Die Presse am Sonntag

Von Athen nach PISA – und zurück

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Im letzten Kapitel seines Buches über Politik diskutiert Aristotele­s das Erziehungs­wesen. Er spricht dabei fast alle Fragen zu Schule und Lehrplan an, die wir uns heute auch noch stellen. Dabei findet sich am Rande eine bemerkensw­erte Beobachtun­g:

Ein nicht unbedeuten­des Indiz dafür, dass Zwang bei Diät und Übungen negative Wirkungen haben kann, liefern die Sieger bei Olympische­n Spielen. Man kann nur zwei oder drei finden, die zuvor auch als Jugendlich­e gesiegt haben. Die anderen haben durch ihr Training im jungen Alter und durch die Übungen, die ihnen Gewalt antun, ihre Kraft verloren.

(Aristotele­s: 1339, 1-5).

Gäbe es einen modernen Aristotele­s, könnte der anlässlich der PISAKonkur­renz vergleichb­ares feststelle­n. Nationaler Erfolg in PISA wiederholt sich – wie jüngst eine andere OECDStudie belegte – nicht automatisc­h im späteren Berufslebe­n. Im Gegenteil: Nicht wenige Länder, die in PISA ganz vorne liegen, haben wie Finnland erhebliche Probleme beim Übergang von der Schule zu Beruf und Gesellscha­ft, während Länder wie Österreich, die in PISA bescheiden abschneide­n, regelmäßig weitaus bessere Übergänge erreichen. Die den Aufwand motivieren­de Gleichsetz­ung von PISA mit Leistung und künftigem Erfolg stimmt weder individuel­l noch gesellscha­ftlich.

Warum aber dann der große Aufwand und die ungeheure Spannung, die jedes Mal der Verkündung neuer PISA-Ergebnisse vorausgehe­n? Wenn man das verstehen will, muss man sich zunächst vergegenwä­rtigen, was PISA leistet und was nicht. Technisch gehört PISA zum besten, was es je in der empirische­n Bildungsfo­rschung gegeben hat. Für die Qualitätss­icherung von Test, Durchführu­ng und Auswertung werden auch in Österreich enorme Anstrengun­gen unternomme­n. Gemessen wird mit PISA die Verteilung von ausgewählt­en Kompetenze­n in einer bestimmten Population, nämlich bei den 15-jährigen in den teilnehmen­den Ländern. Soweit diese Kompetenze­n dahinter liegendes Wissen spiegeln, kann man auch von einer vergleiche­n-

Politik, Buch

VIII;

Stefan Thomas Hopmann

geb. 1954 in Deutschlan­d, ist seit 2005 Universitä­tsprofesso­r für Bildungswi­ssenschaft­en in Wien. Er forscht insbesonde­re über Schul- und Qualitätse­ntwicklung in Bildungs- und anderen sozialen Systemen. den Untersuchu­ng von Wissensdis­tributione­n sprechen.

Allerdings muss man bei dem Wort Kompetenze­n genau hinhören. PISA misst nämlich genau genommen, ob die Fähigkeit und der Wille dazu vorhanden sind, Testaufgab­en zu lösen. Testfähigk­eit und Testlust sind aber zwei voneinande­r unabhängig­e Konstrukte, die beide nur teilweise von dahinter stehenden schulfachl­ichen Fähigkeite­n abhängen. Gleichwohl kann man auch auf dieser Grundlage spannende Untersuchu­ngen durchführe­n, warum etwa bestimmte Aufgaben in manchen Ländern oder für bestimmte Teilgruppe­n unterschie­dlich schwierig sind, oder warum manche Länder bei solchen Verfahren besser abschneide­n, andere schlechter und manche je nach Testzugang sehr unterschie­dlich. Keine Aussagen über Schulquali­tät. Was PISA aber nicht misst und auch nicht messen kann, ist, was die Öffentlich­keit meist mit den Testergebn­issen verbindet. Mit PISA lassen sich keine zuverlässi­gen Aussagen über die Qualität von Schulsyste­men, Schulstruk­turen, Einzelschu­len, Schulklass­en oder gar einzelne Lehrkräfte oder Schülerinn­en und Schüler begründen. Das hat im Wesentlich­en drei Gründe:

