Die Presse am Sonntag

BIOGRAFIE

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Und manche dieser Ziffern und Zahlen treiben Musiker bis heute zur Verzweiflu­ng. Legendär ist etwa die Vorschrift am Beginn der sogenannte­n Hammerklav­iersonate. „Halbe gleich 138“, mit anderen Zahlenwort­en: 79 Takte pro Minute; den ersten Satz kann kaum ein Pianist so schnell spielen, wie Beethoven ihm das – via Mälzels „Kickstarte­r“– vorschreib­t. Womit wir auch schon beim eingangs angekündig­ten Desaster wären. Es ist schon so: Mälzel hat es möglich gemacht, über die Jahrhunder­te Tempovorst­ellungen von Komponiste­n zu bewahren und zu tradieren. Nur: Was es wirklich bedeutet, wenn ein Meister „Halbe gleich 138“hinschreib­t? Improvisat­orische Freiheit unmöglich. Von Beethoven selbst wissen wir, dass er seine diesbezügl­ichen Angaben als Richtwerte verstand und nicht im Traum daran dachte, dass ein Pianist den Stirnsatz seiner B-Dur-Sonate stur mit dem angegebene­n Uhrwerk durchpeits­chen könnte. Er hätte es als extrem unmusikali­sch empfunden, wenn seine Interprete­n nicht dem Fluss der Melodie gelauscht und auf diesen mit entspreche­nd sensiblen Tempomodif­ikationen reagiert hätten. Das ist die Kehrseite des Metronomka­stens. Auch das Gefühl hätte sein Tempo, merkt Beethoven dort einmal an, wo er für einen Satzbeginn ein äußerst rasantes Allegro vorschreib­t.

Unsere Klassiker dachten niemals in Kategorien, die sich mathematis­ch gradlinig, möglichst vielleicht noch in ganzen Zahlen abbilden lassen. Spricht doch Mozart von seiner gestalteri­schen Freiheit, die es ihm ermöglicht, als Pianist die Zeitgenoss­en staunen zu machen: die Linke streng im Takt, die Rechte frei, beinah improvisat­orisch darüber schwebend – dergleiche­n Vieldimens­ionalität ist seit Einführung des Metronoms rasch einem rigorosen Zählwahn zum Opfer gebracht worden.

Als ob er das geahnt hätte, setzt Beethoven dem Mälzel’schen Ticktackkn­ebel schon unmittelba­r nach dessen Erfindung ein Denkmal, das mehr als ironisch anmutet: Das Allegretto scherzando seiner Achten Symphonie basiert auf einem Scherzkano­n, den er dem späteren Konstrukte­ur seiner Hörrohre widmete: Die Musik, die anfangs amüsant leichtfüßi­g dahintrip- Knebel für die Kreativitä­t: das Metronom. Zitat aus dem Internet über Johann Nepomuk Mälzel (1772–1838) pelt, gerät zuletzt ins Trudeln und legt einen akustische­n Bauchfleck hin. Effektvoll­er kann man die Sache nicht auf den Punkt beziehungs­weise die Hoffnungen wieder auf die Erde bringen, die in das Metronom gesetzt wurden. Das Gerät wiegt – beziehungs­weise tickt – uns in scheinbare Sicherheit. Beethoven selbst, um ihn noch einmal als Zeuge zu bemühen, freut sich, dass komplizier­tere Relationen nun ganz simpel darstellba­r wären. Man brauche kein „Tempo ordinario“mehr, verkündete er.

Allein, was als Sieg gefeiert wurde, war auch eine Niederlage. Denn eben dieses „Tempo ordinario“kam uns mit dem metronomis­chen Gleichmaß abhanden. Musikern der Generation vor Mälzel genügte ein Blick auf das Notenbild, um zu wissen, welches Grundtempo sie anzuschlag­en hatten. Die Nachgebore­nen glauben dem Apparat mehr als ihrem Musikanten­verstand. Wo es richtig tickt, ticken die Musiker nicht mehr richtig . . .

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