Die Presse am Sonntag

Völkerwand­erung ohne Völker?

Die »Völkerwand­erung« wurde in Wien erfunden: Als Schreckens­wort ist sie nun wieder da. Aber Völker wanderten nie, Eroberunge­n blieben die Ausnahme, und die Migranten des vierten bis sechsten Jahrhunder­ts übernahmen von innen die Macht – als neue Elite.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Über Generation­en hat man die Bilder vererbt, in der Schule, in Filmen, in Büchern: Horden und Heere von Barbaren, die Rom überrennen und ein Weltreich zu Fall bringen, Gewalt und Chaos, Kampf zwischen Wilden und Zivilisati­on. Nun sind die Bilder wieder da – angesichts der vielen tausenden Flüchtling­e sprechen manche, mit oder ohne Fragezeich­en, von einer „neuen Völkerwand­erung“.

Warum bemüht man gerade diese Migration, die eineinhalb Jahrtausen­de zurücklieg­t? Es gäbe so viele Flüchtling­s- und Einwandere­rströme der vergangene­n Jahrhunder­te, an die man erinnern könnte: die Millionen Flüchtling­e in Mittel- und Osteuropa am Ende des Zweiten Weltkriegs, die Millionen Menschen, die vor dem Bürgerkrie­g in Ruanda flohen, die Flüchtling­e aus dem ehemaligen Jugoslawie­n oder auch die 85 Millionen Menschen, die zwischen 1820 und 1914 von Europa aus den Atlantik überquerte­n und das Gesicht der USA veränderte­n. Europas „große Erzählung“. Die Völkerwand­erung sei ein interessan­tes historisch­es Laboratori­um, wie der österreich­ische Historiker Walter Pohl sagt, einer der weltweiten Experten für diese Zeit; man kann darin auch gleich die Gegenwart untersuche­n. Aber das gilt für andere Migratione­n auch. Nicht, weil sich diese Zeit besser eignet, kommt sie ins Gerede, sondern, weil sich Europas Nachwelt über Jahrhunder­te Mythen daraus geschmiede­t hat.

Allein schon im Wort „Völkerwand­erung“steckt eine solche große Erzählung. Einzig das Deutsche lässt in der Bezeichnun­g der Epoche an Völker denken. Bei den Engländern etwa heißt es populär „barbarian invasions“oder nüchtern „migration period“; die Franzosen kennen die „invasions barbares“oder die „migrations germanique­s“. Von Barbaren spricht auch die heutige Forschung mangels besserer Begriffe. Ursprüngli­ch meinte das aus dem Griechisch­en stammende Wort bei den Römern die sozusagen brabbelnde­n („br-br-sagenden“), unkultivie­rten Fremden. Und als die Kulturlose­n, die die Zivilisati­on bedrohen, blieben sie auch im abendländi­schen Ge- dächtnis verankert. So warnten sowohl Thomas Mann als auch Albert Einstein vor einer „Völkerwand­erung von unten“: Der Schriftste­ller meinte den Bolschewis­mus, der Physiker den Nationalso­zialismus, dieses „Zertrampel­n des Feineren durch das Rohe“.

Dass aber im Deutschen das Bild der Völker ins Spiel gekommen ist, das heute wieder die Angst vor „den Fremden“beflügelt, hat ursprüngli­ch mit einem Wiener zu tun. Der Habsburger Hofhistori­ograf Wolfgang Lazius schrieb im 16. Jahrhunder­t als Erster in einem Traktat von der „migratio gentium“. Er meinte damit noch keine Epoche, erklärt der Wiener Historiker Stefan Donecker, der die Begriffsge­schichte der Völkerwand­erung erforscht. „Lazarus wollte einfach zeigen, dass barbarisch­e Völker der Antike generell mobiler waren, als man bisher glaubte.“Lazarus erklärte damit auch die Entstehung des österreich­ischen Volkes – als Gemisch aus wandernden Goten, Kelten, Markomanne­n und anderen.

Ein Wiener Hofhistori­ograf schrieb als Erster von der »migratio gentium«.

„Das gewaltige deutsche Volk“. Erst viel später wurde die germanisch­e „Völkerwand­erung“zur „Meistererz­ählung des deutschen Nationalis­mus“(Donecker) – als Mär vom starken, gesunden Volk, das die dekadenten Römer hinwegfegt. Beispielha­ft dafür ist die Beschreibu­ng von Turnvater Jahn im 19. Jahrhunder­t. „Uralt ist des Deutschen Reisetrieb; wahrschein­lich hat ihn der aus dem Morgenland­e herausgefü­hrt . . . und ihn über die Alpen schauen lassen auf die Herrlichke­it Roms.“Jahn beschwört „die Furcht der Römer, ihre versuchte Vorkehr gegen das gewaltige Deutsche Volk und dessen endliches Überfluten“. Da wird schon heftig von der Eroberung neuer Lebensräum­e geträumt. Noch bis in den Zweiten Weltkrieg hinein haben nicht nur, aber vor allem die Deutschen ihre Behauptung­s- und Expansions­ansprüche auf die Völkerwand­erung zurückgefü­hrt.

Wenn also heute etwa die FPÖ vor der „Völkerwand­erung“warnt, ist das eine historisch­e Kuriosität; denn gerade im nationalen Diskurs wurde die „Völkerwand­erung“lange Zeit positiv gewertet. Die wandernden Germanen galten als Ahnherren und Begründer nationaler Identität; und tatsächlic­h – ohne sie würde bei uns hier niemand heute Deutsch sprechen, und damit gäbe es auch keine „deutsche“oder „österreich­ische“Kultur, die rechte Parteien nun vor den Flüchtling­en zu verteidige­n vorgeben.

Wenn heute der Mythos der „Völkerwand­erung“aufgefrisc­ht wird, vermischen sich auf diffuse Weise zwei gegensätzl­iche Erzählunge­n: einerseits die von den Römern begründete negative, die die Bedrohung einer hoch stehenden Kultur durch die „Barbaren“beklagt; anderersei­ts die Erzählung von den starken (germanisch­en) „Völkern“, die das verkommene Rom besiegen und zu Ahnherren der eigenen Nation werden. Nationalis­ten seit dem 19. Jahrhunder­t haben die Migranten der Spätantike als starke „Völker“gefeiert, heutige behalten dieses Bild, aber mit umgekehrte­n Vorzeichen – zum Feindbild gewendet.

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