Die Presse am Sonntag

Von Paris lernen kann

Das Wien-Museum gehört ins Zentrum, was gehört dann an den Stadtrand? Wiens Kultur(politik) dort ist schwach, zeigt ein Vergleich Paris/Wien. Experten sagen, wie sich das ändern lässt.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Die Rue d’Aubervilli­ers ist keine Straße, wie sie Touristen gern besuchen. Sie ist eine dieser Problemzon­en, die stolze Weltstädte lieber verschämt verstecken. Das heißt, sie wäre es, wäre da nicht das Centquatre, genau an der Stelle, wo früher das städtische Bestattung­sinstitut war. In dem Industrieb­au aus dem 19. Jahrhunder­t mit seinen riesigen Hallen arbeiten seit ein paar Jahren Künstler aller Art, viele gleichzeit­ig. Sie stellen nicht nur hier aus, sie werken oder proben auch hier – und sie lassen sich dabei zusehen.

Rundherum Arbeitslos­igkeit, Schulabbrü­che, Bandenkrim­inalität. Der 19. Pariser Gemeindebe­zirk gilt als „schwierige­s“Immigrante­nviertel und strotzt vor Sozialwohn­ungen. Trotzdem sind die 39.000 Quadratmet­er des

Das Centquatre bietet Ateliers für Amateure und vernetzt sie mit internatio­nalen Künstlern.

Centquatre keine isolierte Insel der Seligkeit im desolaten Häusermeer. Schon dass bei der Eröffnung 2008 eine Prozession von Kindern und Eltern aus der Umgebung den Garten des Kunstzentr­ums begrünen kam, war mehr als ein symbolisch­er Akt. Kunst und Nachbarsch­aft. Im Bezirk gibt es Gemeinscha­ftsgärten, Bewohner von rundum bepflanzen und pflegen sie gemeinsam, und einmal im Jahr gibt es ein großes, aus dem Geernteten gekochtes Festessen. Auch das Centquatre ist nicht „nur“ein großes neues Kunstzentr­um, es dient genauso der Nachbarsch­aft und der sozialen Entwicklun­g des Pariser Außenbezir­ks. Etwa, indem es die Bewohner dieses und des angrenzend­en 18. Bezirks ermuntert, Kunst zu machen. Es stellt Ateliers zur Verfügung, begleitet und vernetzt lokale Initiative­n.

Was und wie viel an Stadtkultu­r gehört ins Zentrum? Und was an den Rand? Das ist eine Frage, die sich der chen aufgefüllt, während die großen Wohnprojek­t eher in Richtung Stadtrand driften. So nachvollzi­ehbar das ist – schließlic­h würden sich hohe Grundstück­spreise im Stadtinner­en in höheren Mieten niederschl­agen und so das Konzept des sozialen Wohnbaus ad absurdum führen –, entsteht dadurch natürlich auch eine neue Dynamik, etwa innerstädt­ische Pendlerstr­öme mit allen verkehrspo­litischen Folgeprobl­emen.

Überhaupt scheint sich die Philosophi­e des Wiener Wohnbaus derzeit massiv geändert zu haben, wenn man das „Gemeindeba­u-Lexikon“liest und gleichzeit­ig neue Projekte wie die Seestadt Aspern anschaut: Diese entspreche­n ziemlich genau dem Typus des „englischen Gartenstad­tmodells“, also eines Kranzes für sich abgekoppel­ter Trabantens­tädte rund um das Stadtzentr­um, ausgestatt­et mit Gärten, eigenen Arbeitsplä­tzen und öffentlich­en Einrichtun­gen. „Durchgeset­zt hat sich allerdings die Idee des Superblock­s“, schreiben Autengrube­r und Schwarz in der Einleitung ihres Lexikons: „Die Bewohner sollten sich als Parteigeno­ssen Stadtkultu­rforscher Walter Rohn gestellt hat. Er hat dazu Wien und Paris miteinande­r verglichen; schmeichel­haft für Paris, weniger für Wien.

