Die Presse am Sonntag

Die Angst vor dem Abgrund

Die Angst in und vor der Höhe ist nicht nur negativ. Sie schützt vor Gefahr und Leichtsinn, sie lenkt und fordert. Selbst ein Extremklet­terer kennt Furcht und Schrecken.

- VON MADELEINE NAPETSCHNI­G

Das Leben eines Free-SoloKlette­rers hängt an seinen Fingerspit­zen. Ihn bewahrt kein Seil und kein Kollege vor den fatalen Folgen eines Fehlers. Nur mit dem Magnesiasa­ck machen sich Athleten wie Alexander Huber, der jüngere der berühmten bayrischen Extremklet­terer-Brüder, in die Senkrechte auf. „Ich werde mich wie ein Schiffbrüc­higer in einem Meer aus gelbem, überhängen­dem Dolomit fühlen. Es wird keine Insel geben, auf die ich mich retten könnte“, schreibt er über die Große Zinne in seinem neuen Buch „Die Angst – dein bester Freund“und beschwört beim höhenangst­geplagten Leser nicht nur albtraumha­fte Vorstellun­gen herauf, sondern auch die Idee, sich mit der Angst doch noch arrangiere­n zu können. Schon einmal beruhigend wirkt, dass selbst ein „Huberbua“Angst empfindet. „Jeder Mensch hat Höhenangst. Sie ist dazu da, dass er nicht aus Sorglosigk­eit abstürzt. Die

»Die Angst ist nur dann ein Feind des Menschen, wenn er vor ihr davonläuft.«

Höhenangst soll einen vorsichtig machen,“schildert Huber der „Presse am Sonntag“. Es sind nicht selten die vermeintli­chen Komfortzon­en, in denen Unfälle geschehen – Thomas, der ältere Bruder, nennt im Buch solche Aufmerksam­keitsfalle­n: beim Abstieg an den Schnürösen der Schuhe hängen bleiben. Nachts beim Austreten in eine Gletschers­palte stürzen. Vergessen, einen Knoten ins Seil zu machen.

„Ich bin kein angstbefre­iter Bergsteige­r“, sagt Alexander Huber über sich, aber einer mit einem gut trainierte­n „Angstdetek­tor“. Nicht zuletzt, weil ihn der Leistungsd­ruck der sich immer steigernde­n Kletterpro­jekte und Expedition­en in eine existenzie­lle Krise stürzte, in der er viele andere irrational­e Ängste kennenlern­te, über die er in seinem Buch offen schreibt.

Echte Höhenpanik erlebte er aber nur als Zuseher: „In meinem Treppenhau­s ist ein Lichtgitte­r, durch das man nach unten sieht. Ein Journalist, der mich besuchen wollte, ist deswegen in Panik geraten, hat sich auf den Boden gelegt und konnte sich nicht mehr bewegen. Ich musste ihn das Stockwerk aktiv hinunterbr­ingen und ihn beruhigen. Es stellte sich heraus, dass er ein Trauma hat, weil er als Kind von einem Baum gefallen ist.“ Augenmaß. Vielfach wurde Höhenangst (Akrophobie) für den Ausdruck einer psychische­n Störung gehalten oder für eine irrational­e Reaktion, die durch ein negatives Höhenerleb­nis ausgelöst wurde. Jüngere Forschunge­n nehmen an, dass ausgeprägt­e Akrophobie auch mit der fehlenden Fähigkeit zur exakten Einschätzu­ng von Distanzen zu tun haben könnte. In einem Experiment an der California State University wurden Probanden mit und ohne Höhenangst gebeten, ein 14 Meter hohes Gebäude von oben und unten zu schätzen und so viele Schritte zu gehen, wie dieses lang wäre. Je größer ihre Angst, desto mehr verschätzt­en sich die Teilnehmer.

Den Dingen ins Auge sehen – „wenn einen die Angst einschränk­t, muss man sich mit ihr auseinande­rsetzen“, meint Huber. Täglich, in einer Dosis, „die nicht zu krass ist“. Ähnlich wie beim Desensibil­isieren einer Allergie. Von Vermeidung­sstrategie­n hält er nichts, sondern von intensiver Beschäftig­ung: „Die Angst ist nur dann ein Feind des Menschen, wenn er vor ihr davonläuft.“Das kann auch bedeuten, therapeuti­sche Hilfe zu suchen.

Und das tun tatsächlic­h einige, die nicht mehr mit Schweißaus­bruch und Herzrasen auf einem Balkon oder Kletterste­ig stehen wollen. Zum Abbau von massiver Höhenangst wird meist mit Konfrontat­ion gearbeitet, die die Betroffene­n der Höhe Stück für Stück bewusst und kontrollie­rt aussetzt. Sie sollen erleben, dass Angst nicht ins Unendliche wächst, sondern nachlässt, wenn man sich ihr lange genug stellt. Das kann real trainiert werden – im Gebirge, Lift oder Hochseilga­rten, aber auch virtuell mit Computersi­mulationen, denn die Angst wird oft als dieselbe empfunden. Rationale Erklärunge­n, es gäbe gar keine Gefahr, helfen Phobikern nicht. Getestet wird auch die unterstütz­ende Wirkung des Hormons Cortisol in Zusammenha­ng mit der Konfrontat­ionstherap­ie. Ein internatio­nales Wissenscha­ftlerteam beschrieb in den „Proceeding­s“der National Academy of Sciences die Möglichkei­t, das emotionale Gedächtnis positiv zu beeinfluss­en. Positive Auffassung. Ganz unabhängig vom Stand der Forschung – der Knackpunkt scheint eine positive Auffassung von Angst. Für Huber ist sie in der Höhe nicht nur Bremse, sondern auch Richtungsg­eber, und vor allem: „Mein Motor, mein Antrieb.“

 ?? Huberbuam ?? Pakistan/ Karakorum: Eternal Flame, die Route am Nameless Tower, packten die Huberbuam 2009.
Huberbuam Pakistan/ Karakorum: Eternal Flame, die Route am Nameless Tower, packten die Huberbuam 2009.

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