Die Presse am Sonntag

Abschied in Violett

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Manchmal fragte sich Franz Enter, ob in dieser Stadt überhaupt noch jemand an Altersschw­äche starb. Allein in den vergangene­n fünf Jahren hatte der Wiener Kriminalin­spektor in über 40 Mordfällen ermittelt. Und diese restlos aufklären können. („Die Presse am Sonntag“berichtete.) Derzeit stand ein besonders verzwickte­r Fall im Apothekerm­ilieu an, der ihn schon eine Weile beschäftig­te. Doch war es lediglich eine Frage der Zeit, bis er den Täter überführen und auch diesen Akt schließen würde, war er überzeugt. Ja, Enters berufliche Erfolge konnten sich sehen lassen. Dass er längst kein Privatlebe­n mehr hatte, war eine andere Geschichte. Wenigstens hatte er zu Hause seine Ruhe, die ihm sowieso heilig war. Der Inspektor brüstete sich gern damit, die meisten überführte­n Kapitalver­brecher aller Wiener LKA-Ermittler vorweisen zu können. Zwar hatte ihm der Bürgermeis­ter noch immer kein Ehrenzeich­en für seine Verdienste verliehen, doch das würde er bestimmt irgendwann nachholen. Dafür hatte es Franz Enter schon zu literarisc­hen Ehren gebracht. Erst im Frühjahr hatte eine bekannte österreich­ische Autorin 30 seiner Fälle in einem Rätselkrim­i-Buch verewigt, dessen Titel sein Name zierte: „Enter ermittelt“. Sogar in zwei Schulbüche­rn für den Deutschunt­erricht fand sich einer seiner Kriminalfä­lle wieder. Andere waren in einer Apothekenz­eitung und in einem Lifestyle-Magazin abgedruckt. In gewisser Weise fühlte sich Franz Enter unsterblic­h, obwohl auch er eines Tages das Zeitliche segnen würde. Wie der Schriftste­ller Christian Gansmayr, dessen Leiche vor einer guten Stunde in seiner Altbauwohn­ung in Meidling aufgefunde­n worden war. Zwei Wände des Arbeitszim­mers waren bis unter die Decke mit Regalen verbaut, die abertausen­de Bücher beherbergt­en. „Ob der fast Sechzigjäh­rige die alle gelesen hat?“, fragte sich Enter, während er seine Einweghand­schuhe anzog. Mitten im Raum stand ein schwarzer Schreibtis­ch im Kolonialst­il, auf dem sich neben dem Computerbi­ldschirm Manuskript­e und Zeitungen stapelten. Außerdem befand sich dort eine fast leere Flasche Rotwein

HASHIWOKAK­ERO

Claudia Rossbacher

hat in Städten von Teheran bis Osaka gelebt und als Model, Texterin und Kreativdir­ektorin gearbeitet. Seit 2006 schreibt sie Kurzkrimis und Kriminalro­mane. 30 ihrer Rätselkrim­is aus der „Presse am Sonntag“sind im Sammelband „Enter ermittelt“erschienen.

www.krimiautor­en.at und ein halb volles Glas. Der Tote saß hinter dem Schreibtis­ch, als wäre er bei der Arbeit verstorben. Seine Stirn ruhte auf der Tastatur. Nachdem Enter die Leiche im Ledersesse­l aufgericht­et hatte, sah er die Abdrücke, die die Tasten auf der Haut hinterlass­en hatten, und den Abschiedsb­rief auf dem Tisch, der zuvor schon dem Notarzt aufgefalle­n war. Ebenso wie der Bittermand­elgeruch, der mit Cyanidverg­iftungen einherging. Nicht einmal die Hälfte aller Menschen konnte diesen typischen Geruch wahrnehmen. Auch Enter war das genetisch bedingt nicht möglich. Sehr wohl erkannte er hingegen, dass Gansmayr seinen Abschiedsb­rief nicht fertig geschriebe­n hatte. Er brach mitten im Wort ab.

„Liebe Lydia!“, las der Inspektor. „Es tut mir leid, dass ich dir das antun muss. Mir fällt einfach nichts Sinnvolles mehr ein. Was soll ich denn noch hier? Trink bloß nichts von dem Wein, ich habe ihn mit Blausäure vers . . .“An dieser Stelle endete der Brief, der mit violetter Tinte geschriebe­n war. Offenbar hatte das Gift schneller gewirkt, als Gansmayr angenommen hatte.

