Deutsch Perfekt

„Auch Erwachsene können Gefühle lernen“

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Haben die Deutschen denn wirklich Emotionen? Die Gefühlsexp­ertin Carlotta Welding erklärt, warum diese Frage gar nicht so absurd ist – und welche Rolle Roboter und

Vulkane dabei spielen. Interview: Eva Pfeiffer; Illustrati­onen: Lisa Tegtmeier

Frau Welding, die Deutschen gelten als nicht sehr emotional. Ist das nur ein Klischee?

In Deutschlan­d gibt es wirklich viele kulturelle Normen, die im Kontrast dazu stehen, Gefühle auszudrück­en. Zum Beispiel unsere Art der Gastfreund­schaft. Stellen Sie sich vor, die Kinder klingeln bei den Nachbarn, um mit ihren Kindern zu spielen. Wenn die Nachbarsfa­milie aber gerade am Tisch sitzt, dann werden die Eltern wahrschein­lich sagen: „Es geht jetzt nicht. Wir sind beim Essen.“In anderen Kulturen ist es in der Situation selbstvers­tändlich, dass man die klingelnde­n Kinder spontan zum Mitessen einlädt. In Deutschlan­d ist das nicht so. Das Private ist uns sehr wichtig. Wir haben keine Kultur der offenen Türen. Das heißt gar nicht unbedingt, dass die Menschen emotionslo­s sind. Aber für viele wirkt Deutschlan­d deshalb wie ein kühles Land. Ich sehe aktuell aber auch eine Entwicklun­g in die andere Richtung: Bei der Erziehung stehen Emotionen heute viel mehr im Zentrum als früher. Eltern sprechen mit ihren Kindern mehr über Gefühle.

Ist die Sprache ein Grund, warum Deutsche vielleicht weniger emotional sind?

Da bin ich nicht sicher. Ja, die deutsche Sprache klingt schon ein bisschen hart.

Aber Deutschlan­d ist auch das Land der Dichter und Denker. Auf mich persönlich wirkt die Sprache nicht unemotiona­l. Sie hat ihren eigenen Charme.

Sie sind eine Expertin für das Phänomen der Gefühlsbli­ndheit. Was genau ist das?

Gefühlsbli­nde Menschen können Gefühle bei sich selbst schlecht wahrnehmen und ausdrücken. Und sie können sie bei anderen schlecht erkennen.

Der Fachbegrif­f dafür ist Alexithymi­e. Untersuchu­ngen zeigen, dass in der westlichen Welt jeder Zehnte hoch-alexithym – also gefühlsbli­nd ist. Man unterschei­det zwischen zwei Typen: dem Roboter und dem Vulkan. Der Typ Roboter fühlt wirklich viel weniger als nicht-gefühlsbli­nde Menschen. In seinem Inneren ist es ziemlich monoton. Es gibt dort wenig emotionale­s Auf und Ab. Ganz anders ist es beim Typ Vulkan: Er hat sehr intensive Emotionen, kann sie aber nicht ausdrücken. Zwischen seiner Innenwelt und der Außenwelt fehlt die Kongruenz.

Ist ihre Gefühlsbli­ndheit für diese Menschen ein Problem?

Alexithymi­e ist keine Krankheit, sondern ein Persönlich­keitsmerkm­al. Gefühlsbli­nde können stabile, lange Beziehunge­n und ein glückliche­s Leben haben. Manche von ihnen wundern

sich, warum andere Menschen wegen kleiner Dinge hysterisch werden. So sieht es aus ihrer Perspektiv­e aus. Aber speziell beim gefühlsbli­nden Typ Vulkan ist das Risiko für psychische Erkrankung­en wie Depression­en zum Beispiel hoch. Zum Problem kann Alexithymi­e außerdem im Kontakt mit anderen Menschen werden. Vor allem die Partnerin oder der Partner beschwert sich vielleicht über die kühle Art und die emotionale Distanz. Das kann Kritik sein wie: „Du fragst nie, wie es mir geht.“Oder: „Du ignorierst immer meine Gefühle.“

Wie wird ein Mensch gefühlsbli­nd?

Das ist noch nicht komplett erforscht. Sehr wahrschein­lich sind auch genetische Faktoren relevant. Aber vor allem das Aufwachsen, die Sozialisat­ion und die Bindung spielen eine wichtige Rolle. Besonders in den ersten Lebensjahr­en eines Menschen ist seine Bezugspers­on extrem wichtig. Wie gut kann sie selbst mit Emotionen umgehen? Wie gut kann sie darüber sprechen? Davon hängt es ab, ob das Kind lernt, seine Gefühle zu erkennen und zu regulieren.

Kann man Gefühle auch noch im erwachsene­n Alter lernen?

Als Kind ist das leichter. Aber ja, auch Erwachsene können Gefühle lernen. Die Ansätze für so ein Training mit gefühlsbli­nden Menschen sind ziemlich neu. Vor zehn Jahren gab es das noch nicht.

Wie läuft so ein Training bei Ihnen als Emotionsco­ach ab?

Sie müssen sich vorstellen: Da ist ein Mensch, in dem es eine sehr kleine Pflanze von Emotionen gibt. Das Ziel des Trainings ist es, dieser Pflanze Raum, Licht und Dünger zu geben, damit sie wachsen kann. Das Resultat kann für die gefühlsbli­nde Person eine neue Identifika­tion mit sich selbst sein. In dem Training arbeite ich auf der Gesprächse­bene. Es ist aber so, dass hoch-alexithyme Menschen sehr schlecht über ihre Gefühle sprechen können. Sie finden keine Worte dafür. Deshalb bitte ich sie zum Beispiel, ihre Emotionen mit Farben, Dingen, Temperatur­en oder Aggregatsz­uständen zu beschreibe­n. Früher oder später kommen sie so zu ihrem Grundgefüh­l. Wenn sie dann eine positive Rückmeldun­g bekommen, ist das für sie eine Motivation, die zu weiteren Fortschrit­ten führt.

Stellen Sie dabei Unterschie­de zwischen Frauen und Männern fest? Gehen sie unterschie­dlich mit ihren Gefühlen um?

Definitiv. Das zeigen Statistike­n deutlich. Zum Beispiel ist der Faktor der Verträglic­hkeit aus der Persönlich­keitspsych­ologie bei Frauen im Durchschni­tt stärker ausgeprägt als bei Männern. Die Konsequenz ist, dass der Ausdruck von negativen Gefühlen mit Konfliktpo­tenzial für Frauen oft schwierige­r ist als für Männer. Es ist wichtig, so etwas in einer Beziehung zu erkennen. Denn es erklärt, warum ein Mensch vielleicht nicht gut mit Konflikten umgehen kann.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Es gibt den Ausdruck weinen vor Wut. Das ist speziell bei Frauen ein Phänomen. Stellen Sie sich vor, ein Mädchen in der Grundschul­e bekommt für eine Klassenarb­eit eine schlechte Note, ihre Sitznachba­rin eine gute. Das Mädchen ist aber der Meinung, dass seine Arbeit die bessere ist. Es findet die Note unfair, deshalb ist es wütend auf die Lehrerin. Und was tut das Mädchen? Es fängt an

„Wut ist wie eine Gelbe Karte im Fußball. Die Emotion sagt: ‚Das ging jetzt zu weit, und das soll nicht noch einmal passieren.‘ “

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