Bräuche fallen nicht vom Himmel
Bei vielen Ritualen wird nicht gefragt, warum es sie gibt. Klar ist aber: Hinter jeder Tradition steckt zu Beginn ein bestimmtes Interesse – Bräuche entstehen nicht, sie werden gemacht.
Ein Gestell, behängt mit Weinblättern und Trauben, die das Fell einer Ziege darstellen, darüber ein geschnitzter Ziegenkopf mit Hörnern. Es ist eine Weinbeergeiß, die da zum Abschluss der Weinlese zusammengebaut wird. Eine stilisierte Abgabe an die Grundherrschaft sollte es sein, die die Weinbergarbeiter, die Hauerknechte, da bei einem Umzug auf einem Wagen herumführen. Vor allem in der Wachau in dieser Form bekannt, haben sich in anderen Weinbaugebieten ganz ähnliche Traditionen herausgebildet. Traditionen aber, die zum Teil heute nicht mehr gepflegt werden, die man vielleicht sogar gar nicht mehr kennt.
Die Weinbeergeiß ist nur einer von vielen Bräuchen, die Helga Maria Wolf in ihrem neuen Buch beschreibt. „Verschwundene Bräuche“ist der Titel des Lexikons, in dem hunderte Rituale beschrieben werden, die in Österreich praktiziert wurden – und zum Teil noch werden. „Darum bin ich mit dem Titel gar nicht so glücklich“, sagt die Ethnologin. Denn manche Traditionen haben sich bis heute erhalten, manche haben sich gewandelt oder leben noch in Details weiter. „Nichts verschwindet ganz“, sagt Wolf. „Es gibt Elemente, die sich dann in anderer Weise wieder zusammenfügen und aus denen etwas Neues wird.“Mancher Brauch, der lang vergessen wurde, feiert auch Jahrzehnte oder Jahrhunderte später wieder eine Renaissance.
„Martini, zum Beispiel“, meint Wolf. „Das wurde früher im Burgenland praktiziert. Und hatte im Mittelalter eine starke religiöse Komponente.“Dann kam eine lange Pause – ehe der Brauch in den 1980er-Jahren – gleich über das ganze Land verstreut – wiederbelebt wurde. „Das kam stark von der Gastronomie, aber auch vom Weinmarketing, wo man einen Termin für einen Promi-Auftrieb fand.“Heute gehört die Martinigans in der – recht großzügig bemessenen – Zeit rund um den 11. November zum kulinarischen Jahreszeitenkanon. Irgendwo zwischen herbstlichem Kürbis und winterlichen Keksen hat sie ihren Platz gefunden.
Schnell ist man geneigt, Bräuche mit einem „das war schon immer so“zu rechtfertigen, doch ganz so einfach ist es eben doch nicht. „Bräuche fallen nicht vom Himmel, und sie kommen nicht aus der Volksseele“, sagt Wolf. Jede Tradition hat einen Ursprung – und es steht immer jemand dahinter, der ein Interesse daran hat. Das kann schon bei kleinen Familienbräuchen beginnen, dass eben ein Familienmitglied sich etwa besonders für ein regelmäßiges Treffen einsetzt. Und geht weiter über religiöse Begründungen, die sich aus der Liturgie ergeben, bis zu handfesten wirtschaftlichen Interessen. Wallfahrten, zum Beispiel, sind und waren für Silberschmiede und Devotionalienhändler ein großes Geschäft. Schon allein deswegen gibt es viele, die davon profitieren, dass ein Brauch weiter ausgeübt wird, und die dementsprechend diese Tradition entsprechend hochhalten. Brauch mit Event-Charakter. So mancher Brauch, der in der heutigen Zeit auflebt, hat dann auch vor allem einen kommerziellen Hintergrund. Die an das Münchner Oktoberfest angelehnte Wiener Wiesn, zum Beispiel: „Sie wurde vor fünf Jahren von einer Werbeagentur erfunden“, sagt Wolf. Quasi aus dem Nichts heraus hat Wien plötzlich einen neuen Brauch – 2014 wurde er von rund 250.000 Besuchern gepflegt – mit Trachten, die zu Wien überhaupt keine Verbindung haben. Medial wurde die noch recht junge Veranstaltung auch schon als „größtes Brauchtums- und Volksmusikfest“gefeiert. So schnell kann es also gehen, bis etwas als Tradition gesehen wird.
„Wann etwas ein Brauch ist, darüber sind sich die Gelehrten auch nicht einig“, sagt Wolf. Aber es kann schon recht schnell gehen – bei Halloween, das hierzulande vor den 1990ern Helga Maria Wolf „Verschwundene Bräuche. Das Buch der untergegangenen Rituale.“Brandstätter Verlag; 34,90 Euro kaum jemand kannte, war schon nach zwei, drei Jahren von einem Brauch die Rede. Das wiederum habe auch damit zu tun, dass die Zeit generell schnelllebiger geworden ist. „Heute feiert ja schon jedes Geschäft, das es drei Jahre lang gibt, ein großes Jubiläum.“Nicht zuletzt spielen auch Massenmedien und Internet eine große Rolle dabei, dass Bräuche schneller bekannt werden und sich etablieren. Manche Bräuche schaffen es allerdings dennoch nicht und nicht, sich überregional auszubreiten. „Mich wundert seit Jahren, dass Thanksgiving nicht nach Europa überschwappt.“
Der Hintergrund von Festen, etwa eine religiöse oder regionale Begebenheit, spielt oft nur noch eine bedingte Rolle. Hinterfragt wird ein Brauch ohnehin kaum mehr. Warum etwa zu Weihnachten ein Baum aufgestellt wird? Ist einfach so. Wobei es auch hier Bewegung gibt – denn heute, sagt Wolf, würden viele Menschen schon auf einen Christbaum verzichten. Da sie über die Feiertage lieber wegfahren, aber auch, weil es neue Familienstruk-
Martini brachte vor allem dem Weinmarketing »einen Termin für einen Promi-Auftrieb«. Wer einen Brauch nicht feierte, musste mit gesellschaftlicher Ächtung rechnen.
turen gibt, bei denen eben nicht mehr jede Wohnung festlich dekoriert wird.
Auch das ist ein Kennzeichen dafür, dass sich der Umgang mit Bräuchen gewandelt hat. Denn früher galt – vor allem auf dem Land – ein Brauch als verbindlich. Wer etwa nicht beim traditionellen Fronleichnamsumzug teilnahm, musste mit gesellschaftlicher Ächtung rechnen. Heute wird das Brauchtum auf einer viel individuelleren Ebene zelebriert – es gibt eine Fluchtmöglichkeit. Außerdem gibt es oft nicht nur den einen Brauch, der alle anspricht, sondern viele Bräuche für unterschiedliche Gruppen, die parallel existieren und gefeiert werden. Und wenn gewünscht, kann man ja auch einmal bei einem Brauch der anderen mitmachen.