GESCHICHTE
lockt. Der studierte Ingenieur gehörte zu jenen eher jungen und eher langhaarigen Wilden, die um die Jahrtausendwende beschlossen, ihre Karrieren in Universitäten und Zeitungsredaktionen aufzugeben, um eine Kommunalpolitik zu wagen, die alle bisherigen Ansätze auf den Kopf stellte.
2004 schaffte die Gruppe um den damals 47-jährigen Mathematikprofessor Sergio Fajardo den Wahlsieg und begann eine Planung unter dem Motto: „Den Ärmsten nur das Beste“. So entstanden Schulen, Sportstätten, Kulturzentren, Kindergärten, Bibliotheken, Seilbahnen, Brücken und sogar elektrische Rolltreppen, die ehedem verfeindete Quartiere verbinden. 320 Seiten umfasst der „Führer der Stadttransformation“, in dem die Gemeinde alle Projekte vorstellt, die zwischen 2004 und 2011 realisiert wurden und die, in modernem Design, heute tatsächlich funktionieren. Das Beste für die Ärmsten. Steil bergan kurvt das Taxi, es geht in den Westen der Stadt. Durch das Viertel Robledo, das immer armseliger wird, je steiler der Hang abfällt. Ganz oben, auf einem Sattel, leuchtet die orangefarbene Fassade der Institucion´ Educativa Aures. Im Geviert um den vergitterten Schulhof angelegt wirkt das saubere drei–stöckige Gebäude wie eine Trutzburg der Humanität. Direktorin Patricia Salazar,´ eine rigorose Dame in den Fünfzigern, erklärt bei einem Rundgang durch den Pausenhof, den Speisesaal, die Bibliothek, den Computerraum, dass die Familien sämtlicher 1460 Eleven den untersten drei Einkommensklassen angehören. „Wir haben hier alle Problemfelder, die Sie sich nur vorstellen können, und wahrscheinlich noch mehr.“430 Kinder bekommen ein warmes Mittagessen in der Schule, damit sie wenigstens einmal am Tag satt werden.
Alle Klassenzimmer seien mit neuester Technologie ausgestattet, sagt die Direktorin, während sie die Köpfe all der Kinder küsst, die auf sie zulaufen und sie umarmen. Patricia Salazar´ sagt, die von Sponsoren installierten Lehrerlaptops und Videobeamer seien sehr willkommene Werkzeuge. Aber das, worauf es wirklich ankommt, haben die Zweitklässler mit Filzstiften auf die altmodische Tafel nebenan geschrieben: „Einsatz, Edelmut, Tole-
gründen die Spanier die Stadt Medell´ın im Valle de Aburr´a. Medell´ın bekommt den Beinamen „Stadt des ewigen Frühlings“.
1675 Ende des 19. Jahrhunderts
setzt die Industrialisierung des Gebiets ein. Neben Kaffeeanbau wird die Textil- und Schwerindustrie immer bedeutender. In den 1930er-Jahren ist die Stadt ein wichtiges Produktionszentrum.
In den 1980ern
wird Medell´ın durch den Boss des Drogenkartells, Pablo Escobar, weltberühmt – und zur berüchtigten Stadt. Bis zu vier Fünftel des gesamten kolumbianischen Kokainexports kontrollierte das Medell´ın-Kartell Ende der 1980er-Jahre. 1993 wird Escobar erschossen.
erhält die Stadt die Auszeichnung „innovativste Stadt der Welt“. Den Ehrentitel vergeben das Urban Land Institute (eine Non-ProfitOrganisation mit Sitz in Washington), die Citibank und das „Wall Street Journal“jedes Jahr.
2013
ranz, Respekt, Liebenswürdigkeit“. Man kann Medell´ıns „bürgerliche Transformation“auch in Zahlen darstellen: 82 Prozent des gesamten Stadthaushalts fließen in soziale Projekte, 2012 waren das über 1,24 Milliarden Dollar. Davon gibt die Stadtverwaltung 400 Millionen Dollar für Bildung aus; keine andere Stadt auf dem amerikanischen Kontinent leistet (sich) das.
