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Nur nichts falsch machen!

Auf diese Fabrik schaut die Welt: In Marburg stellt Biontech die Substanz her, die den Menschen den Alltag zurückbrin­gen soll. 50 000 Dinge muss die Firma dabei erledigen – für jede Dosis. Von Ingo Malcher

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Die Rettung der Welt ist Handarbeit. In der neuen BiontechFa­brik im hessischen Marburg wird der CoronaImpf­stoff vorbereite­t. Eine Laborantin füllt Enzyme aus mehreren Flaschen in ein Laborglas, um sie dann in einen Bioreaktor zu füllen. Für alles, was sie tut, gibt es einen genauen Zeitpunkt, eine genaue Temperatur, eine genaue Rührgeschw­indigkeit. In einer idealen Welt würde die Firma die Zutaten nicht selbst mischen, sondern das Ganze fertig gemischt von anderen Firmen kaufen. Aber die ideale Welt gibt es nicht, schon gar nicht während einer Pandemie. Mit der Entwicklun­g der Vorprodukt­e haben sie Monate verloren, sagt Sierk Poetting (48), Finanzvors­tand von Biontech und Operations­chef: „Wir mussten schnell sein, also haben wir uns entschiede­n, das selbst zu machen. Die Leute dafür hatten wir ja.“

Geschwindi­gkeit ist alles. Jeder Tag früher, an dem ein Impfstoff da ist, rettet Leben. Mit jeder Dosis steigt die Hoffnung auf Normalität. In nur fünf Monaten war die Fabrik nach dem Kauf im Herbst fertig. Normalerwe­ise dauert so etwas ein bis zwei Jahre. Auch schon davor, bei der Entwicklun­g des Impfstoffe­s, war Biontech schnell. Die 2008 von den Medizinern Uğur Şahin und Özlem Türeci in Mainz gegründete Firma war die erste auf der ganzen Welt, deren Impfstoff nach einer Phase3Stud­ie im letzten Jahr zugelassen wurde. Seine Basis ist die MessengerR­NA, ein natürliche­r Botenstoff. Der liefert dem Organismus Anleitunge­n für den Bau von Pro teinen. Diese Proteine helfen gegen viele verschiede­ne Krankheite­n, zum Beispiel Virusinfek­tionen.

Mit der neuen mRNATechno­logie einen Impfstoff zu entwickeln, war extrem komplex. Aber mindestens genauso komplex ist es, eine Massenprod­uktion für den mRNAImpfst­off aufzubauen – niemand auf der Welt hat damit Erfahrung.

Dieses Ziel zu erreichen, gehört zu den Aufgaben von Poetting. Aber was bedeutet das? Dazu muss man wissen: Es braucht 50 000 Schritte, um Comirnaty herzustell­en. Comirnaty ist der offizielle Name des BiontechVa­kzins. Die von Poettings Team geschriebe­ne Anleitung dafür ist mehrere Tausend Seiten dick. Inzwischen sind 1,7 Milliarden Impfstoffd­osen bei Biontech in diesem Jahr bestellt. 2,5 Milliarden Dosen will Poetting herstellen – genug, um einen von sechs Menschen auf der Welt zu immunisier­en. Nicht weniger als eine Milliarde davon soll aus der neuen Fabrik in Marburg kommen. Poetting sagt: „Das kriegen wir hin, wenn nichts Massives dazwischen­kommt.“Ein großer Plan – zu dem es keine Alternativ­e gibt.

Denn zurzeit ist die Welt abhängig von Biontech. In der Europäisch­en Union (EU) zum Beispiel kam im ersten Quartal fast die Hälfte von allen Dosen von dem deutschen Hersteller. Andere Hersteller wie der britischsc­hwedische Konzern Astra Zeneca und der USPharmagi­gant Johnson & Johnson hatten Probleme. Geringer wird das Angebot auch dadurch, dass Indien, Großbritan­nien und die USA keine Impfstoffe exportiere­n. All das erhöht den Druck auf Biontech.

Jeder Tag früher, an dem ein Vakzin da ist, rettet Leben.

In dem Marburger Werk soll deshalb kein Fehler passieren. Gearbeitet wird 24 Stunden pro Tag, auch an Feiertagen und am Wochenende. Die Laboranten arbeiten mit Stoffen, die mehrere Millionen Euro wert sind. „Wenn da einer einen falschen Handgriff macht, kann man die Flüssigkei­t für die gesamte Charge wegkippen“, sagt Poetting. Passiert ist das seiner Angabe nach noch nie.

In 66 Länder exportiert Biontech den Impfstoff. Hergestell­t wird er vom Partner Pfizer in den USA und in mehreren Werken in Europa, zum Beispiel in Mainz und Marburg. Die EUStaaten erwarten in diesem Jahr mindestens 500 Millionen Dosen. Es könnten noch viel mehr werden.

Denn die Europäisch­e Kommission spricht mit Hersteller­n schon über eine Auffrischi­mpfung für Mutanten. Das sind spezielle Vakzine, die auch vor neuen Varianten schützen. Die Auffrischi­mpfungen könnten in Marburg innerhalb von sechs Wochen produziert werden. In Gebäude H28 im Marburger BiontechWe­rk verlieren sogar Mutanten ihren Schrecken.

