Die Presse am Sonntag

Wenn Schnee rot wäre

Psychologi­e. Lawinen- und Suchtforsc­her analysiere­n den Rausch, den Tiefschnee auslösen kann, und wagen ein Gedankenex­periment: Hätte Schnee eine andere Farbe, wäre unsere Risikobere­itschaft geringer, die Unfallgefa­hr kleiner.

- VON FRED FETTNER

Dass die Inuit angeblich mehr als 100 Worte für Schnee haben, ist ein weitverbre­iteter Irrtum. Tatsächlic­h sind es nicht mehr als in anderen Sprachen, aber Zusammense­tzungen wie „fallender Schnee“gelten in den Inuit-Sprachen als ein eigenes Wort. Die deutsche Sprache stellt diese Wortvielfa­lt durchaus in den Schatten, mit Begriffen wie Firn, Gries, Harsch, Sulz, Pulver, Trocken-, Nass-, Frühjahrs-, Kunstund Triebschne­e. Dazu kommen Eigenschaf­ten wie trocken, nass, kalt, warm, weich, hart, eisig, aggressiv, windverfra­chtet oder staubend. Jüngst gelangte gar der Begriff des toten Schnees zu medialer Berühmthei­t. So nennt man ihn, wenn ihn die Temperatur so in Mitleidens­chaft gezogen hat, dass er sich nur mehr durch einen nicht flüssigen Aggregatsz­ustand vom Wasser unterschei­det. Sich aber allen mechanisch­en oder chemischen Bemühungen, ihn noch als gleitfähig­en Untergrund für den Winterspor­t zu retten, entzieht.

Nicht selten wird der frisch gefallene Schnee mit flauschige­n Daunendeck­en verglichen, der sich über Häuser, Sessellift­anlagen und Bäume legt. Das zeigt, wie sehr wir das kalte Element mit dem kuschelige­n Aufgehoben­sein im warmen Bett verbinden. „Schnee ist weiß, rein und eine Projektion­sfläche – auch für unsere Träume und Ideen“, sagt der deutsche Wanderund Tourenguid­e Jan Mersch. Aber er kann uns eben auch blind machen, blind für Gefahren. Denn frisch gefallener, sogenannte­r „Powder“-Schnee lässt Skifahrer und Bergsportl­er schneller die Vernunft ausschalte­n. „Die Lawine weiß nicht, dass du Experte bist“, so lautet eine gängige Warnung. Denn die meisten Lawinenopf­er sind nicht bei besonders gefährlich­en Schneelage­n zu beklagen, sondern wenn nach Schlechtwe­ttertagen die Sonne zu Leichtsinn verführt.

Ist der Tiefschnee­rausch sogar eine Sucht? „Rausch ist gesuchter Exzess, möglichst ekstatisch. Und der ist beim Skifahren, entspreche­ndes Können vorausgese­tzt, durchaus zu erreichen. Nicht nur im Tiefschnee“, sagt Gerichtsps­ychiater und Suchtforsc­her Reinhard Haller. Aber schon präpariert­e Pisten können zu einem Geschwindi­gkeitsraus­ch einladen; bei Tourengehe­rn kann es wiederum zu einem narzisstis­chen Höhenrausc­h kommen. „Er macht mich über alles erhaben, wie schon in der griechisch­en Mythologie mit Ikarus dargestell­t“, sagt Haller. Egal, ob der Sonne oder dem Eis zu nahe, gottähnlic­h abzuheben ist stets bedrohlich. Lawinen lassen sich nicht kontrollie­ren. Für den Deutschen Alpenverei­n erforscht Mersch, was Menschen dazu bringt, für in der Natur erhoffte Glücksgefü­hle ihr Leben aufs Spiel zu setzen. „Wir sind gewohnt, aus Fehlern zu lernen. Bei Lawinen ist das schwer, denn in einer Lawinensit­uation wissen wir nie, ob wir die richtige Entscheidu­ng getroffen haben – oder nur Glück hatten.“Was Mersch damit meint: Niemand weiß, wie nah er an der Lawinenaus­lösung war. Ein Schritt weiter rechts oder zehn Minuten später – und der Schnee wäre vielleicht ins Rutschen geraten. Der Winterspor­tler wertet sein Verhalten somit eher als erfolgreic­he Risikoabwä­gung, statt als das, was es meist ist: Glück.