Und wie kann Medell´ın das finanzieren? Einen Teil der Antwort bekommt man im „edificio inteligente“, einem silbrig glänzenden Hochhaus im Stadtzentrum. Dort, im 15. Stock, empfängt um sieben Uhr früh Juan Esteban Calle, 47, der Direktor von EPM. Die Empresas Pu´ blicas de Medell´ın wurden 1955 gegründet, mit Unterstützung der Weltbank, die dringend empfahl, diese Stadtwerke nach den Regeln des Marktes und möglichst fern von politischen Konjunkturen und Einflussnahmen zu
Der Lokalpatriotismus war in Zeiten der Finsternis Medell´ıns Lebensversicherung.
führen. Alle Direktoren beherzigten dies tatsächlich, ein Einzelfall in Lateinamerika, und die Firma war in den 58 Jahren ihres Bestehens in keinen einzigen großen Korruptionsskandal verwickelt; auch das ein Unikum. Deshalb konnte sich EPM zum zweitgrößten Unternehmen Kolumbiens entwickeln, dem 55 Firmen zugehören, zum international aktiven Energieversorger, zum Technologiekonzern – und zum Finanzierer der „transformacion´ ciudadana“: 600 Millionen Dollar hat EPM im Vorjahr in die Stadtkasse überwiesen. „Alle in dieser Firma wissen, ihr Einsatz gilt der ganzen Gesellschaft“, sagt Calle, „deshalb gehen wir mit einem besonderen Stolz zur Arbeit.“ Soziale Baustelle. Stolz ist ein Wort, das man in Medell´ın oft zu hören bekommt. Die Paisas, so nennen sich die Bewohner von Antioquia, sind in Kolumbien bekannt und manchmal auch verschrien für ihren Geschäftssinn und ihren Lokalpatriotismus. Dieser war Medell´ıns Lebensversicherung in den Jahrzehnten der Finsternis. Denn keiner der vier Riesen, die das Wirtschaftsleben der Metropole seit Jahrzehnten dominieren, kehrte der Stadt jemals den Rücken. Angesichts der Bedrohung durch Escobar tauschten das Geldhaus Bancolombia, der Zementkonzern Arcos, die Food-Gruppe Nutresa und die Finanzholding Sura untereinander Aktienpakete aus, um Übergriffe abzuwehren. Bis heute sind die vier Riesen die Zugmaschinen der lokalen Wirtschaft – und die wichtigsten privaten Förderer der Entfesselung Medell´ıns.
Mar´ıa Adelaida Tamayo erklärt, warum: „Wir unterstützen die soziale Transformation, weil wir Vertrauen in die Institutionen haben.“Die junge Betriebswirtin leitet die Investment-Abteilung der Holding Sura, die ausgehend vom Versicherungskonzern Suramericana zur größten Finanzholding des Landes gewachsen ist. Die enge und langfristige Partnerschaft mit den mächtigen Privatunternehmen ist das zweite Fundament der sozialen Baustelle Medell´ın. Doch, so schränkt Managerin Tamayo ein, „das funktioniert nur, solange wir darauf vertrauen können, dass die Programme, an denen wir uns beteiligen, auch die Amtszeit der jeweiligen Bürgermeister überdauern.“
Medellín
Bogotá
An´ıbal Gaviria wäre nicht gewählt worden, hätte er den Kurs seiner Vorgänger ändern wollen; denn die „transformacion´ ciudadana“ist längst Common Sense. Der 47-Jährige leitet die Geschicke der Stadt seit Anfang 2012. Anders als seine zwei Vorgänger ist er kein Politaußenseiter. Der Betriebswirt entstammt der Elite – seiner Familie gehört der größte Zeitungsverlag Medell´ıns – und der Liberalen Partei. Angeschoben haben seine Vorgänger, Gaviria hat nun die weniger spektakuläre Aufgabe, die Transformation