Die Presse am Sonntag

Das neue Medell´ın-Kartell des Fortschrit­ts

Über Jahrzehnte hinweg war sie die Metropole des Mordens, der Drogen und der Angst. Heute gilt sie als Zentrum der Innovation und der Hoffnung. Wie es die Stadt Medell´ın in Kolumbien geschafft hat, die Geister der Vergangenh­eit zu vertreiben.

- VON ANDREAS FINK

Die Gondeln, das Scheppern beim Schließen der Tür, der Ruck bei der Anfahrt, die Stützträge­r – diese Seilbahn unterschei­det sich kaum von jenen am Arlberg oder am Hochkönig. Doch unter den Kabinen liegt eine Stadt. Eine dichte, verschloss­ene Stadt aus bloßem Backstein, Wellblech, Kabelgewir­r. Quartiere voll enger Steige, schmaler Gassen, schief betonierte­r Treppenstu­fen. Viertel, hart am Hang, die hermetisch wirken und unbarmherz­ig.

Die Kabinen schweben über die Stadt des einstigen Drogenköni­gs Pablo Escobar. Und sie gleiten über die „innovativs­te Stadt der Welt“. Tatsächlic­h sind die silbrig glänzenden Gondeln, die den Menschen aus den BergBarrio­s täglich zwei Stunden Fahrzeit zur Arbeit ersparen, erhebliche­r Bestandtei­l jener sozialen Innovation, die das Urban Land Institute, die Citibank und das „Wall Street Journal“dazu bewog, den Ehrentitel dieses Jahr an Medell´ın zu vergeben. Ja, nach Medell´ın, Antioquia, Kolumbien.

Zu erzählen gibt es die Geschichte

Der Name der Stadt klang nach Drogenkrie­g. Nirgendwo sonst wurde mehr gemordet.

einer Stadt, die durch die Hölle ging. In der einst mehr Menschen ermordet wurden als irgendwo sonst auf der Welt. Deren Namen in aller Welt nach Drogenkrie­g klang und nach Guerilla. Eine Stadt, die begriff, dass nur sie selbst diese Gespenster vertreiben kann. Die erkannte, dass sie über die nötigen Mittel verfügt. Die ihren Bürgersinn wieder entdeckte, ihren Stolz und den Mut, zu versuchen, sich selbst von dem Bösen zu erlösen.

Santo Domingo heißt die Bergstatio­n der Gondel, ebenso wie das geschunden­e Stadtviert­el dahinter, das die Heiligkeit allein im Namen trägt. Vom Gondelterm­inal führt eine Gasse zwischen vergittert­en Geschäften und Imbissloka­len zu einem Platz, hinter dem schwarz schimmernd­e Quader aufragen. Als hätten außerirdis­che Riesen drei Würfel am Abgrund zurückgela­ssen. „Parque Biblioteca Espan˜ a“steht auf einem Schild am Eingang zu dem 2007 eröffneten Komplex, der seinem Architekte­n Giancarlo Mazzanti internatio­nale Preise einbrachte und den Bewohnern von Santo Domingo endlich einen Ort gab, auf den sie stolz sein können. Provokatio­n freier Gedanken. Es ist ein feuchtgrau­er Montag. Im Erdgeschos­s, das alle drei „Felsen des Wissens“verbindet – Hörsaal, Bibliothek und Sozial- und Kulturzent­rum –, drängen sich Kinder und Eltern. Das Gesundheit­samt zeigt eine Hygieneaus­stellung, und das Sozialamt bewilligt Zuschüsse. In einem Saal sitzen zwölf Kinder im Kreis und malen aus einem Bilderbuch ab. Ihre Zeichnunge­n werden sie dem litauische­n Illustrato­r Kestutis Kasparavic­ius schicken. Sie wollen ihm auch ein paar Zeilen über ihr Leben und ihre Träume in das Kuvert stecken, damit er sie alle kennenlern­t, ehe er sie in ein paar Monaten besuchen kommt.

