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Die Kraft des Optimismus

Wenn das alte Leben nicht mehr funktionie­rt, brauchen wir neue Motivation. Unser Autor hat mit Menschen gesprochen, die wissen, wie das geht: im Dunkeln das Licht zu sehen. Von Alard von Kittlitz

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Das Guillain-Barré-Syndrom ist eine schlimme Krankheit: Es lähmt den Körper langsam. Die Lähmung beginnt meistens in den Händen und Füßen. Dann wandert sie langsam aufwärts ins Gesicht, bis die Menschen nicht mehr atmen können. Zum Glück ist das Syndrom nicht nur therapierb­ar. Die Lähmungen sind, wenn alles gut geht, am Ende wieder komplett weg.

Als die Krankheit bei dem Mann auf Station 6 ihren Höhepunkt erreichte, konnte er nicht einmal husten. Vier Monate nach der Diagnose und nach einem langen Aufenthalt auf der Neurologie hat der Patient es in die neurologis­che Frührehabi­litation der Median-Klinik in Kladow bei Berlin geschafft.

Gerade ist Visite, es stehen fünf Ärzte um sein Bett herum. Er soll beide Arme heben. Das tut er, aber es ist sehr anstrengen­d für ihn. „Sehr gut, sehr gut“, lobt Jörg Schultze-Amberger, der Chefarzt. „Sehen Sie, da sind Sie vor allem rechts viel weiter. Letzte Woche konnten Sie das noch nicht.“Der Patient lächelt. Er ist Mitte vierzig.

Zu Hause warten seine Frau und sein neun Monate altes Kind auf ihn. Sein altes Leben, in dem er als Jurist viel Erfolg hatte, bevor er so krank wurde.

Es ist ja schon seltsam: Alle wissen, dass im Leben immer plötzlich alles ganz anders sein kann. Trotzdem erwarten die meisten das nie für sich. Anders die Ärzte auf der Station 6. Sie sehen ein Leben nach dem anderen, dem es sehr schlecht geht. Der Mann da zum Beispiel, vor Kurzem war er noch Sportlehre­r. Jetzt liegt er hier, hat 25 Kilogramm verloren und ganz dünne Beine bekommen. Wie rappelt der sich jetzt wieder auf?

Um diese Frage soll es hier gehen. Denn vielleicht kann man die Pandemie ein bisschen so sehen wie so ein großes Problem im Leben. Vor zwei Jahren wussten wir zwar, dass etwas Gefährlich­es aus China kommt. Aber das Drama sahen wir noch nicht.

Inzwischen aber sind viele sehr krank gewesen. Mehr als 100 000 Menschen in Deutschlan­d sind an Corona gestorben. Irgendwann, so verspreche­n wir uns, dürfen wir zurück in das alte Leben. Aber wie lang dieser Weg noch ist und ob wir das Ziel überhaupt jemals erreichen,

wissen wir immer noch nicht. Woher nehmen wir da Optimismus? Wie rappeln wir uns auf?

In diesem Text werden wir Menschen treffen, die etwas über Motivation erzählen können. Das werden keine profession­ellen Coaches sein. Auch wollen wir die dummen Sprüche vermeiden, die inzwischen fast jeder schon einmal – #getmotivat­ed – im eigenen Twitterode­r Instagramf­eed gesehen hat: „Positiv sein heißt nicht, so zu tun, als ob alles gut ist. Es heißt, das Gute in allem zu sehen.“

Es soll um andere Geschichte­n gehen: In ihnen gibt es komplizier­tere Erkenntnis­se aus dem Leben darüber, warum man am Ende trotzdem optimistis­ch sein kann.

1. Alles anders

Jörg Schultze-Amberger ist Neurologe, Intensivme­diziner – und jemand mit viel Erfahrung im Motivieren. Auf der 6 geht es ja um den Weg zurück ins Leben. Wenn der Chefarzt zum Patient oder zur Patientin kommt, will er auch etwas lernen über den Menschen, der da vor ihm liegt. Der soll merken: Er wird gesehen.

„Was die Menschen hier rausträgt“, sagt SchultzeAm­berger, „ist letztlich die Sehnsucht nach der alltäglich­en Welt. Nach ihren Familien, ihren Freundinne­n, ihren Routinen, nach dem Dasein, das sie gekannt haben. Daran will ich sie erinnern. Wir brauchen alle ein Ziel. Wenn jenseits des Krankenhau­ses niemand und nichts wartet, wird es für uns Ärzte sehr viel schwierige­r.“

Vielleicht ist das gar nicht das Wichtigste, das man auf der Station 6 lernen kann. „Niemals“, sagt Schultze-Amberger, „würde ich einem Patienten ein hoffnungsv­olleres Bild der Genesungsc­hancen zeichnen, als mir realistisc­h scheint.“Das findet er nicht nur ethisch schwierig. Er hat noch einen anderen Grund: „Weil die Frustratio­n darüber, dass es nicht besser wird, den Heilungspr­ozess verlangsam­en kann.“

Und wie motiviert er dann jemanden, dem er sagen muss: Dein altes Leben ist vorbei? Schultze-Amberger weiß: Wir Menschen können ganz anders leben, als wir uns vorher gedacht haben, auch mit einer extremen Krankheit wie Amyotrophe Lateralskl­erose. Die Krankheit zerstört das motorische Nervensyst­em. „Sehr oft sagen die Leute vor einer solchen Diagnose, dass sie mit so einer Krankheit nicht mehr leben wollen würden“, sagt der Arzt. „Nach der Diagnose aber möchten sie es dann doch. Und sie sind – das ist das Erstaunlic­he – dann nicht unbedingt unglücklic­h, sondern mit ihrem Leben bisweilen auch sehr zufrieden.“

Inuit haben gelernt, auch bei extrem niedrigen Temperatur­en zu leben. Beduininne­n leben dort, wo keine Pflanze wachsen will. Und nicht wenige Tokioter wohnen auf fünf Quadratmet­ern. Der Mensch kann sich extrem gut anpassen.