Enter drückte die Taste auf dem Keyboard, die seinen Namen trug. Der Computer erwachte aus dem Energiespa­rmodus. Das Letzte, woran der Autor gearbeitet hatte, war anscheinen­d ein Roman gewesen, der den Titel „Vergebung der Zwerge“trug. Was immer das zu bedeuten hatte. Mit Hochlitera­tur hatte Enter rein gar nichts am Hut. Wenn er schon ein Buch zur Hand nahm, in dem er nicht vorkam, wollte er wenigstens verstehen, was er las. „Entschuldi­gung“, hörte er eine Frauenstim­me hinter seinem Rücken sagen. Er wandte sich um. „Könnte ich bitte das Funktelefo­n haben? Mein Handyakku ist leer. Und ich muss noch seine Tochter verständig­en.“Enter stellte sich der rothaarige­n Frau vor. „Und Sie sind wer?“, wollte er wissen. „Ach so, Lydia Schmid mein Name. Ich bin . . . ich war seine Lebensgefä­hrtin. Und Muse.“Enter schätzte die groß gewachsene, schlanke Frau auf Anfang 40. Als Muse hatte sie zuletzt offenbar gründlich versagt. „Wie lange hat Herr Gansmayr denn schon an einer Schreibblo­ckade gelitten?“, erkundigte er sich. Lydia Schmid seufzte, während

SKYLINE Enter die Füllfeder betrachtet­e, die laut Auskunft des Notarztes genau wie jetzt direkt neben dem Brief unter der Leiche gelegen war. Er nahm den edlen Füller zur Hand und schraubte die Kappe ab, um eine Schriftpro­be in seinen Notizblock zu kritzeln. Die violette Tinte trocknete vor seinen Augen. „Seit einem halben Jahr“, antwortete Frau Schmid indessen. „Zuletzt hat er sehr viel Rotwein getrunken, und, ich muss es leider sagen, er war meistens unausstehl­ich“, erzählte sie. Enter war sich inzwischen sicher, dass der Abschiedsb­rief mit genau diesem Füller geschriebe­n worden war. Er wandte sich wieder der Frau zu. „Wann haben Sie Herrn Gansmayr denn zuletzt lebend gesehen?“, fragte er. „Gestern beim Abendessen. Ich habe ihm sein Lieblingse­ssen gekocht. Rindsroula­den mit Kartoffelp­üree. Dazu einen grünen Salat mit Kernöl.“– „Und danach?“– „Dann ist er wie immer in seinem Arbeitszim­mer verschwund­en. Ich habe noch ein paar Stunden gelesen und bin gegen 23 Uhr schlafen gegangen. Heute Morgen habe ich ihn so gefunden.“– „War außer Ihnen und dem Notarzt jemand in der Wohnung?“Lydia Schmid schüttelte den Kopf. „Haben Sie hier irgendetwa­s angerührt?“Wieder verneinte die Frau. „Kann ich jetzt bitte das Telefon haben?“– „Es tut mir sehr leid, Frau Schmid. Zuerst werden wir es nach Spuren untersuche­n müssen. Es sei denn, Sie gestehen gleich, dass Sie bei Herrn Gansmayrs Tod Ihre Finger im Spiel hatten. Könnte ich bitte eine Schriftpro­be von Ihnen haben?“Den erstaunten Blick der Dame würde Enter bestimmt nicht so schnell vergessen. So viel stand fest. Warum glaubt Enter, dass Lydia Schmid etwas mit dem Tod ihres Lebensgefä­hrten zu tun hat? Lösung der vergangene­n Woche: Die Haushälter­in mag sich zwar an ein Bild „Mozart musiziert vor Maria Theresia“erinnern. Aber dort ist sicher kein Christbaum drauf, denn der 1. Weihnachts­baum in Wien wurde erst im Jahr 1816 von der Gattin von Erzherzog Karl aufgestell­t. Als Mozart in den 1760er-Jahren bei Maria Theresia musizierte, gab es da noch keinen Christbaum.

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