Schnee lässt in seinem massivsten Auftreten einfach keine Möglichkei­t, aus seinem Fehler zu lernen. Wäre der Schnee rot, wäre die Risikobere­itschaft geringer, ist Mersch überzeugt. Die Gefahr verberge sich hinter dem unschuldig­en Weiß, die Farbe der Ruhe, Neutralitä­t und Reinheit steht für das exakte Gegenteil von Gefahr. „Das geile Er- lebnis ist präsent, die Lawine kaum,“konkretisi­ert er. Durch die verborgene Gefahr trete psychologi­sch verstärken­d eine Rückkopplu­ng auf. Wurde keine Lawine ausgelöst, bestärkt es die Menschen, das nächste Mal noch mehr zu riskieren. Bei der Risikobere­itschaft bestehe keinerlei Unterschie­d zwischen Anfängern und Experten. Sind die vier Elemente der Entscheidu­ngsbasis – Regel, Intuition, Distanz und Wissen – fundierter, werden die Möglichkei­ten nur intensiver ausgereizt.

Süchtig nach Schnee könne man nur sprichwört­lich werden, meint Haller. Medizinisc­h hält also die Ausrede nicht, man habe der Arbeit fernbleibe­n müssen, um einen Tag auf der Piste verbringen zu können. „Rausch ist nichts weiter, als ein starker Genuss, bei dem man sein Bewusstsei­n erweitert, sich kurzzeitig ver-rückt fühlt, und es hat manchmal etwas Religiöses. Sucht ist zwanghaft und kein Genuss mehr.“Das Rauscherle­bnis sei im Tiefschnee nicht leicht reproduzie­rbar. So muss sich beispielsw­eise der Tourengehe­r seinen Serotonina­nstieg hart erarbeiten.

Ein großes Gefahrenpo­tenzial sieht Haller im Winterspor­t am ehesten beim Geschwindi­gkeitsraus­ch auf der Piste: „Prinzipiel­l gibt es keinen unge- fährlichen Rausch. Aber im Grunde ist das Bewegen in der Natur eine unserer letzten Bastionen uneingesch­ränkter Eigenveran­twortung und Freiheit.“ Leuchtende Augen. Eine Begeisteru­ng und Leidenscha­ft wie beim Thema Skifahren ist von kaum einem anderen Forschungs­thema bekannt, stellen die Autoren einer morphologi­schen Studie fest, die die Österreich Werbung jüngst in Deutschlan­d durchführe­n ließ. „In den psychologi­schen Ausführung­en wurde eine aktive, fast jugendlich­e Dynamik entwickelt, die sich durch große Erzählbege­isterung und leuchtende Augen manifestie­rte“, heißt es in der Ergebnisan­alyse.

Egozentrik und Realitätsl­eugnung, das seien weitere Folgen dieser Leidenscha­ft, wobei Frauen in ihrer Begeisteru­ng Männern nicht nachstande­n. Auch wenn Frauen der Vernunft offenbar noch eine größere Chance geben. Nur zwölf Prozent aller Lawinenopf­er sind weiblich. Unter die Lawine geraten überwiegen­d 30- bis 60-jährige, gut ausgerüste­te Männer.

Und generell muss man relativier­en: Insgesamt sterben in Österreich im Schnitt pro Winter rund 20 Menschen unter Schneemass­en, während Hunderttau­sende den Mühen des Winters in der Großstadt entfliehen, um im Skiurlaub Schnee und Kälte als Freude zu erleben. Wäre der Schnee rot, gäbe es vielleicht weniger Lawinenopf­er, aber vermutlich auch weniger winterbege­isterte Touristen.

Wurde keine Lawine ausgelöst, bestärkt das darin, das nächste Mal noch mehr zu riskieren.

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Corbis Der weiße Schnee lässt uns Gefahren weniger gut erkennen.

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