Ruhe Kinder, verdammt! Es weihnachtet
Weil Weihnachtsbücher das erschaffen, was sonst untergeht, nämlich Besinnlichkeit, hat die »Presse am Sonntag« eine Best-of-Liste erstellt.
Der erste Advent ist kaum da, schon spürt man die Sehnsucht nach Ruhe. Die Friedlichkeit, die wir Weihnachten zuschreiben, könnte Wissenschaftlern zufolge auch der Grund sein, warum wir gerade dieses Fest so gern feiern. Und ja, wir versuchen unser Möglichstes, den Heiligen Abend und die nachfolgenden Tage tatsächlich so zu gestalten: ruhig, besinnlich und streitfrei. Es geht ja schließlich nur darum, dass alle zusammen sind. Vor allem Kindern will man die weihnachtliche Botschaft vermitteln: Die Geschenke sind nicht wichtig, verdammt, es geht um den Frieden! Das Ziel ist der Duft nach Nelken und Zimt, keine Anrufe, keine Mails, keine Unterbrechungen, nicht einmal ein voller Mistkübel, bitte schön; sondern ein Weihnachtsbaum und womöglich auch noch strahlende Kinderaugen. So soll es sein.
Der Ausweg: Wir lesen uns das Weihnachten herbei, das wir uns wünschen.
Im Bewusstsein der Tatsache, dass wir das so sicher nicht vorleben – in Wirklichkeit haben wir es ja nicht einmal selbst so erlebt –, greifen wir zu anderen Maßnahmen: Wir lesen uns das Weihnachten herbei, das wir uns wünschen. Dieses Weihnachten kennt keine Grautöne, es leuchtet. Es ist das Weihnachten, an dem die Menschen ihre Türen öffnen und anderen helfen. An dem arme Kinder ihre Hoffnung so sehr an einen kleinen Wunsch hängen, dass er auch erfüllt wird. An dem die Bösen bestraft und die Guten belohnt werden. Und am Schluss die Augen im Sternenglanz und nicht im Widerschein der Konsole leuchten. Denn so soll es sein. Die Klassiker. Die passenden Bücher zu diesem Zweck sind die Klassiker von Astrid Lindgren, Hans-Christian Andersen (auch, wenn er sich wegen seiner Schwermut auf dieser Liste der schönsten Weihnachtsbücher nicht findet) und Klaus Kordon mit ihren Geschichten über ein Fest, bei dem es leise zugeht und aus großer Not auch große Wunder entstehen können. Oder der schon über vierzig Jahre alte Bestseller „Hilfe, die Herdmanns kommen“, für den US-Autorin Barbara Robinson neben zahlreichen Preisen auch den Harvard-Ehrendoktor für Literatur bekommen hat. Das Büchlein über eine Horde Schandtaten begehender und Zigarre rauchender Kinder schafft es, sich ohne Stilbruch von einer witzigspritzigen Geschichte zu einer Parabel über Großmut und den Glauben an die Menschheit auszuwachsen.
Aber es sind nicht nur die alten Bücher, die zurückfinden wollen zu einer einfachen Welt. „Der Sternenbaum“von Gisela Cölle ist ein neueres Buch, das genau dieses Bedürfnis widerspiegelt: Ein alter Mann will einen Brauch aus seiner Kindheit wieder aufleben lassen: Zu Weihnachten hängten die Kinder stets goldene Papiersterne ins Fenster, damit das Christkind den Weg zu ihnen findet. Goldpapier hat er.
Weihnachtsbücher suchen nach dem Idyll, das Weihnachten für viele längst verloren hat. Aber die Reklametafeln der Stadt leuchten so hell, dass der Glanz der Sterne untergeht. Also zieht er los, um das Christkind zu suchen.
Oder „Weihnachten nach Maß“von Birdie Black und Rosalind Beardshaw, bei dem ein Stück Stoff, egal, wie groß es ist, immer „genau richtig“ist, um daraus ein schönes Geschenk zu zaubern: für den König, der daraus einen Umhang für seine Tochter machen lässt, für das Küchenmädchen, das daraus eine Jacke für seine Mutter schneidert, für den Dachs, der daraus einen Hut für seinen Vater fertigt, und noch viele mehr. Dass etwas genau richtig ist – wie verführerisch ist dieser Gedanke. Vor der kindlichen Kritik sind Eltern zumindest in den ersten Jahren durch das Christkind ganz gut geschützt („Das muss es wohl falsch verstanden haben“), doch ist der Wunsch nach Bescheidenheit wohl ebenso groß wie der nach Besinnlichkeit, wenn man die Menge an Büchern zu diesem Thema betrachtet.
Weil Weihnachten viel mit Traditionen zu tun hat, wurde in der Liste auf Bücher verzichtet, in denen der Weihnachtsmann Großes leistet oder zumindest die Geschenke bringt. Das soll kein Angriff sein, immerhin wurde ihm schon durch das Gerücht, er sei von Coca-Cola erfunden worden, genug Unrecht getan. Es spiegelt nur die österreichische Tradition wider. Wer es ganz klassisch liebt und bibeltreu, aber kindergerecht „Die Weihnachtsgeschichte“lesen möchte, ist mit der Version von Tanja Jeschke gut beraten. Bei ihr wird das Geschehen vom Erscheinen des Engels bei Maria bis zur Frage, was danach geschah, auf liebevolle Weise greifbar. Wer dagegen für seine Kinder nach Spannung, magischen Elementen und verrätselten Botschaften sucht – um schließlich auch bei der Weihnachtsbotschaft zu landen –, wird mit dem Buch „Das Weihnachtsgeheimnis“glücklich sein. Die Geschichte von Jostein Gaarder, der durch „Sofies Welt“berühmt wurde, wird in 24 Etappen entwickelt, die sich aus einem Adventkalender ergeben. Dieses Prinzip verwendete auch Cornelia Funke, die gern als die „deutsche J. K. Rowling“bezeichnet wird, für ihr Buch „Hinter verzauberten Fenstern“. Hinter den Fenstern des Adventkalenders der neunjährigen Julia findet sich keine Schokolade, sondern seltsame Zimmer. Wenn man lange genug hineinsieht, kann man in diese Räume schlüpfen – und damit hinübergleiten in eine andere, abenteuerliche Welt. Die große Sehnsucht nach Ruhe und Stille in der Adventzeit können diese Bücher wohl nicht stillen. Aber zumindest für ein paar Momente – in der Lesezeit.