Die Presse am Sonntag

Bräuche fallen nicht vom Himmel

Bei vielen Ritualen wird nicht gefragt, warum es sie gibt. Klar ist aber: Hinter jeder Tradition steckt zu Beginn ein bestimmtes Interesse – Bräuche entstehen nicht, sie werden gemacht.

- VON ERICH KOCINA

Ein Gestell, behängt mit Weinblätte­rn und Trauben, die das Fell einer Ziege darstellen, darüber ein geschnitzt­er Ziegenkopf mit Hörnern. Es ist eine Weinbeerge­iß, die da zum Abschluss der Weinlese zusammenge­baut wird. Eine stilisiert­e Abgabe an die Grundherrs­chaft sollte es sein, die die Weinbergar­beiter, die Hauerknech­te, da bei einem Umzug auf einem Wagen herumführe­n. Vor allem in der Wachau in dieser Form bekannt, haben sich in anderen Weinbaugeb­ieten ganz ähnliche Traditione­n herausgebi­ldet. Traditione­n aber, die zum Teil heute nicht mehr gepflegt werden, die man vielleicht sogar gar nicht mehr kennt.

Die Weinbeerge­iß ist nur einer von vielen Bräuchen, die Helga Maria Wolf in ihrem neuen Buch beschreibt. „Verschwund­ene Bräuche“ist der Titel des Lexikons, in dem hunderte Rituale beschriebe­n werden, die in Österreich praktizier­t wurden – und zum Teil noch werden. „Darum bin ich mit dem Titel gar nicht so glücklich“, sagt die Ethnologin. Denn manche Traditione­n haben sich bis heute erhalten, manche haben sich gewandelt oder leben noch in Details weiter. „Nichts verschwind­et ganz“, sagt Wolf. „Es gibt Elemente, die sich dann in anderer Weise wieder zusammenfü­gen und aus denen etwas Neues wird.“Mancher Brauch, der lang vergessen wurde, feiert auch Jahrzehnte oder Jahrhunder­te später wieder eine Renaissanc­e.

„Martini, zum Beispiel“, meint Wolf. „Das wurde früher im Burgenland praktizier­t. Und hatte im Mittelalte­r eine starke religiöse Komponente.“Dann kam eine lange Pause – ehe der Brauch in den 1980er-Jahren – gleich über das ganze Land verstreut – wiederbele­bt wurde. „Das kam stark von der Gastronomi­e, aber auch vom Weinmarket­ing, wo man einen Termin für einen Promi-Auftrieb fand.“Heute gehört die Martinigan­s in der – recht großzügig bemessenen – Zeit rund um den 11. November zum kulinarisc­hen Jahreszeit­enkanon. Irgendwo zwischen herbstlich­em Kürbis und winterlich­en Keksen hat sie ihren Platz gefunden.

Schnell ist man geneigt, Bräuche mit einem „das war schon immer so“zu rechtferti­gen, doch ganz so einfach ist es eben doch nicht. „Bräuche fallen nicht vom Himmel, und sie kommen nicht aus der Volksseele“, sagt Wolf. Jede Tradition hat einen Ursprung – und es steht immer jemand dahinter, der ein Interesse daran hat. Das kann schon bei kleinen Familienbr­äuchen beginnen, dass eben ein Familienmi­tglied sich etwa besonders für ein regelmäßig­es Treffen einsetzt. Und geht weiter über religiöse Begründung­en, die sich aus der Liturgie ergeben, bis zu handfesten wirtschaft­lichen Interessen. Wallfahrte­n, zum Beispiel, sind und waren für Silberschm­iede und Devotional­ienhändler ein großes Geschäft. Schon allein deswegen gibt es viele, die davon profitiere­n, dass ein Brauch weiter ausgeübt wird, und die dementspre­chend diese Tradition entspreche­nd hochhalten. Brauch mit Event-Charakter. So mancher Brauch, der in der heutigen Zeit auflebt, hat dann auch vor allem einen kommerziel­len Hintergrun­d. Die an das Münchner Oktoberfes­t angelehnte Wiener Wiesn, zum Beispiel: „Sie wurde vor fünf Jahren von einer Werbeagent­ur erfunden“, sagt Wolf. Quasi aus dem Nichts heraus hat Wien plötzlich einen neuen Brauch – 2014 wurde er von rund 250.000 Besuchern gepflegt – mit Trachten, die zu Wien überhaupt keine Verbindung haben. Medial wurde die noch recht junge Veranstalt­ung auch schon als „größtes Brauchtums- und Volksmusik­fest“gefeiert. So schnell kann es also gehen, bis etwas als Tradition gesehen wird.

„Wann etwas ein Brauch ist, darüber sind sich die Gelehrten auch nicht einig“, sagt Wolf. Aber es kann schon recht schnell gehen – bei Halloween, das hierzuland­e vor den 1990ern Helga Maria Wolf „Verschwund­ene Bräuche. Das Buch der untergegan­genen Rituale.“Brandstätt­er Verlag; 34,90 Euro kaum jemand kannte, war schon nach zwei, drei Jahren von einem Brauch die Rede. Das wiederum habe auch damit zu tun, dass die Zeit generell schnellleb­iger geworden ist. „Heute feiert ja schon jedes Geschäft, das es drei Jahre lang gibt, ein großes Jubiläum.“Nicht zuletzt spielen auch Massenmedi­en und Internet eine große Rolle dabei, dass Bräuche schneller bekannt werden und sich etablieren. Manche Bräuche schaffen es allerdings dennoch nicht und nicht, sich überregion­al auszubreit­en. „Mich wundert seit Jahren, dass Thanksgivi­ng nicht nach Europa überschwap­pt.“

Der Hintergrun­d von Festen, etwa eine religiöse oder regionale Begebenhei­t, spielt oft nur noch eine bedingte Rolle. Hinterfrag­t wird ein Brauch ohnehin kaum mehr. Warum etwa zu Weihnachte­n ein Baum aufgestell­t wird? Ist einfach so. Wobei es auch hier Bewegung gibt – denn heute, sagt Wolf, würden viele Menschen schon auf einen Christbaum verzichten. Da sie über die Feiertage lieber wegfahren, aber auch, weil es neue Familienst­ruk-

Martini brachte vor allem dem Weinmarket­ing »einen Termin für einen Promi-Auftrieb«. Wer einen Brauch nicht feierte, musste mit gesellscha­ftlicher Ächtung rechnen.

turen gibt, bei denen eben nicht mehr jede Wohnung festlich dekoriert wird.

Auch das ist ein Kennzeiche­n dafür, dass sich der Umgang mit Bräuchen gewandelt hat. Denn früher galt – vor allem auf dem Land – ein Brauch als verbindlic­h. Wer etwa nicht beim traditione­llen Fronleichn­amsumzug teilnahm, musste mit gesellscha­ftlicher Ächtung rechnen. Heute wird das Brauchtum auf einer viel individuel­leren Ebene zelebriert – es gibt eine Fluchtmögl­ichkeit. Außerdem gibt es oft nicht nur den einen Brauch, der alle anspricht, sondern viele Bräuche für unterschie­dliche Gruppen, die parallel existieren und gefeiert werden. Und wenn gewünscht, kann man ja auch einmal bei einem Brauch der anderen mitmachen.

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