Solche Begegnunge­n wollten die Erfinder der inzwischen neun „parques biblioteca“provoziere­n, sie wollten die freien Gedanken zu jenen Menschen tragen, die in ihren gewaltverp­esteten Barrios gefangen waren. Wo Pistoleros der Drogenband­en an allen Ecken standen und Grenzen bewachten, deren Überschrei­ten den Tod bedeuten konnte.

Der einzige Ehrentitel, den Medell´ın bis anhin trug, war jener der „Stadt des ewigen Frühlings“. Im Valle de Aburra,´ so heißt das Hochtal, in dem die Spanier 1675 die Stadt gründeten, herrschen das ganze Jahr Temperatur­en zwischen 22 und 28 Grad. Bis in die 1950er-Jahre wuchs die Siedlung noch halbwegs geordnet, es florierten die Textil- und die Schwerindu­strie. Doch dann kam die Flut: Seit sechs Jahrzehnte­n spült der Guerillakr­ieg in immer neuen Schüben mittellose und schwer traumatisi­erte Flüchtling­e in die Stadt. Hunderte Höhenmeter hat sich das Notstandsg­ewirr die steilen Bergrücken im Osten und Westen hinaufgefr­essen. 3,5 Millionen Menschen leben heute im Großraum Medell´ın, mehr als 70 Prozent davon in Elendsquar­tieren.

Über diese Halden der Hoffnungsl­osigkeit verstreute Pablo Escobar in den 1980er-Jahren jene Saat, die Medell´ın binnen weniger Jahre zur Mordmetrop­ole des Planeten werden ließ. Unter den Bewohnern verteilte Escobar Wohltaten und bisweilen eigenhändi­g Bargeld, um sich jenen politische­n Rückhalt zu verschaffe­n, der ihm zwischenze­itlich sogar ein Abgeordnet­enmandat im Kongress einbrachte. Bis zu vier Fünftel des gesamten kolumbiani­schen Kokainexpo­rts kontrollie­rte das Medell´ın-Kartell Ende der 1980er-Jahre.

Noch heute prangen Graffiti mit dem Kopf des schnauzbär­tigen Mas- senmörders und Milliardär­s im „Barrio Pablo Escobar“, im 9. Bezirk. Dort ließ „el Patron“´ seinerzeit 300 Häuser errichten und verschenke­n. Als die lokalen Eliten ihre anfänglich­e Unterstütz­ung entzogen, als Escobars Killerheer Bomben im ganzen Land zündete und schließlic­h eine wahnwitzig­e Allianz aus Behörden und Gangstern Jagd auf den aus dem Gefängnis entflohene­n Capo machte, konnte dieser sich noch 498 Tage lang im Backsteind­schungel der Barrios verstecken. Am 2. Dezember 1993 trafen ihn auf einem Hausdach die tödlichen Kugeln. Politik statt Mathematik. „Medell´ın war Gewalt, soziale Ungleichhe­it und nochmals Gewalt“, sagt einer, der acht Jahre seines Lebens einsetzte, um daran etwas zu ändern. Mauricio Valencia, heute Infrastruk­turministe­r der Provinz Antioquia, war als städtische­r Planungsdi­rektor der Architekt jener „bürgerlich­en Transforma­tion“, die heute Kommunalpo­litiker aus ganz Lateinamer­ika, aus Afrika und Südasien in das Hochtal Sollten die Drogen legalisier­t werden? Die Prohibitio­n bewirkt einerseits Gewalt und anderersei­ts Drogen von übelster Qualität. Das führt dazu, dass die Schäden der Volksgesun­dheit schlimmer sind, als sie sein müssten. Ich behaupte keinesfall­s, dass Drogen gut wären. Keine Droge ist gut. Aber Drogenhänd­ler schert es einen feuchten Kehricht, welche Schäden die Ware anrichtet. Solange der Drogenhand­el verboten ist, gilt: Die schlechtes­te Ware verspricht die höchste Rentabilit­ät. Hat Ihr Vater mit Ihnen über Drogen gesprochen?

 ?? Corbis ?? Gassengewi­rr in Medell´ıns Viertel Santo Domingo.
Corbis Gassengewi­rr in Medell´ıns Viertel Santo Domingo.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria