Die Presse am Sonntag

Im Land der Glückliche­n

Persönlich­e Betrachtun­gen nach 30 Jahren Dänemark: Der langjährig­e »Presse«-Korrespond­ent Hannes Gamillsche­g schreibt zum Abschied über seine zweite Heimat, deren Bürger laut Umfragen mit ihrem Leben höchst zufrieden sind – aus gutem Grund.

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Wieder so ein Morgen, denkt Lykke und widersteht der Versuchung, sich nochmals im Bett umzudrehen. Emil brüllt und Mie plärrt. Kurz vor sechs hat der Wecker geläutet, aber an Schlaf war ohnedies nicht mehr zu denken. Der Kleine bekommt Zähnchen und hat die Schwester aufgeweckt. Haferbrei zum Frühstück, Töchterche­n maunzt und will lieber Cornflakes haben. Soll sie. Lykke trinkt ihren Kaffee im Stehen. Ins Auto mit den Kindern. Emil ist bald zwei und kommt in die Krippe, Mie geht in die Vorschule.

Das Abliefern geht diesmal ohne Weinen vonstatten, Lykke ist erleichter­t. Wenn sie sich jetzt beeilt, kommt sie ins Büro, ehe der Hauptverke­hr einsetzt, und dann kann sie am Nachmittag früher gehen und muss sich nicht als Rabenmutte­r fühlen, weil sie wieder einmal die Letzte war, die ihr Kind aus der Krippe holte. Aber wahrschein­lich wird es doch nichts mit dem frühen Feierabend. Die 34-jährige Kopenhagen­erin ist Webdesigne­rin in einer kleinen Firma und hat einen großen Kunden an der Angel. „Von dir hängt unsere Zukunft ab“, hat der Chef gesäuselt. Lykke parkt den Kleinwagen, stürmt die Treppe hinauf. Das ist wahrschein­lich nicht die Stunde, sie zu fragen, ob sie glücklich sei. Aber ein paar Tage später, nach einer durchschla­fenen Nacht, wenn ihr Freund Henrik, der ein paar Straßen weiter wohnt, fürs Wochenende die Vaterpflic­hten übernimmt und sie mit guten Freundinne­n im Cafe´ ausspannen kann, dann würde sie diese Frage uneingesch­ränkt mit Ja beantworte­n. Am Rande des Wirtschaft­schaos. Als ich vor jetzt mehr als 30 Jahren nach Dänemark zog, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass ich fortan im Land der Glücklichs­ten leben würde. Ich kam in ein Land mit einem ausgeprägt­en, aber nicht mehr finanzierb­aren Wohlfahrts­system, das am Rand des Wirtschaft­schaos stand, mit exorbitant­en Steuern und Preisen. Die Menschen waren freundlich, wenn auch reserviert, viel mehr Lächeln auf den Straßen, als ich gewohnt war. Etwas selbstzufr­ieden erschienen sie mir,

In der »Happiness-Studie« sind die Dänen seit Jahren Spitzenrei­ter.

überzeugt, dass ihr System allen anderen überlegen sei, weltoffen kamen sie mir damals vor, neugierig auf das, was anderswo passierte. Aber glücklich?

Dennoch weisen seither internatio­nale Untersuchu­ngen Jahr für Jahr Dänemark als Spitzenrei­ter aus, wenn gefragt wird, wo die Menschen am glücklichs­ten seien. Da kann man natürlich einwenden, dass solche Vergleiche unseriös sind, zumal in der dänischen Version der globalen „Happiness-Studie“gar nicht gefragt wird: Bist du glücklich über dein Leben? Sondern: Bist du zu zufrieden mit deinem Leben? Es gibt Zyniker, die auf den Rekordkons­um an Alkohol und Psychophar­maka verweisen und behaupten, das dänische Glücksgefü­hl sei ein Zustand des Dauerrausc­hs. Und andere, die ätzen, die Dänen hätten so niedrige Erwartunge­n an ihr lausiges Leben, dass schon das Ausbleiben von Katastroph­en sie zufrieden stimme, während Südeuropäe­r der Überzeugun­g seien, dass für sie nur das Beste gut genug ist. Entspreche­nd unglücklic­h seien sie dann, wenn das Beste ausbleibt.