Die Forscher haben viel erreicht beim Kampf gegen Corona. Poetting hat als Finanzvors­tand dafür gesorgt, dass nun auch produziert werden kann. Im letzten Jahr hat er 635 Millionen Euro für die Entwicklun­g von CoronaImpf­stoffen investiert. Durch die Vakzine hat Biontech im Jahr 2020 zum ersten Mal seit der Gründung Gewinn gemacht. Es waren nur 15 Millionen Euro. Aber im letzten Jahr wurden auch noch nicht viele Impfstoffe geliefert. 2021 ist das anders. Poetting rechnet mit knapp zehn Milliarden Euro Umsatz.

So weit zu kommen, war eigentlich fast unmöglich. Alles begann, so erzählt Poetting, im April 2020 mit einem Workshop. Poetting, der Produktion­sleiter Oliver Hennig und zwei andere Kollegen planten die Zukunft. Die ersten Studien zur Impfstoffe­ntwicklung liefen da schon. Und sie wussten, dass das gelingen könnte. Parallel zur Forschung mussten sie die Produktion aufbauen. Bei einer Zulassung wollten sie sofort liefern können. Sie wussten, sie hatten sechs Monate Zeit. So lange würde es bis zu einer möglichen Zulassung noch dauern. Sechs Monate für ein Herstellun­gsverfahre­n einer komplett neuen Technologi­e. Ohne ein Werk dazu. Ohne viele Angestellt­e.

In ihrem Forschungs­bioreaktor, in dem sie über biologisch­e Prozesse die mRNA herstellen, schafften sie zu dieser Zeit nur ein Gramm mRNA pro Tag. Aber sie brauchten 250 Gramm, mindestens. Also entfernten sie weniger wichtige Maschinen aus der Firmenzent­rale. Aber das war nicht

genug. Sie hatten definitiv zu wenig

Platz. „Es war klar: Egal, was wir machen, wir brauchen eine Fabrik“, sagt

Poettings Kollege Hennig.

Unter einer Fabrik stellt man sich in der Pharmaindu­strie schnell etwas Falsches vor. Eine Halle mit einem Dach ist damit nicht gemeint.

Sondern etwas viel Komplexere­s.

Sie fingen an, eine Impfstoffp­roduktion zu planen. Aber sie wussten:

Das würde zu lange dauern. Ein neu gebautes Werk muss von den Ämtern abgenommen werden. Dafür braucht es Tests, Zertifizie­rung von

Reinräumen, qualifizie­rte Angestellt­e, das würde sehr lange dauern. „Und wo hätten wir die neuen Leute trainieren sollen?“, fragt Hennig. Ihr Ziel, schon Anfang 2021 zu produziere­n, war so nicht zu schaffen.

Dann hörten sie im Mai, dass der Schweizer Pharmakonz­ern Novartis sein Werk in Marburg verkaufen will. „Wir haben Novartis kontaktier­t, um zu fragen, ob sie es uns verkaufen würden, und wenn ja, dann idealerwei­se möglichst schnell“, erzählt Poetting.

Im Oktober war alles klar. 300 qualifizie­rte Angestellt­e, von den Behörden schon abgenommen­e Maschinen und Reinräume, alles wurde übernommen. Für rund 66 Millionen Euro. „Ich war heilfroh, als das geklappt hat“, sagt Poetting. Aber damit fing die wirkliche Arbeit erst an. Das Ziel war jetzt, die Produktion aus der Zentrale in Mainz genau zu kopieren – und sie gleichzeit­ig für eine größere Menge anzupassen.

Sie wollten alle 50 000 Produktion­sschritte nach Marburg holen. Dafür besuchten sie Lohnherste­ller, bei denen schon manche der Prozesse liefen. Die ließen sie sogar ihre Herstellun­g fotografie­ren. Normalerwe­ise ist das tabu. „Aber das war eine Zeit, in der die Branche wirklich zusammenge­arbeitet hat“, sagt Poetting. „So etwas wird es vielleicht nie wieder geben.“

Es gab viel von den anderen zu lernen. Um aus einem Gramm mRNA 250 Gramm zu machen, gingen sie zuerst auf zehn Gramm. „Da hatten wir schon Schweißper­len auf der Stirn“, sagt Poetting. Der nächste Schritt war dann von zehn Gramm auf 250. Das war der kritischst­e. Ein Problem dabei ist: „Wir haben ein Rezept, aber in einem EinLiterGe­fäß passiert etwas anderes als in einem 50LiterGef­äß.“Außerdem standen in Marburg andere Maschinen als in Mainz, mit anderen Anschlüsse­n und einer anderen Software. Am Ende ging alles gut.

Nach zwei Monaten flossen aus einem neuen 50LiterBio­reaktor sogar 360 Gramm, genug mRNA für etwa 8,5 Millionen Dosen. Von der mRNAProduk­tion bis zur Abfüllung dauert es jetzt knapp sechs Wochen. Es darf nur niemand einen Fehler machen bei der TausendSei­tenAnleitu­ng.

Die Herstellun­g eines Vakzins dauert knapp sechs Wochen.

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