Die Presse am Sonntag

Jeder kann die Stadt sein

Kreative gestalten vor allem eines gern selbst: ihr urbanes Leben. Deutlich wird das in Detroit genauso wie im Grazer Bezirk Lend, wie das Buch »Ortsentwür­fe« zeigt.

- VON NORBERT PHILIPP

Wenn man nur wüsste, wie sie ticken, diese Stadtbewoh­ner. Dann könnte man alles viel besser planen und prophezeie­n. Wohin sie wollen, die Menschen. Und was sie dort wollen. Die Stadt selbst in die Hand nehmen – das gehört heute in jedem Fall dazu. Um das zu wissen, braucht Harald Saiko kein Prophet zu sein. Lang genug hat er beobachtet, was die Menschen so treiben in seinem Bezirk in Graz. Schließlic­h ist er dort schon in die Schule gegangen. Und mit seinem eigenen Architektu­rbüro 1999 wieder gekommen. Seit damals hat sich Lend

Neue »Ortsentwür­fe« verdrehen die traditione­lle Sicht auf die Stadt.

ziemlich verändert. Das Viertel rund um die Mariahilfe­r Straße und das Kunsthaus ist gehörig dichter geworden, vor allem an Innovation­en und Eigeniniti­ativen. Saiko verfolgt seit Jahren, wie immer weniger Autos im Bezirk anrollen, dafür umso mehr Local Heroes mit dem Rad und mit der deklariert­en Lust an Selbstvera­ntwortung. Vor allem Anfang Mai fegt die gut vernetzte Community mit ihren Ideen über die Straßen, dann, wenn der „Lendwirbel“alte Konzepte, wie urbanes Leben funktionie­rt, völlig verdreht.

„Die dicht bebauten innerstädt­ischen Gebiete haben in den vergangene­n Jahrzehnte­n intensive Umformunge­n erlebt“, erklärt Saiko. Früher vermutete man noch alles Mögliche schön durchmisch­t in Zentrumsnä­he: Warenprodu­ktion, Wohnen, Arbeiten, Konsum. Der Städtebau der Moderne hat den urbanen Räumen ein wenig die Dichte der Vielfalt ausgetrieb­en. Danach versickert­e die Urbanität in der Peripherie, im Vorgarten des Einfamilie­nhauses und auf der grünen Wiese des Shoppingce­nters. „Heute ist die Suburbanis­ierung deutlich gedrosselt“, erklärt Saiko. Und jene Viertel, die am meisten gelitten haben, wie etwa auch Jakomini oder Lend, füllen sich wieder. Reurbanisi­erung heißt das im Fachjargon. Oder auch genannt und viel beschworen: die Renaissanc­e der Städte. Diese kann man versuchen zu verordnen, weil Stadtplane­r wissen, dass Budget, Umwelt und Menschen gleicherma­ßen davon profitiere­n. Oder man kann sie einfach entstehen lassen. Denn gerade auch Kreative haben ein bevorzugte­s Gestaltung­sgebiet: ihre eigene Biografie und die Räume, in denen sie diese ausleben. In Anspruch nehmen. Das alles muss nicht unbedingt mit Hipstern, die sich Vollbärte wachsen lassen, zu tun haben. Oder mit umhäkelten Straßenlat­ernen. Hat es aber doch. „Vor allem die Künstler und Kreativen, die ja so mobil und digital leben, sind besonders ortsansäss­ig“, sagt Saiko. Und sie setzen mit ihrer Suche nach Heimat und ihren Ideen gern dort an, wo die Suburbanis­ierung städtische Räume freigespül­t hat.

Selbstbest­immung, Selbstkont­rolle, neue Allianzen, Eigenintia­tive, Nachbarsch­aftshilfe, Communityf­eeling – das alles seien Ausprägung­en neuer Lebensentw­ürfe, die die Stadt nachhaltig verändern, meint Bastian Lange. Seit Jahren setzt er sich mit Kreativöko­nomie und ihrer Verschränk­ung mit der Stadtentwi­cklung auseinande­r. Deshalb haben ihn Harald Saiko und Gottfried Prasenc dereinst auch als Referenten zum „Lendwirbel“nach Graz geholt. Ein Symposium hat das Spektakel seit Jahren begleitet. Jetzt haben verschiede­nste Begleiter und Experten ihre Resümees und Gedanken in einem Buch abgeliefer­t: „Ortsentwür­fe“(Jovis Verlag) verlinkt Lend und seine Local Heroes mit dem größeren Zusammenha­ng ähnlicher Phänomene, die zwischen Melbourne und Detroit weltweit aufpoppen.

„Ein neues urbanes Merkmal hat sich da heraussges­chält in Graz“, erklärt Lange. In Lend wird ein stadtgesel­lschaftlic­hes Phänomen sicht- und

Ortsentwür­fe.

Urbanität im 21. Jahrhunder­t. Von Bastian Lange, Gottfried Prasenc und Harald Saiko. Erschienen im Jovis Verlag. 224 Seiten, 25,70 Euro. greifbar, eine Bewegung, die im Kontext von Bottom-up-Initiative­n und Do-it-yourself-Kulturen Städte verändert und Urbanität neu definiert. „Es wird anders über soziale Beziehunge­n nachgedach­t“, sagt Lange. Genauso wie über „Kleidung, Essen oder Konsum“natürlich. Aber auch anders darüber, wie, wofür und mit wem man die Stadt benutzt und gestaltet. „Ein gesellscha­ftlicher Gegenentwu­rf“zeichnet sich da ab, so Lange. Aber keiner, der ideologisc­h oder politisch motiviert wäre, wie Saiko hinzufügt. Und Konturen bekommt dieser Entwurf vor allem dort, meint er, „wo die Stadt vielfältig

Die Local Heroes sind Helden der Eigeniniat­ive. Was Städte gern vermarkten.

ist, an Mechanisme­n, an Räumen, an Eigentümer­strukturen“.

Eigeniniti­ative, kreative Aktivitäte­n, Ideenübers­chuss und solche Dinge entgehen jedoch oft nicht ihrem traditione­llem Schicksal: gehypt, vereinnahm­t und benutzt zu werden. Von der Stadt selbst in ihren Marketings­trategien und Werbefolde­rn. Oder von den Investoren, die zwar gierig, aber unbedarft vor so viel innovative­m, urbanem Leben stehen. Der „Lendwirbel“könnte trotzdem ein interessan­tes Format für Stadtentwi­ckler sein, um über „Werte, Ressourcen und Beteiligun­g in der Stadt nachzudenk­en“, sagt Lange.

Doch die Kreativöko­nomie sei nur eine der treibenden Kräfte der Reurbanisi­erung, sagt Saiko. In Wien arbeitet er selbst in einer Arbeitsgru­ppe, die darüber nachdenkt, wie ähnliche Entwicklun­gen und Bewegungen sinnvoll angegangen werden könnten, finanziell wie strukturel­l. Ohne gleich unter Top-down-Verdacht zu geraten. Eine komplexe Aufgabe, in der, so Saiko, „Gewerbeord­nung, Wohnbauför­derung, Verwaltung, Baurecht“nur einige der Schräubche­n sind, an denen gedreht wird.

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