Belgische Polizei verhaftet »Mann in Weiß«
Der dritte Attentäter vom Brüsseler Flughafen ist gefasst. Ein mysteriöser Todesfall im Nuklearinstitut weckt Ängste.
Direktor des Leicester Centre of Hate Studies, meint: „Statt den Terroristen zu gestatten zu polarisieren, sollen wir uns der gemeinsamen Werte der Menschlichkeit besinnen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten.“Doch mit jedem neuen Anschlag wird die Bereitschaft dazu geringer. In der Türkei gibt es eine neue Art Ratgeber für den Alltag: Nicht um Kochrezepte, Fitness oder Reiseziele geht es, sondern um das richtige Verhalten nach einem Terroranschlag. Der erste Reflex sei es, zum Fenster zu rennen, wenn man eine Explosion in der Nähe höre, erklärte Katastrophenschutzexperte Mikdat Kadioglu˘ nach dem jüngsten Anschlag in Istanbul vergangene Woche. Doch die Druckwelle einer Explosion erreiche den jeweiligen Standort erst mit Verzögerung, sodass Fensterscheiben just in dem Moment zu Bruch gehen könnten, in dem man hinausschaue, warnte Kadioglu˘ auf der Internetseite Superhaber. Deshalb riet er den Türken, unter einen Tisch zu kriechen und dort zu bleiben, bis die Gefahr vorüber sei.
Vier schwere Anschläge in Istanbul und Ankara mit insgesamt mehr als 80 Toten allein seit Jahresbeginn – die Türkei wird von einer noch nie da gewesenen Terrorwelle erschüttert. In der 15-Millionen-Metropole Istanbul gibt es fast täglich neue Meldungen und Gerüchte über angebliche Attentate, Schießereien oder Terrordrohungen. Angeblich aus Polizeidokumenten stammende Listen mit den Kennzeichen verdächtiger Fahrzeuge kursieren im Internet. Diese Woche stoppte die Polizei im Geschäftsviertel Mecidiyeköy einen weißen Lieferwagen und sperrte die Straße ab. Bombenexperten rückten an und untersuchten das Fahrzeug, während sich die Menschen in der Umgebung gegenseitig von einer neuen Gefahr durch eine Autobombe erzählten. Der Wagen stellte sich nach der Untersuchung als harmlos heraus. Eine Woche zuvor hatte ein auf einer der Autobahnbrücken über den Bosporus abgestellter Pkw für Panik gesorgt – der Fahrer des Wagens hatte sein Fahrzeug stehen lassen müssen, weil ihm der Sprit ausgegangen war.
Nicht erst seit dem Selbstmordanschlag auf der Einkaufsstraße ˙Istiklal am 19. März, bei dem ein Anhänger des Islamischen Staats (IS) drei israelische und einen iranischen Touristen mit in den Tod gerissen hat, ist die Innenstadt Istanbuls für etliche Bewohner der Stadt zu einer No-Go-Area geworden. Schon seit Jahren sei er nicht mehr im Zentrum gewesen, sagt ein Manager. Ein Mann schreibt auf Twitter, er habe einen Termin auf dem zentralen Taksim-Platz, auf dem die ˙Istiklalstraße beginnt, wisse aber nicht, ob er es wirklich wagen sollte. „Was meinen Sie, sollte ich gehen?“fragt er andere Twitter-Nutzer.
Viele haben Angst vor einem Anschlag auf den öffentlichen Nahverkehr, der jeden Tag Hunderttausende Menschen befördert. „Belebte und touristische Orte sind derzeit gefährlich“, sagt einer. Ein anderer Istanbuler scherzt, er gehe nur dann zum Taksim, wenn er Personenschutz erhalte wie ein Minister oder Abgeordneter.
Die Regierung ruft die Istanbuler und die anderen Türken auf, sich von den Terroristen nicht einschüchtern zu lassen, sondern ihr normales Leben weiterzuleben. Doch für viele kommt das einfach nicht infrage. In den Kneipen im Vergnügungsviertel Beyoglu˘ entlang der ˙Istiklalstraße bleiben die Gäste aus. Der prominente Kolumnist Reha Muhtar beschreibt nach dem ˙Istiklal-Anschlag in der Zeitung „Vatan“, dass er mittlerweile mit seinen Kindern nicht einmal mehr ins nächste Einkaufszentrum gehe. Die Wahrheit wolle er ihnen nicht erzählen: „Ich nuschele irgendetwas davon, dass da heute sowieso nichts los ist.“ Jener gesuchte dritte Attentäter vom Brüsseler Flughafen ist in Gewahrsam. Die Zeitung „Le Soir“berichtete am Samstag unter Berufung auf gute Quellen, der in der Nacht zum Freitag festgenommene Faysal C. sei von dem Taxifahrer identifiziert worden, der das Terrorkommando zum Flughafen gebracht habe. Eine offizielle Bestätigung dafür gab es zunächst nicht, wiewohl die Staatsanwaltschaft die Festnahme C.s bestätigt hat. Seit dem Bombenanschlag auf dem Brüsseler Flughafen am Dienstag mit mindestens elf Toten wurde der Mann fieberhaft gesucht. Auf dem Bild der Überwachungskamera ist er in der Flughafenhalle rechts von den beiden Selbstmordattentätern Najim Laachraoui (24) und Ibrahim El Bakraoui (29) mit weißer Jacke und schwarzem Sommerhut zu sehen.
Die Behörden haben keine Angaben zu C.s Verbindungen zu den Flughafenattentätern gemacht. Ihm und zwei anderen Männern – Aboubakar A. und Rabah N. – werfen die Behörden terroristische Aktivitäten und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vor. N. wird laut Angaben der Behörden in Zusammenhang mit einem verhinderten Anschlag in Frankreich festgehalten. Insgesamt sind in Belgien seit Donnerstag neun Personen verhaftet worden; in Deutschland nahm die Polizei zwei Menschen fest. Gridling skeptisch. Der Tod eines Wärters beim Institut für radioaktive Elemente südlich von Brüssel soll indes nichts mit der Anschlagserie zu tun haben, verlauteten die Behörden. Die Umstände des Todes des Mannes liegen noch im Dunkeln. Er soll erschossen worden sein. Medien hatten berichtet, dass sein Sicherheitspass gestohlen worden war; die Staatsanwaltschaft dementierte. Der Fall befeuert Befürchtungen, wonach die Terroristen ursprünglich einen Angriff gegen Atomkraftwerke geplant hätten.
Der Direktor des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), Peter Gridling, bleibt unterdessen skeptisch, was eine stärkere Vernetzung der Geheimdienste betrifft. Nachrichtendienste seien konzipiert worden, um nationale Interessen zu vertreten, sagte er am Samstag im Ö1-„Journal zu Gast“. Man würde zwar zusammenarbeiten und Informationen austauschen. Doch es gebe bei allen Nachrichtendiensten die Befürchtungen, „dass ihre Quellen in Gefahr sind, wenn ihre Informationen verwendet werden“. Daher gebe es „gewisse Berührungsängste“.
Den Wünschen der europäischen Minister, die ein Signal für die Weiterentwicklung der Geheimdienstzusammenarbeit gesetzt hätten, würden die Dienste entsprechen, sagte Gridling. Er verwies jedoch auf die unterschiedlichen Strukturen und Zuständigkeiten, die dabei berücksichtigt werden müssten. (APA/red.)