Die Presse am Sonntag

Das Model und der Tiger

Der 22-jährige Norweger Magnus Carlsen hat bei der SchŻch-WM im indischen Chennai einen starken Start gegen Titelverte­idiger Viswanatha­n Anand hingelegt, seine Führung am Samstag ausgebaut. Hintergrün­de zu einem Kampf der Generation­en.

- VON GEORG RENNER

Schach ist kein großer Publikumss­port. Denn selbst die vielen kleinen Dramen, die sich zwischen a1 und h8 zutragen, stellen nur einen kleinen Bruchteil des Spiels dar. Der Rest des Eisberges bleibt unter Wasser, liegt zu jedem Zeitpunkt zig Züge in der Zukunft – in den Köpfen der Kontrahent­en, die versuchen, die Entwicklun­g der Situation weiter und genauer vorherzuse­hen als ihr Gegenüber. Das ist ein geistiger Prozess, der für Normalster­bliche kaum nachvollzi­ehbar ist.

Dazu kommt, dass – spätestens seit Aufkommen der Computeran­alysen in den 1980er- und 1990er-Jahren – alle

Es ist die erste WM seit 1921, in der niemand aus den ExUdSSR-Staaten am Tisch sitzt.

möglichen Spielvaria­nten erforscht sind. Die Zeit der großen, genialen Innovation­en, der fulminante­n, neuen Eröffnungs­züge ist lange vorbei – es ist die Zeit der kühlen Feinmechan­iker, die aus unzähligen Varianten die richtige aus dem Gedächtnis abzurufen und umzusetzen wissen.

Gut möglich, dass große Schachturn­iere schon deswegen immer lieber mit anderen Perspektiv­en konnotiert wurden als nach spielerisc­hen Kriterien. Am deutlichst­en war das bei der hochpoliti­schen Weltmeiste­rschaft 1972, als der Amerikaner Bobby Fischer den Russen Boris Spasski in der Laugardals­höllin in Reykjav´ık bezwang – und damit mitten im Kalten Krieg die Vorherrsch­aft der Sowjetunio­n brach, deren Repräsenta­nten sich den Weltmeiste­rtitel jahrzehnte­lang untereinan­der ausgemacht hatten.

Eine Vorherrsch­aft, deren Nachwirkun­gen erst dieser Tage endgültig zu Grabe getragen werden. Seit Samstag vergangene­r Woche sitzen einander im indischen Chennai (bis 1996: Madras) Titelverte­idiger Viswanatha­n Anand als Lokalmatad­or und sein norwegisch­er Herausford­erer Magnus Carlsen gegenüber. Es ist die erste Weltmeiste­rschaft seit Havanna 1921 – damals besiegte der kubanische Diplomat den deutschen Rekordwelt­meister Emanuel Lasker –, in der kein Spieler aus den ehemaligen Sowjetstaa­ten am Tisch sitzt.

Spätestens mit dieser Paarung verschiebt sich der Fokus weg von den Nationalit­äten der Spieler: „Norwegen und Indien richten keine Atomrakete­n aufeinande­r“, hat der 43-jährige Anand der „Zeit“im Vorfeld erklärt. „Deswegen taugt das Politische nicht als Blickwinke­l.“In den Vordergrun­d treten bei dieser WM stattdesse­n die Akteure selbst – und gerade bei dem Duell Carlsen gegen Anand gibt es ein weites Spektrum, wie man es interpreti­eren kann.

Vor allem ist es ihr Alter, das das Bild von einem „Kampf der Generation­en“geradezu heraufbesc­hwört – wie es auch Anand selbst tat; er spricht von einem „offensicht­lichen“Kampf „Jugend gegen Erfahrung“: Carlsen ist mit seinen 22 Jahren Nummer 1 der Weltrangli­ste; mit 2870 Elo-Punkten gilt er als der beste Schachspie­ler der Geschichte, hat den bisherigen Rekord seines einstigen Lehrers Garri Kasparow eingestell­t. Jetzt führt er nach sechs Spieltagen mit 4:2 gegen Anand. Er feierte am Samstag den zweiten Sieg (Turmendspi­el) in Folge. Weltmeiste­r wird, wer als erster 6,5 Punkte erreicht. Der jüngste Erste. Carlsens Vater hatte schon versucht, seinen hochbegabt­en Sohn – schon mit vier hatte er über 400 norwegisch­e Städte samt deren Einwohnerz­ahlen auswendig gelernt – mit fünf Jahren an das Spiel heranzufüh­ren. Aber erst drei Jahre später begann sich Carlsen doch für das Spiel zu interessie­ren – aus Ehrgeiz, seine Schwester zu besiegen. Von da an saß er täglich mehrere Stunden übend am Brett – aus eigener Motivation. „Niemand trieb mich an, ich war nur neugierig“, sagt er heute. Mit neun Jahren gewann Carlsen erste Turniere, mit 13 war er Großmeiste­r, mit 14 schlug er Kasparow. Seine Eltern kauften ihm zur Belohnung ein Eis bei McDonald’s.

Durch seine Jugend ist Carlsen, der als haushoher Favorit in das Duell gegen Anand – derzeit auf Rang acht der FIDE-Weltrangli­ste

 ?? FIDE ?? Die Schach-WM zwischen Magnus Carlsen (links) und Viswanatha­n Anand in Chennai, ein Schauspiel hinter Panzerglas.
FIDE Die Schach-WM zwischen Magnus Carlsen (links) und Viswanatha­n Anand in Chennai, ein Schauspiel hinter Panzerglas.
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