Das neue Medell´ın-Kartell des Fortschritts
Über Jahrzehnte hinweg war sie die Metropole des Mordens, der Drogen und der Angst. Heute gilt sie als Zentrum der Innovation und der Hoffnung. Wie es die Stadt Medell´ın in Kolumbien geschafft hat, die Geister der Vergangenheit zu vertreiben.
Die Gondeln, das Scheppern beim Schließen der Tür, der Ruck bei der Anfahrt, die Stützträger – diese Seilbahn unterscheidet sich kaum von jenen am Arlberg oder am Hochkönig. Doch unter den Kabinen liegt eine Stadt. Eine dichte, verschlossene Stadt aus bloßem Backstein, Wellblech, Kabelgewirr. Quartiere voll enger Steige, schmaler Gassen, schief betonierter Treppenstufen. Viertel, hart am Hang, die hermetisch wirken und unbarmherzig.
Die Kabinen schweben über die Stadt des einstigen Drogenkönigs Pablo Escobar. Und sie gleiten über die „innovativste Stadt der Welt“. Tatsächlich sind die silbrig glänzenden Gondeln, die den Menschen aus den BergBarrios täglich zwei Stunden Fahrzeit zur Arbeit ersparen, erheblicher Bestandteil jener sozialen Innovation, die das Urban Land Institute, die Citibank und das „Wall Street Journal“dazu bewog, den Ehrentitel dieses Jahr an Medell´ın zu vergeben. Ja, nach Medell´ın, Antioquia, Kolumbien.
Zu erzählen gibt es die Geschichte
Der Name der Stadt klang nach Drogenkrieg. Nirgendwo sonst wurde mehr gemordet.
einer Stadt, die durch die Hölle ging. In der einst mehr Menschen ermordet wurden als irgendwo sonst auf der Welt. Deren Namen in aller Welt nach Drogenkrieg klang und nach Guerilla. Eine Stadt, die begriff, dass nur sie selbst diese Gespenster vertreiben kann. Die erkannte, dass sie über die nötigen Mittel verfügt. Die ihren Bürgersinn wieder entdeckte, ihren Stolz und den Mut, zu versuchen, sich selbst von dem Bösen zu erlösen.
Santo Domingo heißt die Bergstation der Gondel, ebenso wie das geschundene Stadtviertel dahinter, das die Heiligkeit allein im Namen trägt. Vom Gondelterminal führt eine Gasse zwischen vergitterten Geschäften und Imbisslokalen zu einem Platz, hinter dem schwarz schimmernde Quader aufragen. Als hätten außerirdische Riesen drei Würfel am Abgrund zurückgelassen. „Parque Biblioteca Espan˜ a“steht auf einem Schild am Eingang zu dem 2007 eröffneten Komplex, der seinem Architekten Giancarlo Mazzanti internationale Preise einbrachte und den Bewohnern von Santo Domingo endlich einen Ort gab, auf den sie stolz sein können. Provokation freier Gedanken. Es ist ein feuchtgrauer Montag. Im Erdgeschoss, das alle drei „Felsen des Wissens“verbindet – Hörsaal, Bibliothek und Sozial- und Kulturzentrum –, drängen sich Kinder und Eltern. Das Gesundheitsamt zeigt eine Hygieneausstellung, und das Sozialamt bewilligt Zuschüsse. In einem Saal sitzen zwölf Kinder im Kreis und malen aus einem Bilderbuch ab. Ihre Zeichnungen werden sie dem litauischen Illustrator Kestutis Kasparavicius schicken. Sie wollen ihm auch ein paar Zeilen über ihr Leben und ihre Träume in das Kuvert stecken, damit er sie alle kennenlernt, ehe er sie in ein paar Monaten besuchen kommt.
Solche Begegnungen wollten die Erfinder der inzwischen neun „parques biblioteca“provozieren, sie wollten die freien Gedanken zu jenen Menschen tragen, die in ihren gewaltverpesteten Barrios gefangen waren. Wo Pistoleros der Drogenbanden an allen Ecken standen und Grenzen bewachten, deren Überschreiten den Tod bedeuten konnte.
Der einzige Ehrentitel, den Medell´ın bis anhin trug, war jener der „Stadt des ewigen Frühlings“. Im Valle de Aburra,´ so heißt das Hochtal, in dem die Spanier 1675 die Stadt gründeten, herrschen das ganze Jahr Temperaturen zwischen 22 und 28 Grad. Bis in die 1950er-Jahre wuchs die Siedlung noch halbwegs geordnet, es florierten die Textil- und die Schwerindustrie. Doch dann kam die Flut: Seit sechs Jahrzehnten spült der Guerillakrieg in immer neuen Schüben mittellose und schwer traumatisierte Flüchtlinge in die Stadt. Hunderte Höhenmeter hat sich das Notstandsgewirr die steilen Bergrücken im Osten und Westen hinaufgefressen. 3,5 Millionen Menschen leben heute im Großraum Medell´ın, mehr als 70 Prozent davon in Elendsquartieren.
Über diese Halden der Hoffnungslosigkeit verstreute Pablo Escobar in den 1980er-Jahren jene Saat, die Medell´ın binnen weniger Jahre zur Mordmetropole des Planeten werden ließ. Unter den Bewohnern verteilte Escobar Wohltaten und bisweilen eigenhändig Bargeld, um sich jenen politischen Rückhalt zu verschaffen, der ihm zwischenzeitlich sogar ein Abgeordnetenmandat im Kongress einbrachte. Bis zu vier Fünftel des gesamten kolumbianischen Kokainexports kontrollierte das Medell´ın-Kartell Ende der 1980er-Jahre.
Noch heute prangen Graffiti mit dem Kopf des schnauzbärtigen Mas- senmörders und Milliardärs im „Barrio Pablo Escobar“, im 9. Bezirk. Dort ließ „el Patron“´ seinerzeit 300 Häuser errichten und verschenken. Als die lokalen Eliten ihre anfängliche Unterstützung entzogen, als Escobars Killerheer Bomben im ganzen Land zündete und schließlich eine wahnwitzige Allianz aus Behörden und Gangstern Jagd auf den aus dem Gefängnis entflohenen Capo machte, konnte dieser sich noch 498 Tage lang im Backsteindschungel der Barrios verstecken. Am 2. Dezember 1993 trafen ihn auf einem Hausdach die tödlichen Kugeln. Politik statt Mathematik. „Medell´ın war Gewalt, soziale Ungleichheit und nochmals Gewalt“, sagt einer, der acht Jahre seines Lebens einsetzte, um daran etwas zu ändern. Mauricio Valencia, heute Infrastrukturminister der Provinz Antioquia, war als städtischer Planungsdirektor der Architekt jener „bürgerlichen Transformation“, die heute Kommunalpolitiker aus ganz Lateinamerika, aus Afrika und Südasien in das Hochtal Sollten die Drogen legalisiert werden? Die Prohibition bewirkt einerseits Gewalt und andererseits Drogen von übelster Qualität. Das führt dazu, dass die Schäden der Volksgesundheit schlimmer sind, als sie sein müssten. Ich behaupte keinesfalls, dass Drogen gut wären. Keine Droge ist gut. Aber Drogenhändler schert es einen feuchten Kehricht, welche Schäden die Ware anrichtet. Solange der Drogenhandel verboten ist, gilt: Die schlechteste Ware verspricht die höchste Rentabilität. Hat Ihr Vater mit Ihnen über Drogen gesprochen?