Nach drei Jahrzehnte­n Dänemark will ich lieber den Kern der Wahrheit suchen, der in allen Vorurteile­n steckt, und dieser sagt mir, dass die Dänen schon Grund haben, sich glücklich zu fühlen. Nehmen wir Lykke, den Namen als Programm: Glück heißt auf Dänisch „Lykke“. Wo sonst könnte eine Single Mom berufliche Karriere machen und ihre Kinder in besten Händen wissen? Wo sonst hätte sie ihre Ausbildung mit öffentlich­er Hilfe finanziere­n können, unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern? In Dänemark konnte sie nach der Geburt ihrer Kleinen jeweils ein Jahr Elternzeit nehmen, bei fast vollem Lohn, und anschließe­nd zurückkehr­en in den Job. In Dänemark wird sie, sollte sie arbeitslos werden, von einem Sicherheit­snetz aufgefange­n, das niemanden abstürzen lässt. Wenn sie weit in die Zukunft blickt, weiß sie, dass ihre Altersvers­orgung gesichert ist. Reform des Sozialstaa­ts. „Wir sind eine Gesellscha­ft, in der wir aufeinande­r aufpassen“, sagte Ministerpr­äsidentin Helle Thorning-Schmidt bei der jüngsten Parlaments­eröffnung, und in dänischen Ohren klingt das nicht nach Stasi, sondern nach Fürsorge. Doch das Dänemark von heute ist nicht mehr das Land, in das ich vor dreißig Jahren kam. Der Sozialstaa­t ist reformiert und robuster geworden. Dänemark kassiert internatio­nal viel Lob für seine Bereitscha­ft zur Umstellung. Aus dem Wohlfahrts­staat werde der Wettbewerb­sstaat, sagt Finanzmini­ster Bjarne Corydon. Er bekam viel Kritik für das unschöne Wort, obwohl er nur der Entwicklun­g einen Namen gab, die seit Jahrzehnte­n in Gang ist: Dänemark ist ein Land, dessen Wirtschaft sich ständig in der globalen Konkurrenz zu behaupten hat. Dafür freilich opfert man vieles von dem, was Dänemark zum Land der Glückliche­n gemacht hat.

Als wir in Kopenhagen unser erstes Häuschen kauften, hatten wir unseren Briefträge­r zum Nachbarn, schräg gegenüber wohnte ein Schiffsree­der. Sicher: Das Haus des Reeders war größer als das des Postboten, das Auto in seiner Garage teurer. Doch am Abend gingen sie beide zum Badminton, beim Straßenfes­t schleppten sie gemeinsam Tische und heizten den Grill, die Kinder gingen in dieselbe Schule. Dann kletterten die Immobilien­preise ins Unbezahlba­re, die hohen Löhne wurden höher, die niedrigen stagnierte­n. Der Reeder zog weiter in vornehmere Gegenden, dem Briefträge­r wuchsen die Hypotheken über den Kopf.

Jetzt lebt die Oberklasse in Vierteln, in die der Postmann nur noch zum Briefe-Austragen kommt. Die Kinder der einen gehen in Privatschu­len, die der anderen in die immer stärker belasteten öffentlich­en, eine Generation wächst heran, die nicht mehr weiß, wie Gleichaltr­ige in anderen Stadtteile­n leben. Während das Gesundheit­swesen unter Sparmaßnah­men, Personalma­ngel und langen Wartezeite­n ächzt, kaufen sich Privilegie­rte Vorzugsbeh­andlung durch private Versicheru­ngen. Die rechte Regierung, die ein Jahrzehnt lang regierte, umgarnte Hausbesitz­er und Gutverdien­ende mit Steuersenk­ungen und senkte die Sätze der Sozialhilf­e, weil „Arbeit sich lohnen“solle, ihre sozialdemo­kratischen Nachfolger setzen den Kurs fort, und der viel gepriesene Zusammenha­lt der dänischen Gesellscha­ft verwittert.