zu vertiefen, und dies vor einem komplexen Hintergrund. Die Textilindustrie leidet seit dem Freihandelsabkommen unter der Grenzöffnung. Und der Kaffeeanbau, seit jeher Einkommensquelle für das ländliche Antioquia, lohnt sich nach der steten Aufwertung des Peso nicht mehr. Deshalb stehen viele Campesinos vor der Wahl, Koka anzubauen – oder ihr Glück in der übervollen Stadt zu suchen. Nicht alles ist gut. Und: Noch immer zählt Medell´ın zu den gefährlichsten Städten. Obschon 2012 in den Horrorrankings um zehn Plätze nach hinten gerutscht, liegt die Stadt mit 49 Mordopfern auf 100.000 Einwohner (1991: 381) an dritter Stelle in Kolumbien und auf Platz 24 weltweit. Es kann, kurzfristig, auch wieder schlimmer werden. Denn in den Quartieren bekriegen einander immer noch die Narcos um die Kontrolle der Drogenrouten. Allein im Bezirk Comuna 13 haben die Behörden vier Bataillone aus Polizei und Militär stationiert. Dort, wo die sechs Rolltreppen installiert wurden, eines jener Vorzeigeprojekte, mit denen Medell´ın den Ehrentitel der „innovativsten Stadt 2013“erringen konnte.
Bürgermeister Gaviria hofft, dass sich nach der Auszeichnung noch viel mehr internationale Konzerne für Medell´ın interessieren. Längst hat die Stadt eine effiziente Agentur, die Interessenten ihre Wünsche – Steuernachlässe, Verbindung zu Hochschulen, Büros für Start-ups und attraktive Standorte – zu erfüllen hilft. In den Hügeln über dem eleganten Viertel El Poblado, wo sich die Wohlhabenden eine streng bewachte Erste-Welt-Enklave mit Shoppingcentern, Sportklubs, Restaurants und Discos eingerichtet haben, hat sich der US-Konzern Kimberly-
Die Stadtverwaltung hofft, dass die Auszeichnung nun große Konzerne anlockt.
Clark mit einem globalen Innovationszentrum installiert. Und unten in der Stadt prangt das Signet des Computerriesen Hewlett-Packard, der in einem hypermodernen Bürohaus sein Servicezentrum für Lateinamerika eingerichtet hat. Die Niederlage als Herausforderung. Avantgarde ist der Anspruch, denn hier, im Komplex „Ruta N“, schlägt das innovative Herz der Stadt. Juan Pablo Ortega, Direktor und Hausherr des Centers, hat sich eine Dreifachstrategie ausgedacht: Zunächst will er helfen, lokale Firmen mit den internationalen Märkten zu vernetzen, und ausländische Start-ups in Medell´ın unterstützen; dazu steht ein ganzes Stockwerk bereit, in dem ausländische Firmen voll ausgestattete Büros zwei Jahre lang belegen können. Mittelfristig soll aus „Ruta N“eine Plattform werden, die, in Abstimmung mit Unis und Forschungslabors, Innovationen sammelt und vermarktet – ein Medell´ın-Kartell des Fortschritts gewissermaßen. Langfristig soll der Think-and-sell-Tank dabei helfen, eine systematische Innovationskultur zu etablieren, die Risiken – auch finanzielle – in Kauf nimmt und Niederlagen als Herausforderung zum Wiederbeginn versteht. „Und die unseren Blick befreit, trotz der Berge auf allen Seiten“, wie Ortega zum Abschied scherzt.
Nur fünf Minuten nach der Abfahrt von „Ruta N“ist es der Taxifahrer, der die schöne Zukunftsmusik jäh unterbricht. Er berichtet, dass er kürzlich seine 15-jährige Tochter verlor. Sie starb im Kreuzfeuer zweier Drogengangs. © Bulletin/CREDIT SUISSE