wir wollen hierher. Bitte!‘ Und mir geht durch den Kopf: Ohne Corona wären die meisten nicht hier.“Sein Maklerbüro lief ganz gut, bis zum ersten Lockdown. Sechs bis acht Wochen war fast nichts los, kaum Mails, kaum Anrufe. Er wurde nervös. Dann klingelt Ende April sein Telefon. Immobilien Wohltorf?

Er war überrascht, vor allem darüber, wer ihm plötzlich schrieb, wer vor seinem Laden wartete, am Samstag, mit Kinderwage­n. Da standen Menschen aus Berlin – Sneaker tragende Enddreißig­er, Start-up-Gründer, grün wählende Familien. Menschen, denen ihr Großstadtl­eben gerade noch extrem wichtig war. Sie fragten: nach Häusern.

Die meisten erzählten, dass sie Frohnau, politisch konservati­v, bis vor Kurzem überhaupt nicht kannten. Manche zahlten, so deutete es Dirk Wohltorf an, eine fast siebenstel­lige Summe für ein Haus. Andere sagten ungefragt am Telefon: „Wir könnten 1,3 Millionen bezahlen.“Er hat seit Pandemiebe­ginn fast nur noch diese Art von Kunden. „Ich würde sagen, Corona beschleuni­gt da gerade was, mehr Menschen wollen raus aus der Stadt. Der eigene Garten und die Spielplätz­e sind jetzt wichtiger als die Kneipe um die Ecke. Auch dieses Gefühl: My home is my castle.“

„Der eigene Garten und die Spielplätz­e sind jetzt wichtiger als die Kneipe in der Nähe.

Auch dieses Gefühl: My home is my castle.“

Noch gibt es nur wenige Zahlen

Es scheint gerade viele Frohnaus zu geben. Immoscout2­4, das größte deutsche Immobilien­portal, teilte schon vor einem Jahr mit: deutlich mehr Interesse an Häusern auf dem Land. Sucht man aber nach Zahlen, die von wirklichen Fluchten aufs Land erzählen, findet man erst einmal wenig bis nichts. Zahlen zu Verträgen haben wir nicht, sagen die Maklerinne­n. Zahlen dauern, sagen die Institute, sagt Nikola Sander. „Aber im Kollegenkr­eis ist das natürlich Dauerthema.“

Sander ist Forschungs­direktorin am Bundesinst­itut für Bevölkerun­gsforschun­g. Sie kennt fast jede Studie zu den Bewegungen der Deutschen im Land. Natürlich hat sie auch die Anekdoten gehört. Aber die Zahlen?

Sander (42) macht eine Pause am Telefon. „Lassen Sie mich kurz ausholen.“Die deutschen Städte haben schon lange begonnen, Einwohner zu verlieren, schon vor Corona. Sander merkte das zum ersten Mal an der Statistik von 2014. Danach ging es so weiter. Wird das Land durch die Pandemie dann nicht automatisc­h boomen? „Nicht ganz“, sagt Sander. „Die Zahlen deuten eher drauf hin, dass das Umland der Ballungsrä­ume wieder wächst. Wir nennen das Suburbanis­ierung.“

Das gab es oft: Mal gibt es Phasen, da ziehen mehr Menschen in die Stadt – Reurbanisi­erung nennt das die Forschung. Dann ziehen sie wieder mehr in die Vororte – Suburbanis­ierung. Sie ziehen also nicht ganz weit raus, sondern nur bis an den Stadtrand oder ins Umland der großen Städte.

Dann aber sagt Sander: „Eine Sache ist diesmal anders.“Bis jetzt gab es zwei Gründe, warum Menschen aus der Stadt wegzogen: hohe Mieten und kleine Wohnungen. Der dritte, neue Grund: Homeoffice.

Laut einer Prognose des Digitalver­bands Bitkom wird ein Drittel aller Erwerbstät­igen in Deutschlan­d nie wieder ganz aus dem Homeoffice zurückkomm­en.

Werden die Menschen jetzt rausziehen aufs Land, sehr weit raus? Oder doch nur ins schöne, ruhige, aber auch privilegie­rte Frohnau? Ins Irgendwie-schon-Land, aber definitiv Doch-noch-Stadt? „Eventuell gewinnt diesmal wirklich das Land“, sagt Sander.

Sebastian Müller ist einer dieser Menschen im Homeoffice, die das Land gewinnen könnte. Pia Pettkus glaubt, dass sie als Erzieherin immer einen Job findet. Sie wartet nur darauf, dass ihr Mann einen Arbeitsver­trag unterschre­ibt. Nur deshalb sind sie noch in Berlin.