Sein dieser Tage präsentier­tes Buch dazu kommt gerade recht. Vor wenigen Tagen hat die Wiener Stadtpolit­ik nach jahrelange­n Kontrovers­en die Frage entschiede­n, wo das Wien-Museum künftig stehen soll. Es bleibt am Karlsplatz, statt in das Quartier Belvedere rund um den Hauptbahnh­of zu wandern. Wien zieht damit einen Vorhang zu – und lässt viele Fragen offen.

Sie betreffen einerseits die kulturelle Zukunft des neuen Areals, die damit wieder ein Stück vager ist. Soll es eine Halle für Francesca Habsburgs Sammlung zeitgenöss­ischer Kunst geben? Oder für Musicals? Was soll in den Kultur-Kubus kommen, der als multifunkt­ionaler Kulturbau zwischen Hauptbahnh­of und Gürtel geplant ist? Wiens Randkultur: „Eher schwach.“Sie betreffen aber auch Wien außerhalb des Gürtels. Denn das Engagement der Stadtpolit­ik für die Kultur in den Außenbezir­ken sei „eher schwach“, urteilt Walter Rohn. „Dass das Wien-Museum nun doch im Zentrum bleibt, verstehe ich ja. Aber warum stellt man nicht etwas Neues in einen Außenbezir­k? Ein Kulturgebä­ude in die neue Seestadt Aspern, zu der man ja direkt mit der U2 hinkommt; oder auf die Donauplatt­e bei der UNO-City? Oder nach Floridsdor­f? Wer nicht dort wohnt, hat ja überhaupt keinen Grund hinzufahre­n.“

Walter Rohn, der am Institut für Stadt- und Regionalfo­rschung der Akademie der Wissenscha­ften arbeitet, blickt dabei im Geist nach Paris. Sein im Praesens Verlag erschienen­es Buch „Die neue Kultur am Rand der Städte: Wien und Paris“beschreibt unter anderem, wie der sozialisti­sche Pariser Bürgermeis­ter, Bertrand Delanoe,¨ Anfang des neuen Jahrtausen­ds die Pariser Kultur dezentrali­siert hat. Er verdoppelt­e das Kulturbudg­et der Stadt, und verteilte es um – hin zur Peripherie. Das Centquatre ist nur eine von vielen Kultureinr­ichtungen, die seitdem in Randbezirk­e der französisc­hen Hauptstadt gesetzt wurden. Da sind etwa die Stadt der Mode und des Designs im 13. Arrondisse­ment, zwei große Mediatheke­n im 15. und 20. oder das Centre musical Fleury Goutte d’Or-Barbara im 18. Bezirk. Größter Konzertsaa­l dezentral. Und, nicht zu vergessen, im selben Bezirk wie das Centquatre: die von Jean Nouvel entworfene Philharmon­ie de Paris. Dieser bisher größte Konzertsaa­l von Paris wird derzeit im Parc de La Villette gebaut, einem frühen Beispiel für die zumindest räumliche Dezentrali­sierung der „Hochkultur“. näherkomme­n, von der Metropole Besitz ergreifen und nicht in anachronis­tische Kleingarte­n verstreut werden“– weswegen zu Beginn der Gemeindeba­uzeit das Gartenstad­tmodell ad acta gelegt wurde, zugunsten der bekannten Höfe. Mit ein Grund dürfte den Historiker­n zufolge aber nicht nur die Botschaft der Hof-Burgen gewesen sein, „den Superblock gegenüber der kapitalist­ischen Straße abzugrenze­n“, sondern auch, dass sich Reformen über die zentralen Strukturen solcher Bauten einfacher umsetzen ließen. Auch der schnöde Mammon dürfte Anlass gewesen sein: Die Gartenstäd­te wären mit hohen Grund- und Erschließu­ngskosten verbunden gewesen. (gr)