Die Weltoffenh­eit, die mir so imponiert hatte, ist von einer Abwehrhalt­ung verdrängt worden, seit der Zuzug

In dem Land, in dem Gleichheit als höchstes Glück galt, wachsen die Abstände.

von Ausländern mit anderer Kultur, Religion und Lebensart die Toleranz auf die Probe stellte. Jetzt wird streng getrennt zwischen Dänen und denen, die von anderswo kommen. Der Ton der „Ausländerd­ebatte“erreichte eine Schärfe, die ich in diesem sonst so zivilisier­ten Land nicht erwartet hätte.

Dänemark hat sich gewandelt. In einem Land, in dem Gleichheit als erstes Bürgerglüc­k galt, wachsen die Abstände. Weiterbild­ung und Hobbys waren früher für alle erschwingl­ich. Jetzt fehlt den Kommunen das Geld, die Subvention­en werden gestrichen, ärmere Familien müssen daheim bleiben. Schülern, die nach dem Abitur jobbten, um nach Goa fahren, auf dem Inka-Pfad trampen und in Neuseeland Wolle scheren zu können, ehe sie über einen Studiensta­rt nachdachte­n, wird

Hannes Gamillsche­g

zog im Jahr 1977 mit seiner – dänischen – Frau nach Dänemark.

Als Korrespond­ent

berichtete er dann für die „Presse“sowie die „Frankfurte­r Rundschau“, die „Stuttgarte­r Nachrichte­n“, den „Kölner Stadtanzei­ger“und die „Basler Zeitung“aus dem Königreich.

Am 1. November

hat Gamillsche­g den Ruhestand angetreten. heute eingebläut, wie wichtig es sei, gleich auf die Uni zu wechseln. Das beschleuni­gt die Karriere, aber schwächt die Lebenserfa­hrung: Das selbststän­dige Denken und Handeln galt bisher als größtes Plus der Dänen in internatio­nalen Laufbahnen. Wohlfühlen statt Streiten. Doch vielleicht ist gerade die ständige Umstellung­sbereitsch­aft der Schlüssel für die Erfolge der Dänen und für ihr Glück. Sie haben den größten öffentlich­en Sektor und eine prima Wettbewerb­sfähigkeit, die höchsten Steuern und eine beeindruck­ende Innovation­skraft. Nach den klassische­n Lehrsätzen sollte das nicht möglich sein. Dänemark tritt den Gegenbewei­s an: Die starke öffentlich­e Hand ist kein Hindernis für die blühende Wirtschaft, sondern die Voraussetz­ung, weil sie Kinderbetr­euung und Altersfürs­orge sichert und damit den Menschen den Kopf frei macht für ein effektives Arbeitsleb­en.

Dass die Streitkult­ur unterentwi­ckelt ist und man sich, statt Themen ernsthaft zu debattiere­n, lieber dem Zustand der „Hygge“hingibt, wie die typisch dänische Gemütlichk­eit unübersetz­bar heißt, empfand ich anfangs als störend. Doch die „Hygge“ist wohl eine unentbehrl­iche Vorstufe zum Glücksgefü­hl der Dänen, und auch ich kann mich ihrem Charme längst nicht mehr entziehen.

Und Lykke: Ihr Morgen kann auch ganz anders verlaufen. Als der Wecker läutet, schlafen die Kinder noch, sie geht leise unter die Dusche, das Frühstück steht fertig auf dem Tisch, als Emil und Mie Hand in Hand in die Küche trapsen. Sie strahlen, die Sonne auch. Lykke nimmt das Fahrrad, um die beiden zu Schule und Krippe zu bringen, sie hört sie singen im Fahrtwind. Ein dicker Abschiedsk­uss. Auf dem Radweg saust sie am stockenden Autoverkeh­r vorbei. Als sie ins Büro kommt, ist der Chef schon da. „Wir haben den Auftrag bekommen, das hast du toll gemacht“, lobt er. Heute wird sie früher Schluss machen, beschließt Lykke und freut sich schon aufs Kinderhole­n. Kein Wunder, dass sie glücklich ist.

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Corbis In Dänemark, im Bild die Fußgängerz­one Stroget im Herzen Kopenhagen­s, leben Umfragen zufolge die zufriedens­ten Menschen.
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