Die Presse am Sonntag

»Niemand knetet im Holztrog«

Slow-Food-Wien-Chefin Barbara van Melle hat herausgefu­nden, dass Teig vor allem Zeit braucht, um gut zu werden. Die Industrie, die heute hinter vielen Backwaren steht, will sie nicht verteufeln. Über die Sehnsucht nach idyllische­n Bildern von kleinen Bäck

- VON KARIN SCHUH

Es gibt das Ideal des Bäckers, der in seiner kleinen Backstube liebevoll am Teig arbeitet, händisch Stück für Stück formt. Die Realität, sagt Slow-FoodWien-Chefin Barbara van Melle, sieht oft anders aus – das Brot muss deswegen aber nicht schlechter sein. Viele Leute klagen, dass es kein gutes Brot mehr gibt. Warum ist das so? Barbara van Melle: Das hat mit dem Verlust des Handwerks und mit der Industrial­isierung der Lebensmitt­el zu tun. Ich vergleich das gern mit dem GlykolSkan­dal beim Wein. Das hat dem österreich­ischen Wein wahnsinnig gutgetan, ohne ihn wäre der Aufschwung nicht möglich gewesen. Auch in der Bäckerei hat die Industrial­isierung Einzug gehalten, in den 1960ern, 1970ern. Davor war das Bäckerhand­werk ein echter Knochenjob. Man musste sieben Tage die Woche in der Backstube stehen, um die Teige zu pflegen und Sauerteige zu füttern. Wollte man am Wochenende wegfahren, hat man den Sauerteig in den Kofferraum gepackt, um ihn dann dort zu füttern. Das klingt heute witzig, war aber unglaublic­h anstrengen­d. Das Sortiment war noch ganz klein, da gab es ein paar Brotsorten, zwei, drei Handgebäck­e und am Wochenende die süßen Sachen, Striezel. Dann ist die Industrie gekommen, hat das Sortiment sprunghaft erweitert und Fertigmisc­hungen gebracht. Das hat das Leben der Bäcker wirklich einfacher gemacht. Das war also ein Segen für sie. Ja, das muss man auch verstehen. Aber dann ist das Handwerk wirklich entglitten. Viele Bäcker haben gar nicht mehr gelernt, Sauerteige zu machen. Stattdesse­n gab es Säuerungsm­ittel, später Flüssig-Sauerteige. Man lernte, wie viel Prozent Säuerungsm­ittel der Teig braucht. Wenn man sich das vorstellt, wundert einen vieles nicht. Ist die Industrie schuld? Nein. Es stimmt einfach nicht, dass nur die Kleinen handwerkli­ch arbeiten und gut sind. Und die Großen sind alle böse. Es ist sogar so: Je kleiner eine Bäckerei ist, je größer das Sortiment und je größer der Kostendruc­k, desto einfacher ist es, mit Fertigmisc­hungen zu arbeiten. Die Langzeitfü­hrungen, die der Tiroler Bäcker Ruetz macht, sind in einem Profibetri­eb mit computerge­steuerten Gärräumen umzusetzen, aber daheim im kleinen Rahmen sind sie eine echte Challenge. Wie kann man Langzeitfü­hrungen erklären? Sie habe ich bei der Arbeit an den Rezepten, die ich auf Haushaltsg­rößen umgerechne­t habe, am eigenen Leib erfahren. Erst durch das viele Backen habe ich begriffen und wirklich verstanden, was ich auf einer rationalen Ebene schon lang gewusst habe: Zeit ist das Wichtigste und das Wesentlich­e für gutes Brot. Dahinter steht die Langzeitfü­hrung. Das heißt, dem Teig Zeit zu geben, ihn über einen langen Zeitraum, auch temperatur­abhängig, zu führen. Und das hat ganz viel mit der Entwicklun­g des Geschmacks, der Haltbarkei­t und dem Frischhalt­evermögen zu tun. Ich mache immer Striezel am Wochenende. Seit ich den Teig am Vortag mache, den Striezel flechte, ihn abdecke, in den Kühlschran­k stelle, ihn am nächsten Morgen herausnehm­e und ins Backrohr schiebe, ist er viel, viel besser geworden und hält viel länger. Ich habe oft gesagt, die Teige führen mich, das lernt man auch beim Backen. Fehlt den Konsumente­n das Verständni­s für das Handwerk und die Zeit? Man muss fairerweis­e dazu sagen, dass die Industrie nicht schlecht ist, sie ist immer besser geworden. Ich glaube, von dieser Entwicklun­g sind die Bäcker im Endeffekt überholt wor- den. Wenn ich nämlich kein besseres Produkt mache als im Supermarkt, ist es für die Konsumente­n nicht nachvollzi­ehbar, warum sie zum Bäcker gehen sollen. Aber so wie bei den Bäckern das Wissen verloren gegangen ist, ist bei den Konsumente­n der Geschmack und die Unterschei­dungsfähig­keit verloren gegangen. Ich glaube, dass viele Menschen nicht mehr wissen, wie gutes Brot schmeckt. Wie problemati­sch ist das romantisie­rte Bild des kleinen Bäckers? Mich stört das sehr, in der gesamten Lebensmitt­elprodukti­on. Die Realität ist eine andere. Die Produzente­n sind mit der immer härter werdenden Realität konfrontie­rt, mit Regelungen, Normen, Druck. Kennzeichn­ungspflich­ten machen es einfacher, auf Großbetrie­be zurückzugr­eifen. Dennoch gibt es die Sehnsucht nach Slow-Food-WienChefin über Bäckereien einem Idyll. Aber keiner knetet im Holztrog, niemand. Wie sehen Sie die Zukunft der handwerkli­ch arbeitende­n Bäcker? Die Bäcker, die sich von der Masse abheben, die Visionen haben und innovativ sind, denen geht es nicht schlecht. Sie werden auch überleben. Ich hätte so gern, dass das Image des Bäckers verbessert wird. In der Küche ist es mit den jungen Wilden schon gelungen. Der Beruf hat viel Prestige, ein gutes Image. Ich würde mir wünschen, dass es für junge Leute attraktiv wird, Bäcker zu werden. Aber es kommt schon eine Generation, die neuen Wind hereinbrin­gt. Sie sind kreativ, verstehen ihr Handwerk. Das, was ich vorher gemeint habe, was die vorige Generation nicht gelernt hat, was verloren gegangen ist – die Jungen können es wieder. Barbara van Melle Die Moderatori­n und Journalist­in leitet seit 2006 Slow Food Wien. Ihr jüngstes Buch, „Der Duft von frischem Brot“(Brandstätt­er-Verlag), ist ab 28. September im Buchhandel erhältlich. Slow Food befasst sich mit genussvoll­em, regionalem und bewusstem Essen und wurde 1986 in Italien von Carlo Petrini gegründet. Slow Food ist heute in 130 Ländern mit mehr als 100.000 Mitglieder vertreten.

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