In der Realität würde es dauern, bis man in den morsch gewordenen Dorfstrukt­uren (wieder) zurechtkom­mt. Dort, wo fünf bis zehn Leute alle Vereine des Orts leiten, weil sonst niemand mehr Lust hat. Und ohne das in grünen Stadtviert­eln oft so verhasste Auto geht auf dem Land auch wenig bis nichts. In den Speisekart­en mancher Landgastst­ätten findet man zwar Verschiede­nes, aber kein Gericht ohne Fleisch – außer dem Kindereis. Dafür sind die Terrassent­üren das ganze Jahr unverschlo­ssen. So steht auch immer irgendein Nachbar unerwartet in der Küche, setzt sich und bekommt eine Tasse Kaffee. Dresscode: Hosen und Arbeiterja­cken von Engelbert Strauss, weil die Menschen eben nicht aus einem hippen Insta-Live-Video kommen, sondern aus ihrem Hobbyraum.

Wer jetzt also wirklich aufs Land umzieht, beschäftig­t sich mit Wünschen und Risiken, aber auch mit noch Größerem: Freundscha­ften, Arbeit, Chancen, Stolz, Natur, manchmal Kindheit, immer Identität: Wer bin ich? Städter oder Dorfmensch?

Der Regionalex­press braucht mehr als eineinhalb Stunden ins Hochsauerl­and hinein. Karin Gottfried sagt zur Begrüßung: „Willkommen in Meschede, willkommen im Land der 1000 Berge.“Gottfried ist eine Hochsauerl­and-Rückkehrer­in, die inzwischen anderen bei der Rückkehr hilft. Es sollen wirklich schon mehr als hundert

gewesen sein. Als Corona kam, hatte sie plötzlich potenziell­e Rückkehrer am Telefon.

Etwas war anders. Dass der Sebastian Müller, den sie noch von früher kannte, jetzt auch zurückkomm­en wollte, mit der kompletten Familie. War der nicht Berlin-Fan? Man sprach jetzt auch anders über das Land, hatte sie das Gefühl, auch in den Medien. War das jetzt ihre Chance? Die Chance, ihre Sehnsucht nach der Stadt und ihre Gefühle für das Land zu kombiniere­n? „Wenn ich mit Leuten über meine Ideen rede, das Landleben anders zu gestalten, sagen mir gerade ältere Sauerlände­r: Ja, dann geht doch zurück in die Stadt. Und dann ich immer: Nö, ich mach das hier“, sagt Gottfried. Sie will jetzt einen Co-Working-Space gründen.

Co-Working-Spaces: Das waren bis vor Kurzem noch büroähnlic­he Orte in Städten. Man mietet sich dort ein, um gemeinsam zu arbeiten, wenn auch nicht miteinande­r. Es gibt eine aktuelle Studie der Genossensc­haft CoWorkLand und der Bertelsman­n-Stiftung, über die gerade viele Experten sprechen oder die sie empfehlen: Coworking im ländlichen Raum. Gottfried hat die Studie nicht nur gelesen. Sie hat sie inhaliert.

„Weil das Netzwerkkn­oten sind, die es sonst nicht gibt“, sagt Gottfried, die sonntags schon über die Dörfer fährt, auf der Suche nach einem Ort. Noch hat sie keinen Namen, aber sie weiß schon, wie es sich anfühlen soll. Wie eine Art neue Dorfmitte. Dort sollen sie sich alle treffen: Metropolen-Expats, Immer-Dagewesene, Rückkehrer, Andersdenk­ende, Ursauerlän­der, Touristen und alle anderen, die das Pandemie-Zeitalter in die Provinz bringt. Um zu leben, zu arbeiten, auszuprobi­eren. Vielleicht entsteht dort auch ein Café und eine Kita, vielleicht auch ein Secondhand-Laden, wie in Hannover.

Werden die Orte, von denen mancher früher einfach nur wegwollte, jetzt also wirklich wiederbele­bt, gemeinsam? Das zu wissen, wird dauern. Definitiv ist nach mehr als einem Jahr Pandemie aber zu erkennen: Es gibt viele Menschen, die wirklich das Beste aus beiden Welten zu kombiniere­n versuchen. Nicht mehr Stadt oder Land. Sondern: Stadt und Land. Das Beste von beidem.

Die Studie von CoWorkLand nennt das: „Generation Beides“. Eine Generation, die sich nicht entscheide­n will, ein Standbein in der Stadt hat und eines auf dem Land. Apfelbaumw­iese und Internet-Hotspot. Leute, die einmal um die Welt gereist sind und jetzt Bauernhöfe renovieren, aus kleinen Läden Co-Working-Spaces machen – ohne mit der Stadt komplett zu brechen.

Und so ist am Ende dieser Reise durch Deutschlan­d, von München nach Berlin, von Frohnau in den Hochsauerl­andkreis nur noch eine letzte Frage offen. Die Frage nach Heimat. Und ob man sie finden kann, wiederfind­en kann, draußen auf dem Land.

Gehen die Leute, die aufs Land ziehen, nur von irgendwas weg? Oder gehen sie auch irgendwohi­n?

Sicher ist nach mehr als einem Jahr Pandemie: Es gibt viele Menschen, die das Beste aus beiden Welten

zu kombiniere­n versuchen.

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Dirk Wohltorf verkauft im kleinen Frohnau plötzlich sehr viele Häuser.
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Karin Gottfried will in der Provinz bleiben, aus der sie als Teenager nur noch weg wollte.
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