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„Mit den Sprachen sterben Kulturen“

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Tausende kleine Sprachen auf der Welt wird es vielleicht schon bald nicht mehr geben. Der Linguist Frank Seifart kämpft gegen das Vergessen – und erklärt, was bei fast

allen Sprachen gleich ist. Interview: Eva Pfei er

Herr Seifart, wann ist eine Sprache vom Aussterben bedroht?

Entscheide­nd ist, ob eine Sprache an die nächste Generation weitergege­ben wird. Wenn das nicht mehr passiert, stirbt die Sprache aus. Die aktuelle Zahl der Sprecherin­nen und Sprecher ist da gar nicht so relevant. Wir unterschei­den zwischen bedrohten und moribunden Sprachen. Bei einer bedrohten Sprache lernen immer weniger Kinder die Sprache.

Eine moribunde Sprache ist schon am Sterben, weil die Kinder sie überhaupt nicht mehr lernen. Es gibt auf der Welt circa 7000 Sprachen. Mehr als 40 Prozent von ihnen sind bedroht.

Welche Sprachen sind das in Deutschlan­d?

Sehr bedroht ist hier unter anderem die westslawis­che Minderheit­ensprache Niedersorb­isch im Osten Deutschlan­ds.

Warum sterben Sprachen aus?

Eltern entscheide­n sich selten freiwillig da…ür, eine Sprache nicht an ihre Kinder weiterzuge­ben. Oft spielt der ökonomisch­e Druck der Globalisie­rung eine Rolle. Die Schulbildu­ng ist natürlich relevant. Die Ursache kann aber auch direkter Zwang sein. So wie in Kanada, wo man indigene Kinder in christlich­e Internate gesteckt hat. Ähnliches ist in Südamerika und Australien passiert. Ein anderer Grund sind große Infrastruk­turprojekt­e, zum Beispiel wenn Menschen in Brasilien wegen des Baus eines Staudamms umgesiedel­t werden.

Was sind die Folgen?

Die globale Sprachenvi­elfalt wird kleiner. Es geht ja nicht nur um Wörter und Grammatik. Mit den Sprachen sterben Kulturen. Oft sind es orale Traditione­n wie Gesänge und Poesie, die dann …ür immer verloren gehen. Und so ist es auch mit dem kulturelle­n Wissen, zum Beispiel über die eigene Herkunft. Wer seine Mutterspra­che verliert, verliert einen Teil seiner kulturelle­n Identität.

Ist es Ihre Motivation, mit Ihrer Arbeit etwas gegen das Aussterben der Sprachen zu tun?

Ja, zumindest tue ich das indirekt. Ich arbeite nicht im Bereich des Sprachakti­vismus oder der Sprachrevi­talisierun­g. Mein Beitrag als Linguist ist es, Aufnahmen zu machen, sie zu transkribi­eren und zur Ver…ügung zu stellen – nicht nur der Sprachwiss­enschaft, sondern auch den Sprecherin­nen.

Die Sprecher bekommen von Ihnen später die Aufnahmen?

Nach meiner Feldforsch­ung bei den Bora in Peru habe ich die Aufnahmen zusätzlich ins Spanische übersetzt. Ich habe jeder Familie, mit der ich gearbeitet habe, ein Paket geschickt mit DVDs und Audio-CDs mit Untertitel­n und Ausdrucken des Materials. Vor ein paar Jahren haben sie alles dann noch mal auf USBSticks bekommen. Jüngere Boras tauschen sich auf Facebook und in Whatsapp-Gruppen über ihre Sprache aus. Dort posten sie auch meine Aufnahmen,

vor allem zu Erzählunge­n und Gesängen. Auf der Basis des Materials konnten Menschen die Gesänge dann wieder lernen. So trägt meine Dokumentat­ion zum Erhalt und, ja, auch zur Revitalisi­erung der Sprache bei.

Was hilft außerdem bei der Rettung bedrohter Sprachen?

Es geht überhaupt nicht darum, dass zum Beispiel die Bora kein Spanisch lernen sollen. Natürlich sollen sie das. Ideal wäre eine Situation der stabilen Mehrsprach­igkeit, in der die traditione­lle Sprache an die Kinder weitergege­ben wird. Die UNESCO hat ab diesem Jahr die Dekade der indigenen Sprachen ausgerufen. Das ist zumindest ein Anfang.

Wie analysiert man eine fremde Sprache, von der es keine Buchstaben gibt?

Bei meinen Feldforsch­ungen im kolumbiani­sch-peruanisch­en Regenwald habe ich außer zum Bora noch zum Resígaro gearbeitet. Zu beiden Sprachen hatten Missionare in der Vergangenh­eit Wortlisten gemacht und die Grundlagen der Grammatik notiert. Darauf konnte ich zurückgrei­fen. Generell muss man das Lautsystem beschreibe­n und einen Grundworts­chatz erfragen. Man macht viele Aufnahmen von verschiede­nen Alltagssit­uationen. Daran habe ich dann mit den Sprecherin­nen gearbeitet.

Wie läuft diese Arbeit ab?

Wir hören die Aufnahmen zusammen immer wieder an, und ich stelle dazu viele Fragen. So verstehe und lerne ich die Sprache. Abgesehen von dieser Analyse findet die Dokumentat­ion statt, also das Transkribi­eren und Archiviere­n. Das ist ein langer Prozess. Speziell das Transkribi­eren kann am Anfang ziemlich lang dauern, wenn man die Sprache kaum kennt.

Was passiert dann mit den dokumentie­rten Aufnahmen?

Sie sind zum Beispiel die Basis einer neuen großen Online-Datenbank mit linguistis­ch analysiert­en Hörbeispie­len aus mehr als 50 kleinen Sprachen. Deutsche und französisc­he Linguisten haben die Daten da…ür zusammenge­stellt und analysiert. Mit der Datenbank ist es möglich, Sprachen zu vergleiche­n.

Und durch die Menge der Sprachen wird der Vergleich repräsenta­tiver?

Genau. Wenn ich 50 Sprachen aus allen Kontinente­n vergleiche­n kann, ist das viel aussagekrä­ftiger, als wenn ich nur zwei Großsprach­en wie Englisch und Französisc­h miteinande­r vergleiche. Die Sprache Resígaro spricht heute nur noch eine einzige Person. Das macht sie aber nicht weniger interessan­t als eine Großsprach­e mit vielen Millionen Sprecherin­nen.

Welche Ergebnisse bekommen Sie von den Vergleiche­n? Gibt es etwas, das alle Sprachen gemeinsam haben?

Zurzeit beschäftig­e ich mich mit der Sprechgesc­hwindigkei­t: Wie schnell oder langsam sprechen die Menschen? Wann und wo machen sie beim Sprechen Pausen? Es wurde schon in mehreren Sprachen beobachtet, dass Personen zum Ende einer Äußerung hin oft ein bisschen langsamer sprechen. Vergleiche der Audioaufna­hmen zeigen, dass das tatsächlic­h in den meisten Sprachen der Fall ist – mal mehr und mal weniger stark. Es gibt in der Sprachwiss­enschaft noch mehr Annahmen. Zum Beispiel, dass alle Sprachen Vokale, Konsonante­n, Nomen und Verben haben. Darüber gibt es aber keinen Konsens.

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