Richtig wütend werden
Es gibt etwas zwischen Hetze und Coolness-Mantra: Zivilisierte Wut hilft zu erkennen, was wichtig ist, und verschafft uns die nötige Energie, um aus der floskelerstarrten Terrorroutine auszubrechen.
Wut ist ein unpassendes Gefühl. Insbesondere heute. Sie passt nicht zu Ostern und auch nicht zu einer Woche des Terrors, an deren Ende Europa um einen kühlen Kopf ringt.
Trotzdem sollten wir richtig wütend sein – und zwar im aristotelischen Sinn. Er schrieb: „Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.“
Wie man leicht, nämlich falsch, richtig wütend wird, dafür gab es zuletzt viele Bespiele: etwa schneidige Artikel, in denen das Verbot der Ausübung des Islam in der Öffentlichkeit gefordert wird. Doch diese Art der Wut, wie sie vor allem rechtspopulistische Parteien ausleben, treibt das Geschäft der IS-Terroristen, die Überreaktionen provozieren wollen. Damit es zur angestrebten Spaltung der Gesellschaft in muslimisch und nicht muslimisch kommt. Mit Trumps und Le Pens Beitrag. Doch den Populisten aus lauter Angst vor der hässlichen Wut das Mo- nopol auf dieses mächtige Gefühl zu überlassen ist keine gute Idee. Denn es gibt auch eine andere, eine zivilisierte, rationale Wut. Sie hilft aus der Floskelstarre auszubrechen und tätig zu werden. „The new normal“. Richtige Wut macht aus einem Tagesordnungspunkt ein Anliegen. Und genau diese Energie braucht es, um die vielen mühevollen Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus anzugehen. Sei es das (viel zu spät gestartete) Programm gegen Radikalisierung im Gefängnis, sei es die europaweite Vernetzung der Geheimdienste. Peter Gridling, Direktor des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, zeigte sich am Samstag im Ö1-„Mittagsjournal“diesbezüglich sehr vorsichtig. Nun würde niemand annehmen, dass so etwas nicht heikel ist. Aber dass man es dennoch angehen muss, sollte doch außer Zweifel stehen. Insofern würde man dem BVTChef etwas richtige Wut wünschen.
Sie braucht man übrigens auch für Mut: Als der Wiener Polizeipräsident, Gerhard Pürstl, nach der sexuellen Gewalt in Köln meinte, „Frauen sollten nachts generell in Begleitung unterwegs sein“, sorgte so wenig Mut für Wut. Das war gut so. Sich frei zu bewegen, in der Stadt, auf Plätzen, in der U-Bahn – das will sich keine(r) nehmen lassen. Auch nicht von Terroristen. Gerade in Zeiten, in denen jeder in seiner privaten Onlineblase lebt und der allgemeine Debattenraum schrumpft, ist täglicher Realitäts-Check im öffentlichen Raum wichtig. Für europäische Städte sogar identitätsstiftend. Global gesehen ist das nicht selbstverständlich: In Dubai ist U-Bahn-Fahren eine Klassenfrage, Gated Communities und Metalldetektoren vor Einkaufszentren sind in Asien teilweise Alltag. In Wien reichen meist Videokameras.
Die Wut, die wir fühlen, wenn der Verlust von lieben Gewohnheiten droht, sollten wir nicht verdrängen. Sie zeigt, was uns wichtig ist. Der „Economist“schreibt vom „new normal“, in dem sich das terrorgeplagte Europa einrichten muss. Das mag stimmen. Aber keiner sagt, dass man sich mutlos fügen muss.