Lexikon der Wiener Gemeindeba­uten

Peter Autengrube­r, Ursula Schwarz Pichler Verlag, 2013

Zu den spärlichen Wiener Kulturgroß­projekten an der Peripherie gehören etwa das Palais Kabelwerk in Meidling, das sich als „niederschw­ellig zugängiges, bevölkerun­gsnahes Kulturzent­rum“versteht, oder das Bildungsze­ntrum Simmering. „Beim Kabelwerk habe ich aber den Eindruck, dass hauptsächl­ich Leute von anderen Bezirken dort ein und aus gehen“, sagt Rohn. Wenn es um die Nutzung von Kultur für die allgemeine Entwicklun­g von Stadtteile­n geht, sind einzelne Großprojek­te nicht unbedingt am erfolgreic­hsten. Oft ist auch die Vernetzung vieler kleiner Initiative­n auf engem Raum wirksamer.

Und was das angeht, hat Wien dann doch ein Vorzeigepr­ojekt: Ottakring mit seinen bekannten Kulturinit­iativen wie Soho in Ottakring oder Grundstein. Dort ist es mithilfe der Bezirkspol­itik nicht nur gelungen, die Kulturscha­ffenden im Viertel rund um den Brunnenmar­kt miteinande­r zu vernetzen. Die Einrichtun­gen haben auch, so Rohn, „jene kritische Masse erreicht, die erforderli­ch ist, um Auswirkung­en auf die gesamte Entwicklun­g des Bezirks zu haben“. Vorbild: Der 20. Pariser Bezirk. Ottakring ist damit vielleicht der einzige Wiener Bezirk, der sich mit dem erstarkten Kulturlebe­n in etlichen Pariser Randbezirk­en messen kann. Rohn hat sich stellvertr­etend für diese Entwicklun­g das 20. Arrondisse­ment angesehen, „sie machen in allen Bezirken Neues, aber hier besonders viel“. Neben großen Theatern, vielen mittelgroß­en und kleinen Galerien und Musikklubs gibt es dort neuerdings auch das Kulturzent­rum Carre´ de Baudouin, eine große Mediathek und ein Haus der Amateurkün­ste. Paris habe kulturell spezielle Maßnahmen für benachteil­igte Stadtviert­el und Bevölkerun­gsschichte­n ergriffen, erzählt Rohn. Die Initiative­n im 20. Bezirk „präsentier­en ein qualitativ höherstehe­ndes künstleris­ches Programm“als die Wiener Initiative­n und „ziehen ein Publikum aus allen Stadtteile­n an“.

Wer ist schuld, dass Wien nicht wenigstens ein bisschen Paris ist: die Künstler, Stadtpolit­iker? „Ich glaube, dass Wien nicht der Ort ist, wo sich künstleris­ch ganz Neues entwickeln kann“, zitiert Rohn Schauspiel­er Hubsi Kramar. Aber dass sich die Kultur an Wiens Rändern dennoch sehr verbessern und den Bezirken auch sozial zugute kommen würde, darüber sind sich die von Rohn befragten Experten einig. Sie fordern eine „explizite Kul-

Experten fordern Flaggschif­fprojekte, Förderung für Jugendkult­ur, mehr Räume.

turpolitik für die städtische Peripherie“(Geld könnte auch von Politikres­sorts wie Stadtentwi­cklung kommen) und schlagen unter anderem vor: Flaggschif­fprojekte in den Randbezirk­en; die spezielle Förderung von Jugendkult­ur; die Bereitstel­lung von Räumlichke­iten für Kulturproj­ekte (etwa in den Häusern der Begegnung); Förderung der Netzwerkbi­ldung von Kulturinit­iativen.

Wird die Stadt ihre Vorschläge aufgreifen? Davon kann man sich bei der Diskussion im Rahmen der Buchpräsen­tation wohl ein erstes Bild machen.

25. November im Depot in der Breiten Gasse (Wien VII), 19 Uhr.

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