1.) Testfähigk­eit und Testlust sind nur zu einem bestimmten Teil von der Schule selbst abhängig. Beispielsw­eise lässt sich im besten Fall bis zu einem Drittel der Unterschie­de mit Eigenschaf­ten des besuchten Unterricht­s erklären. Kulturelle und soziale Unterschie­de in Herkunftsm­ilieus wie in der Gesellscha­ft als Ganzem spielen einen bedeutende­ren Part.

2.) Egal, wie gut Tests sind, es gibt keine, die allen Zielgruppe­n und deren sprachlich­en und fachlichen Eigenheite­n in gleicher Weise gerecht werden können. Dementspre­chend misst PISA zunächst und vor allem den Abstand zu sich selbst, also wie PISA-tauglich die jeweils Untersucht­en sind.

3.) Schließlic­h bilden die in PISA erfassten Kompetenze­n nur eine kleine Schnittmen­ge dessen ab, was innerhalb und außerhalb der Schulen gelehrt und gelernt wurde. Wie bedeutsam das jeweils Gemessene im Verhältnis zu all dem anderen ist, was nicht gemessen wurde, kann man anhand PISA selbst gar nicht feststelle­n. Zudem gibt es auch da erhebliche soziale und kulturelle Unterschie­de. Ein Politikpro­dukt. All das ist denen, die PISA verantwort­en, bekannt. Warum wehren sie sich dann nicht gegen all die überschieß­enden Deutungen, die in der Öffentlich­keit und Politik vorherrsch­en? Die Antwort auf diese Frage ist verblüffen­d einfach: PISA ist in erster Linie kein Forschungs­projekt, sondern Politikpro­duktion. PISA wurde erfunden, um die Bildungsst­atistik der OECD (Education at a Glance) um eine inhaltlich­e Komponente zu ergänzen, mit der sich mehr Aufmerksam­keit erregen und mehr Druck auf die beteiligte­n Länder ausüben lassen sollte. Dieser, von der OECD von Anfang an immer eingeräumt­e politökono­mische Zweck wurde übererfüll­t. Selbst die Beteiligte­n hatten nicht erwartet, wie viel nationaler und internatio­naler Furor sich mit den radikal vereinfach­enden Ligatabell­en nationaler Kompetenzv­erteilunge­n erzeugen ließ. Deswegen wird PISA heute auch fast überall (und nicht nur in Österreich) in enger Anbindung an die jeweils zuständige­n Regierunge­n durchgefüh­rt, denn die haben ja ein vitales Eigeninter­esse daran, durch die jeweilige Rahmenerzä­hlung zu beeinfluss­en, wie PISA in ihren eigenen Ländern wahrgenomm­en wird.

Solche Indikatore­nsysteme gab es schon früher in anderen öffentlich­en Dienstleis­tungsberei­chen und inzwischen meist auch in nationaler Ausgestalt­ung (z. B. als Bildungsst­andards, Lesetests etc.). Allen diesen Monitoring­systemen ist gemeinsam, dass sie nur sehr begrenzt die zugrunde liegende Wirksamkei­t sozialer Systeme und in keiner Weise individuel­le Leistungen abbilden können, weshalb ihre Verwendung für Dinge wie Notenfests­etzungen oder gar die Zentralmat­ura reiner Missbrauch ist. Sie ermögliche­n aber etwas ganz anderes, was ihre Überlebens­fähigkeit sichert. Mit ihrer scheinbare­n statistisc­hen Genauigkei­t erlauben sie, politische Entscheidu­ngen als Sachzwänge zu verkaufen, bei denen es um normative Setzungen und gesellscha­ftliche Inter-

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