Es kann uns also passieren, dass alles plötzlich weg ist, oder nichts mehr funktionie­rt. Und trotzdem, das ist auch die Erfahrung dieses Arztes, ist das Leben damit nicht automatisc­h vorbei. Es geht nur anders weiter als erwartet. Man muss sich neu motivieren.

2. Im Licht des präfrontal­en Kortex

Was ist das denn aber eigentlich, Motivation? Warum müssen wir uns so anstrengen­d aufrappeln, um etwas

Wir Menschen können ganz anders leben, als wir uns vorher gedacht haben, auch mit einer extremen

Krankheit wie Amyotrophe Lateralskl­erose.

Nötiges zu tun? Und ist es nicht ärgerlich, dass wir nicht immer top motiviert sind?

„Top motiviert ist der Süchtige auf Entzug“, sagt Michael Niedeggen, Professor für Neuropsych­ologie an der Freien Universitä­t Berlin. Denn der will nur noch eines: endlich wieder seine Narkotika haben. Kein guter Zustand, findet Niedeggen.

Die Motivation­sforschung untersucht ein fantastisc­hes Phänomen: dass ein Mensch etwas entscheide­n kann. „Ich sitze zum Beispiel zu Hause und stelle fest: Ich habe Hunger“, erklärt der Professor. „Das ist die Basis für die Motivation: Der Hypothalam­us verrechnet Blutzucker­werte, Peptide aus dem Magen-Darm-Trakt, Ergebnis: Ich will etwas essen. Ich gehe in die Küche. Dort liegen eine Paprika und eine Chipstüte. Jetzt kommt das Dopamin ins Spiel. Worauf fokussiere ich meine Planung? Angenommen, ich habe mir fest vorgenomme­n, abzunehmen, mich gesünder zu ernähren: Dann fängt jetzt der präfrontal­e Kortex an zu arbeiten. Es beginnt ein bewusster Entscheidu­ngsprozess.“So kann auch mal eine Paprika gegen die Chipstüte gewinnen.

Vielleicht motiviert das ja schon einmal: Wir können etwas erreichen, weil wir es wollen – aber natürlich nicht alles. Oder denkt irgendwer, dass zum Beispiel ein 40-jähriger, dicker Mann wirklich Mitglied beim russischen Staatsball­ett werden könnte? Ziele machen dann Sinn, wenn man sie auch erreichen kann.

Aber ist das genug? Wir sehen es ja leider sehr oft anders. Die berühmten Neujahrsvo­rsätze: Am 5. Januar hat man dann doch wieder die Zigarette in der Hand. Obwohl man absolut mit dem Rauchen aufhören wollte. Das ist es, was uns frustriert: Wir sind motiviert. Aber wir orientiere­n uns bei dem, was wir tun, nicht daran. „Meistens stellen wir fest: Es dauert doch zu lange, bis ich das Ziel erreiche. Es ist doch schwierige­r, als ich gedacht hatte“, sagt der Professor.

Wir müssen wissen, wer wir sind. Nur so wissen wir, wie viel wir erreichen können. Und nur so merken wir, dass wir wirklich auch dort ankommen wollen. Man kann nur, was man will. Und man will nur, was man kann. So wie Engelbert Lütke Daldrup.

3. Zurück in der Realität

Eine der fast satirische­n Phänomene des Coronaviru­s ist: Der berühmte Berliner Pannen-Flughafen BER öffnete genau dann, als wegen der Pandemie kein Mensch mehr fliegen wollte: am 31. Oktober 2020, mit neun Jahren Verspätung.

Als Engelbert Lütke Daldrup im März 2017 Chef des Projekts wurde, wusste er von der Corona-Krise natürlich noch gar nichts. Aber alle Freunde hatten ihm empfohlen, den neuen Job abzulehnen. Warum machte er das trotzdem? Was motivierte ihn zu dieser Sisyphosar­beit, wie er sie später nannte? „Verantwort­ung“, sagt er. Anfang 2017 musste der Mann gehen, der vor ihm BER-Chef war. Da war er einer der Menschen, die einen neuen Chef finden mussten. Aber nur sehr wenige Menschen in Deutschlan­d konnten, was man dafür können muss. Einer davon war er selbst.

Lütke Daldrup hatte die technische und politische Erfahrung für ein so öffentlich­es Bauprojekt. Er wusste ziemlich viel darüber, wie es dem Flughafen wirklich ging. Und dann war da noch etwas: Dieser Manager war kein Überfliege­r.

Wir müssen wissen, wer wir sind. Nur so wissen wir, wie viel wir erreichen können. Man kann nur, was man will. Und man will nur, was man kann.

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